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       # taz.de -- Hartz-IV-Sanktionen in Berlin: Kein Grund zum Feiern
       
       > Berlins Landespolitiker reagieren verhalten auf das Hartz-IV-Urteil des
       > Bundesverfassungsgerichts.Die Regelungen gehen ihnen nicht weit genug.
       
   IMG Bild: Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach
       
       Berlin taz | Mehr als eine halbe Million Menschen in Berlin, im Juli waren
       es exakt 502.334, sind direkt oder indirekt in Bedarfsgemeinschaften von
       Arbeitslosengeld II abhängig. 345.000 von ihnen gelten als erwerbsfähige
       Leistungsbezieher. Mit dem [1][Urteil, das das Bundesverfassungsgericht in
       Karlsruhe am Dienstag gesprochen hat], können sie zumindest ein Stück weit
       aufatmen.
       
       Die Gefahr der vollständigen Leistungskürzung, wenn etwa eine als zumutbar
       eingestufte Arbeit oder Maßnahme wiederholt abgelehnt wird, hat das Gericht
       als verfassungswidrig beurteilt. Der Regelsatz von 424 Euro monatlich, zu
       dem die Kosten für die Unterkunft hinzukommen, darf fortan nur noch um
       maximal 30 Prozent gekürzt werden, wenn sich die Betroffenen nicht so
       fordern lassen, wie es sich der Gesetzgeber vorstellt. Zudem sollen
       Einzelfälle genauer geprüft und Härtefälle nicht mehr sanktioniert werden.
       
       Seit Einführung des [2][Hartz-IV-Systems] vor bald 15 Jahren unter der
       damaligen rot-grünen Bundesregierung wurde Millionen Arbeitslosen Geld
       vorbehalten, das eigentlich als Mindesthöhe definiert ist, um ein
       menschenwürdiges Leben zu führen. Trotz zuletzt rückläufiger Zahlen betraf
       dies in Berlin allein im Juni mehr als 17.600 Menschen, wie die
       Bundesagentur für Arbeit Berlin/Brandenburg der taz auf Anfrage mitteilte.
       Durchschnittlich seien ihnen 17 Prozent der Gelder für Lebensunterhalt und
       Unterkunft vorenthalten worden, das entspricht einer monatlichen Kürzung um
       106 Euro – jeweils für mindestens drei Monate.
       
       Bislang wurden für versäumte Termine zehn Prozent der Leistungen gekürzt,
       für die Ablehnung einer Arbeit zunächst 30 Prozent, im Wiederholungsfall 60
       Prozent, bei jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres der
       volle Satz. Bundesweit werden etwa vier Fünftel der Sanktionen aufgrund von
       Terminversäumnissen verhängt. Wie viele Kürzungen in Berlin über 30 Prozent
       ausgesprochen wurden, schlüsselt die Arbeitsagentur nicht auf.
       
       ## Sozialsenatorin unzufrieden
       
       Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) bedauerte im Gespräch mit der taz,
       „dass nicht alle Sanktionen einkassiert worden sind“. Sie sagt: „Die
       Richtwerte der Hartz-Gesetze bilden das Existenzminimum ab. Ich hätte mir
       gewünscht, dass das anerkannt wird und man da nicht herankann. Darüber bin
       ich sehr enttäuscht.“ Andererseits sei das Urteil sehr wohl eine
       „Verbesserung“ im Vergleich zur bisherigen Praxis.
       
       Sie betonte, dass das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen habe,
       dass es keine Untersuchungen über die Wirksamkeit von Sanktionen gebe. Für
       sie steht fest: „Ich denke, dass die Sanktionen nicht dazu geführt haben,
       dass auch nur ein Mensch in Arbeit gekommen ist.“ Breitenbach fordert
       insbesondere ein Ende der Sanktionen für Familien mit Kindern, da Letztere
       unter Leistungskürzungen „am meisten zu leiden“ hätten.
       
       Während die Linke Hartz IV und dessen Sanktionsmechanismen seit jeher
       ablehnt, gehören auch die Landesverbände von SPD und Grünen nicht zu den
       Verteidigern des schikanösen Systems. Die Sprecherin für Soziales der
       SPD-Fraktion, Ülker Radziwill, sagte auf taz-Anfrage, dass es zu begrüßen
       sei, dass durch das Urteil in Bezug auf das Sanktionssystem „die Würde des
       Menschen zu 70 Prozent wieder unantastbar ist“. Es sei Aufgabe der SPD,
       politisch die Unantastbarkeit wieder auf 100 Prozent zu steigern.
       
       Dies sei nur möglich, wenn sich die Partei für das Duo Norbert
       Walter-Brojans und Saskia Esken für den Parteivorsitz entscheide. Radziwill
       forderte mit Verweis auf Fachkräftemangel und unbesetzte Azubiplätze, sich
       „grundsätzlich vom Prinzip des Forderns und Förderns zu verabschieden“.
       
       Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Silke Gebel sprach von einem „guten Tag für
       die soziale Gerechtigkeit“, dennoch sei noch viel zu tun. Sie kritisierte
       besonders die harten Sanktionsmöglichkeiten gegen Menschen unter 25 Jahren,
       zu denen sich das Gericht nicht geäußert hat.
       
       ## Bundesratsinitiative geplant
       
       Bereits im Frühjahr hatte die Koalition eine Bundesratsinitiative
       beschlossen, in der die Streichung der Sanktionen für unter 25-Jährige und
       für Bedarfsgemeinschaften mit Kindern sowie das Verbot der Kürzung der
       Kosten für die Unterkunft gefordert wird. Ein Antrag im Bundesrat wird für
       März erwartet. In Charlottenburg-Wilmersdorf will die rot-rot-grüne
       Zählgemeinschaft für ein Pilotprojekt eintreten, das Sanktionen gegenüber
       ALG II-BezieherInnen für zwei Jahre aussetzt. Das Bezirksamt soll sich beim
       Senat und der beim Bundesministerium für Arbeit einsetzen.
       
       Die Geschäftsführerin des Paritätischen Berlin, Gabriele Schlimper,
       kündigte an, dass ihr Verband im Beirat der Jobcenter darauf achten werde,
       dass bis Inkrafttreten der vom Gericht geforderten gesetzlichen Neuregelung
       „die hohen Sanktionen sofort ausgesetzt werden“. Das Urteil solle ein
       „Startsignal“ sein, „um das gesamte Zweite Sozialgesetzbuch in die Hand zu
       nehmen und zu schauen, ob das noch ins Jahr 2020 passt“. Änderungen wünscht
       sie sich vor allem in der Frage, „wie man künftig vernünftige Unterstützung
       anbietet, damit sich die Situation für die Menschen tatsächlich
       verbessert“.
       
       5 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
       
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