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       # taz.de -- NPD-Ortsvorsteher in Hessen: Der „nette Neonazi“ ist abgewählt
       
       > Im September wurde in Hessen ein Neonazi Ortsvorsteher. Nun wählt ihn der
       > Ortsbeirat ab. Viele Bürger sind empört, das Gremium ist überfordert.
       
   IMG Bild: Die Mitglieder des Ortsbeirats versammeln sich, um Jagsch abzuwählen
       
       Altenstadt taz | Graue Hose, graues Hemd, schwarze Sneakers. Stefan Jagsch
       empfängt Journalist*innen vor seinem Haus am Ortsrand von
       Altenstadt-Waldsiedlung. Der einzige Ortsvorsteher der NPD sei er, „nicht
       einmal die AfD hat das bisher geschafft“, hebt der Neonazi stolz lächelnd
       hervor.
       
       Das Image des normalen Bürgers ist dem stellvertretenden
       NPD-Landesvorsitzenden im Gespräch wichtig. Seit 33 Jahren wohne er in der
       Waldsiedlung, sein gesamtes Leben. Jagsch wirkt nervös, eine Narbe in
       seinem Gesicht zeugt von einem schweren Autounfall vor einigen Monaten –
       damals rettete ihn ein Syrer aus dem Autowrack.
       
       „Die Leute hier sehen in erster Linie Stefan Jagsch und nicht einen
       NPD-Mann“, sagt er zur taz. Die Zusammenarbeit im Ortsbeirat, dem er seit
       2006 angehört, sei „kollegial“ und „sachorientiert“. Fast wortgleich
       erklärten dies seine Ortsbeiratskollegen der taz [1][nach der Wahl Jagsch
       Anfang September].
       
       Jagschs Wahl war ein politisches Desaster. Einstimmig, mit Stimmen der
       Vertreter*innen von CDU, SPD und FDP, wurde er Anfang September zum
       Ortsvorsteher der hessischen Waldsiedlung mit rund 2.500 Einwohner*innen.
       Namhafte Politiker*innen von CDU und SPD distanzierten sich, die FDP
       kündigte einen Ausschluss der Parteivertreter*innen an.
       
       ## Ein „netter, höflicher, hilfsbereiter Mensch“
       
       Jagsch spricht von den drängenden Themen in der Waldsiedlung. Sauberkeit
       auf den Straßen, Feste mit den Vereinen des Ortes, eine wöchentliche
       Bürgersprechstunde. Nur kurz fällt er aus dem bevorzugten Image, dann nennt
       er seine geplante Abwahl einen „Rechtsbruch durch die etablierten
       Volksparteien“, spricht von einer „Beeinflussung des freien Mandats“ der
       Ortsbeiräte. Von einem „Beweis, dass es keine freien Wahlen mehr gibt“, so
       Jagsch.
       
       Vor einer Woche sprühten Unbekannte in der Nacht eine Drohung an Jagschs
       Garage. „Nazisau Jagsch töten!“ steht dort immer noch. Der NPD-Mann will es
       bald entfernen, erst müsse es jedoch ein RTL-Team noch filmen, sagt er. Der
       Zuspruch im Ort hingegen sei groß, immer wieder erfahre er Unterstützung.
       Am Ende des Gesprächs läuft eine Nachbarin mit kleinem Hund an Jagsch
       vorbei. „Ich drück dir die Daumen für heute Abend“, sagt sie. Jagsch
       lächelt den Journalist*innen entgegen und verabschiedet sich.
       
       Vor dem Gemeinschaftshaus sammelt sich gegen 18 Uhr eine kleine
       Menschentraube, Jagsch gibt Gesinnungskameraden ein Interview. „Ich hoffe,
       der Jagsch bleibt“, ruft eine Autofahrerin aus dem Fenster. Ein „netter,
       höflicher, hilfsbereiter Mensch“ sei er, betont eine Rentnerin, die ihren
       Namen nicht in der Zeitung lesen will.
       
       Erst durch Jagschs Bürgerrundschreiben wisse sie vom Ortsbeirat und freue
       sich über dessen Engagement. Das Programm seiner Partei kenne sie nicht,
       vielmehr glaubt sie, dass Jagsch für ein pünktliches Mähen der öffentlichen
       Grünflächen sorgen werde. Und das sei ihr wichtig. Eine Frau um die 50
       nickt zustimmend. „Der war nie auffällig in der Waldsiedlung“, betont sie.
       „Keine Randale, nichts.“ Am Ende sollen sich rund 40 Unterstützer des
       Neonazis im Saal einfinden.
       
       ## Eintöniges Schweigen bei den Ortsbeiräten
       
       Ein paar Meter vom Eingang entfernt steht Alexander Diller, Hobbypolitiker
       von DIE PARTEI mit einem Plakat. „Hitler konnte Schreibmaschine, Jagsch
       kann E-Mails“ steht darauf. Im September lösten die Aussagen des
       Ortsbeirats Norbert Szielasko (CDU) bundesweite Empörung aus. Szielasko
       begründete Jagschs Wahl mit dessen Kenntnissen im Bedienen eines Computers
       und im Versenden von E-Mails, kein anderer Ortsbeirat könne dies.
       
       Im Vorfeld der Abwahl herrschte abgesehen von Jagsch eintöniges Schweigen
       bei den Ortsbeiräten. Mit der Presse will niemand sprechen, einzelne
       Ortsbeiräte wie Szielasko verweisen auf ein Interview-Verbot, der
       Pressesprecher der hessischen CDU verneint ein solches.
       
       „Die Wahl zeugt von persönlichem Vollversagen und fehlender Integrität“,
       erklärt DIE-PARTEI-Politiker Diller seinen Protest. Einen Neonazi dürfe man
       nicht wählen, selbst wenn er, wie Jagsch, im Ort weitestgehend leise
       agiere.
       
       Als der Noch-Ortsvorsteher Jagsch die Sitzung eröffnet, haben sich über 100
       Zuschauer*innen im Saal eingefunden, sicher ein Drittel von ihnen ist
       Presse. Dem Ortsbeirat ist anzusehen, dass diese Öffentlichkeit die
       Mitglieder verunsichert. Die [2][Abwahl und Neubesetzung des
       Ortsvorstehers] wird gegen Jagschs Stimme vorgezogen, zur neuen
       Schriftführerin wird die neue Beirätin Melanie Eckermann (CDU) gewählt.
       
       ## Unterstützer*innen verlassen wütend den Saal
       
       Im Anschluss wird die Sitzung unterbrochen, die Abwahl Jagschs droht zu
       platzen. Die Modalitäten der Wahl werden zum Streitfall. Als Jagsch eine
       geheime Stimmenabgabe zu seiner Abwahl fordert, interveniert der
       Altenstädter Bürgermeister Norbert Syguda (SPD) und sein Anwalt. Die Wahl
       müsse per Handzeichen erfolgen. Der Saal tobt.
       
       „Das ist ja lächerlich, Skandal!“, ruft einer. „Das sind ja geheime
       Absprachen“, ein anderer. Ein Dritter, der kurz davor seinem Sitznachbarn
       erzählt, dass er seine Nachrichten lediglich „von Youtube, PI-News und
       Compact“ beziehe, vermutet einen „Befehl direkt vom Finanzminister“.
       Jagschs Mitstreiter fordern ihn auf, die Sitzung zu vertagen.
       
       Nach minutenlanger Besprechung zwischen Jagsch, Bürgermeister Syguda und
       dessen Anwalt unter empörten Protesten aus dem Publikum einigen sich die
       drei auf eine Abstimmung per Handzeichen. Jagsch kündigt den Weg vors
       Verwaltungsgericht an und erste Unterstützer*innen des Neonazis verlassen
       wütend den Saal. „Ein Kasperletheater ist das“, ruft eine.
       
       Neben Jagsch kandidiert die 23-jährige Tatjana Cyrulnikov (CDU). Die
       Studentin gehört dem Ortsbeirat seit 2018 an und wurde bereits kurz nach
       der Wahl Jagschs im September von der CDU als neue Ortsvorsteherin
       vorgeschlagen. Nach kurzer, geheimer Wahl ist Cyrulnikov dann auch
       offiziell die neue Ortsvorsteherin, nur Jagsch stimmte gegen sie. Die
       restlichen sieben übrigen Vertreter*innen von CDU, SPD und FDP stimmten
       offenbar für Cyrulnikov.
       
       ## Überforderung und Hilflosigkeit lokaler Gremien
       
       „Demokratie erlaubt es auch, Fehler zu korrigieren“, sagt die neue
       Ortsvorsteherin lächelnd, jedoch sichtbar nervös, kurz nach ihrer Wahl.
       Wütender Protest aus dem Publikum schlägt ihr daraufhin entgegen. In der
       anschließenden Bürgerfragerunde gehen einzelne Bürger*innen verbal auf sie
       los.
       
       Sie hätte zur Abschaffung der Demokratie beigetragen, so die
       Mehrheitsmeinung im Saal. Unter lautem Gejohle schreit eine Nachbarin
       Cyrulnikovs dieser entgegen, dass sie angeblich täglich mit dem Auto das
       Tempolimit in einer Spielstraße im Ort überschreite. Beim nächsten Mal
       werde sie vors Auto springen, droht die Nachbarin unter Applaus.
       
       Cyrulnikov soll in diesem Moment offenbar zum Gegenentwurf des
       rechtschaffenen Jagsch stilisiert werden. Diese zeigt sich engagiert,
       jedoch werden Vorschläge zur nächsten gemeinsamen Müllsammelaktion im Ort
       und einem Fest mit örtlichen Vereinen auf die nächste Sitzung verschoben.
       
       23 Oct 2019
       
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   DIR NPD-Ortsvorsteher in Hessen: Es gibt auch nette Nazis
       
       Er sei „ruhig und kollegial“ und kenne sich mit Computern aus. Deshalb
       wählte ein hessischer Ortsbeirat nun einen NPDler an seine Spitze –
       einstimmig.