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       # taz.de -- Wissenschaftler über Proteste in Chile: „Eine gesellschaftliche Explosion“
       
       > In Chile eskalieren die Proteste. Dabei entlädt sich der Frust über die
       > große Ungleichheit im Land, sagt der Sozialwissenschaftler Claudio
       > Rodríguez.
       
   IMG Bild: Santiago am Montag: Zehntausende demonstrieren friedlich, einige entzünden Barrikaden
       
       taz: Herr Rodríguez, zwei Sätze waren in den vergangenen Tagen ständig in
       Chile zu hören: „Das alles hat niemand kommen sehen“, und: „Die
       Preiserhöhung bei der U-Bahn war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
       gebracht hat.“ Aber wenn das Fass schon randvoll war, hätte man doch mit
       einer solchen Protestbewegung rechnen können. 
       
       Claudio Rodríguez: Niemand hat die Geschwindigkeit und die Wucht erwartet,
       mit der das kam. Aber im politischen und sozialwissenschaftlichen Bereich
       wurde schon registriert, dass die gesellschaftliche Unzufriedenheit in den
       vergangenen Jahren immer weiter angewachsen ist. Das fing 2006 mit der
       „Pinguin-Revolte“ an, als SchülerInnen für besseren Unterricht auf die
       Straße gingen. 2011 spitzte es sich bei den Studierendenprotesten gegen das
       Geschäft mit der Bildung zu. Die Unzufriedenheit hat sich seither immer
       weiter aufgeschaukelt, und die aktuelle Regierung von [1][Sebastian Piñera]
       steht in Reinform für dieses Gefühl von gesellschaftlicher Exklusion und
       Machtmissbrauch.
       
       Zu den großen Protestbewegungen der vergangenen Jahre gehörte auch die
       gegen das System der privaten Rentenfonds. Warum haben all diese Bewegungen
       trotzdem nicht die gesellschaftliche Breite erreicht, die wir heute
       beobachten? 
       
       Die Mobilisierung gegen die unter Pinochet eingeführten Rentenfonds haben
       bis zu einer Million Menschen auf die Straße gebracht. Aber was wir da
       heute beobachten, ist Ausdruck eines grundlegenden Verlusts an Legitimität
       eines ganzen politischen und wirtschaftlichen Systems. Ich würde von einer
       regelrechten gesellschaftichen Explosion sprechen, die sich in einer neuen
       Qualität von zivilem Ungehorsam ausdrückt. Auch, weil die Piñera-Regierung
       den Konflikt sehr ungeschickt gehandhabt hat.
       
       Inwiefern? 
       
       Mit der Entscheidung, zum ersten Mal seit der Diktatur einen
       [2][Ausnahmezustand] mit nächtlicher Ausgangssperre auszurufen, die
       Menschen also vom Abend bis zum Morgen in ihren Häusern einzusperren und
       das Militär auf die Straße zu schicken, hat Piñera nur Öl ins Feuer
       gegossen.
       
       Für die jungen Leute, die jetzt mit Töpfen und Pfannen Lärm schlagen, ist
       die Diktatur nur noch eine Erinnerung ihrer Eltern und Großeltern. 
       
       Ja, das ist ein interessanter Aspekt. Diese Generation, die Verfolgung und
       Folter und Mord überhaupt nicht mehr erlebt hat, aber Tag für Tag die
       Erfahrung von gesellschaftlichem und ökonomischem Aussschluss und der
       Privilegierung einer kleinen Gruppe macht, diese Generation hat keine Angst
       mehr. Für ihre Eltern und Großeltern wird dagegen jetzt das Trauma der
       Diktatur wieder wach.
       
       Wie gehen Sie selbst damit um? 
       
       Ich kann und will meiner 20-jährigen Tochter nicht verbieten, an den
       Demonstrationen teilzunehmen, aber unruhig macht es mich dann doch. Die
       Soldaten, die da auf der Straße stehen, sind doch nicht dazu ausgebildet,
       für öffentliche Ordnung zu sorgen. Das waren sie auch in den Jahren der
       Diktatur nicht, und damals hat es immer wieder schreckliche Gewaltexzesse
       gegeben.
       
       Wenn man mit den ChilenInnen über die Hintergründe der Proteste spricht,
       bekommt man ganz unterschiedliche Antworten. Der Taxifahrer schimpft über
       die Konkurrenz von Uber, die Rentnerin über die korrupte Politikerkaste,
       jemand anderes über die Einwanderung aus lateinamerikanischen Ländern. 
       
       Entscheidend ist am Ende immer, wenn es den Menschen ans Geld geht. Die
       chilenische Gesellschaft definiert sich heute sehr stark über den Konsum,
       und wir haben eine horrende private Verschuldung bei stetig steigenden
       Preisen aller Basisdienstleistungen. Nicht nur der Nahverkehr wird teurer,
       auch die Preise für Wasser, Strom, Telekommunikation steigen. Das sind
       alles private Unternehmen, die satte Gewinne machen, das ist inzwischen
       auch zur Genüge bekannt.
       
       Ist diese Bewegung, die ja erstaunlicherweise bislang kein „Gesicht“ hat –
       weder Personen noch Organisationen, die das Wort führen –, eigentlich eine
       linke Bewegung? 
       
       Ich glaube, es ist eine politische Bewegung, aber nicht unbedingt eine, die
       mit der Entwicklung eines Klassenbewusstseins oder gar einer revolutionären
       Einstellung einhergeht – das sage ich aus einer linken Perspektive heraus.
       In erster Linie ist sie die Äußerung einer tiefen Unzufriedenheit, aus der
       sich zwangsläufig eine Kritik am herrschenden wirtschaftlichen Modell
       ergibt.
       
       Die Gewerkschaften haben am Montag einen Aufruf zur Unterstützung der
       Bewegung veröffentlicht. 
       
       Die Gewerkschaften haben die Bewegung schon vor Wochen unterstützt, als sie
       noch eine Gruppe junger Leute war, die aus Protest gegen die Preisanhebung
       bei der U-Bahn zum massenhaften Schwarzfahren aufrief. Tatsächlich wird die
       Bewegung aber im Moment von keiner linken Organisation angeführt, genau
       genommen von gar keiner Organisation.
       
       Kann die Linke denn noch davon profitieren, etwa bei den nächsten
       Parlamentswahlen? 
       
       Ich würde das bislang eher als eine Herausforderung betrachten. Es gibt
       einen tiefen Graben zwischen den Menschen, die da jetzt auf die Straße
       gehen, und der institutionalisierten Politik.
       
       Diese Rebellion hat ja zwei Gesichter: Das eine sind die Demos mit dem
       Topfklappern, den Transparenten, auch Zusammenstößen mit der Polizei. Das
       andere die nächtlichen Plünderungen und Brandstiftungen, die mittlerweile
       fast landesweit stattfinden. Wie viel hat das eine mit dem anderen zu tun? 
       
       Beides ist ein Ausdruck von Wut und Unzufriedenheit, von dem Gefühl, nicht
       dazuzugehören, nichts von der Gesellschaft zu bekommen. Eine Minderheit
       nutzt diese Mischung sicherlich dazu, sich durch Gewalt gegen große private
       Unternehmen, aber auch gegen öffentliche Einrichtungen wie die U-Bahn
       auszuleben. Viele von ihnen haben praktisch nichts zu verlieren, und so
       verhalten sie sich auch.
       
       Die Zerstörungen der öffentlichen Verkehrsmittel, gerade der modernen und
       sehr effizienten U-Bahn, eigentlich der ganze Stolz der ChilenInnen, lassen
       sich schwer nachvollziehen. 
       
       Das ist sogar sehr schwer nachzuvollziehen, immerhin ist es die ganz
       normale arbeitende Bevölkerung, die auf die Metro angewiesen ist. Aber wie
       gesagt, es sind vor allem marginalisierte Jugendliche, die keine
       Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft und ihren Einrichtungen mehr
       verspüren, die sehen, wie frustriert ihre Eltern sind, die arbeiten und
       sich ausbeuten lassen. Das wollen sie nicht mit sich machen lassen.
       
       Im Netz kursiert die Theorie, dass die Piñera-Regierung in den ersten Tagen
       die Polizei bewusst zurückgehalten hat. Die Absicht dahinter sei gewesen,
       das Ganze erst einmal hochkochen zu lassen, um dann richtig zuschlagen zu
       können. Außerdem würde sich die Bewegung so selbst delegitimieren. 
       
       Ich kann nicht ausschließen, dass es solche Strategien gibt, wie Sie sie
       beschrieben haben. Es gab anfangs tatsächlich stellenweise auffällig wenig
       Polizeipräsenz, was anderenfalls nur mit einer kompletten Überforderung des
       Apparats zu erklären wäre. Eigentlich kann sich die Regierung eine
       Eskalation gar nicht leisten – im Dezember stehen der Klimagipfel und ein
       Treffen der Apec-Staaten an. Für das Image Chiles ist das gerade alles
       Gift.
       
       Kann Piñera zum jetzigen Zeitpunkt den Ausnahmezustand zurücknehmen, oder
       brennt es dann erst so richtig? 
       
       Schwer zu sagen. Ich höre durchaus viele Stimmen, die sagen: Die Lage hat
       sich durch das unverantwortliche Handeln der Regierung so zugespitzt, dass
       wir erst mal für etwas Ruhe sorgen müssen. Aber Piñera hat ja mit seiner
       Ausage, es herrsche „Krieg“ in Chile, es gebe einen „mächtigen Feind“, den
       es zu bekämpfen gelte, erst richtig Angst und Wut geschürt. Er hat auch
       suggeriert, das organisierte Gruppen für Chaos sorgten. Es gibt in Chile
       tatsächlich ein paar kleine anarchistische, gewaltbereite Gruppierungen,
       aber deren Mobilisierungskraft reicht nicht im Geringsten für so etwas aus.
       
       Viel war jetzt die Rede von einem „neuen Gesellschaftsvertrag“, sowohl aus
       den Reihen der Opposition als auch von Teilen der rechten Regierung. Worin
       soll der denn bestehen? 
       
       Ein neuer Gesellschaftsvertrag müsste tiefgehende Änderungen am heutigen
       Entwicklungsmodell beinhalten. So schnell wird das nicht gehen. Aber ich
       glaube, einige kurzfristig umzusetzende Maßnahmen könnten den Menschen
       zeigen, dass die Regierung es wirklich ernst damit meint, allen eine
       Perspektive zu geben. Konkret wäre das etwa ein Umbau der Altersversorgung,
       bei dem ein Teil des angesparten Kapitals in einen Solidarfonds fließt, aus
       dem dann eine einigermaßen menschenwürdige Basisrente gezahlt werden kann.
       Das wäre mit der Opposition sehr schnell auszuhandeln.
       
       Eine andere Möglichkeit wäre ein Stopp der geplanten Steuerreform, von der
       die 17.000 reichsten Familien des Landes in Höhe von umgerechnet fast einer
       Milliarde Dollar profitieren. Aus diesen Mitteln ließe sich auch die
       Wiederherstellung der zerstörten öffentlichen Infrastruktur bezahlen. Und
       eine Kürzung der Abgeordnetendiäten, die heute beim 40-Fachen des
       Mindestlohns liegen, würde die PolitikerInnen der Lebenswirklichkeit ihrer
       Wählerinnen wieder etwas näher bringen.
       
       23 Oct 2019
       
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