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       # taz.de -- Reden und Schweigen 30 Jahre nach 1989: Gemeinsam dagegen
       
       > Zu viele Menschen im Osten reden über Neonazis und Rassismus so, als ob
       > das alles gar nicht existierte. Es ist aber notwendig, den Mund
       > aufzumachen.
       
   IMG Bild: Wenigstens etwas: Anti-Nazi-Konzert mit dem Rapper Materia in Anklam
       
       Wie wollen wir leben? Die Frage könnten wir uns jetzt stellen, so als
       Ostdeutsche. Texte voll mit dem, was jetzt getan werden sollte und müsste,
       die gibt es gerade schließlich zur Genüge. Drei Landtagswahlen, [1][jeweils
       über 20 Prozent für die AfD]. Menschen haben noch mehr Angst, sich in
       Ostdeutschland zu bewegen, zu Recht. Andere möchten einfach ihre Verachtung
       über die Ossis auskübeln. Nichts, was wir nicht kennen würden.
       
       Aber was wollen wir? Und wer ist überhaupt dieses „Wir“? Im Zweifel alle,
       die sich angesprochen fühlen. Die, denen Ostdeutschland nicht egal ist. Die
       aber nicht mehr über Rassismus und Rechtsextremismus reden möchten.
       Vielleicht, weil sie denken, es ließe sich auch mit der AfD irgendwie
       leben. Ich kann mich in dieses „Wir“ rechnen, ich bin in den 90er Jahren
       inmitten von Rechten aufgewachsen. [2][Ich habe mich versteckt], ich war
       ein Opportunist. Viele meiner Generation waren so, glücklicherweise manche
       nicht. Ohne sie hätten es die Rechtsextremen in Ostdeutschland noch
       leichter.
       
       Warum schon wieder über Rechtsextremismus im Osten reden? Weil Richterinnen
       ihre Arbeit aus Angst, Feigheit oder Überzeugung nicht richtig machen,
       Polizisten Tode vertuschen. Aktivisten und Journalistinnen mit allerlei
       Gerät so lange bearbeitet werden, bis sie nicht mehr reden können oder
       wollen. Starke Männer, die in einer Gemeinde alles im Griff haben, und zwar
       so fest, dass hier und da auch mal jemand zerquetscht wird. Weil junge
       Menschen aus dem Land fliehen, weil sie merken, dass etwas grundsätzlich so
       faul ist im System, dass sie nie sicher sein können, nicht doch gleich
       durch den Boden zu brechen.
       
       Diese Sätze werden manche leugnen. Zu viele Menschen in Ostdeutschland
       reden über Neonazis und Rassismus, wie in Italien lange über die Mafia
       geredet wurde. Die existiere eigentlich gar nicht, es sei eben
       sizilianische Eigenart, die Dinge unter Männern auszumachen.
       
       Andere Menschen werden fragen: Und was ist mit dem [3][Dortmunder Norden]?
       SS-Siggi? Im Westen gibt es auch Nazis! Fuck Dortmund-Nord. Was
       interessiert das die Leute in Schwerin, Suhl oder Havelberg eigentlich
       immer so plötzlich? Wenn es darum geht, ob Straßen gebaut oder neue
       Buslinien eingerichtet werden sollen, reden wir doch auch nicht von
       Dortmund-Nord. Wollen wir wirklich noch weitere dreißig Jahre wie
       Kleinkinder mit dem Finger auf andere zeigen, wenn wir Scheiße gebaut
       haben? Wollen wir dafür tatsächlich ernst genommen werden? Oder selbst
       Verantwortung übernehmen?
       
       ## Soll es so weitergehen?
       
       Wollen wir, dass weiter so viele junge Leute abhauen, sobald sie können?
       Das liegt nicht nur an fehlenden Kitas, Straßen, Arbeitsplätzen. Wenn man
       mit weggegangenen Ostdeutschen spricht, wenn man Studien mit Titeln wie
       [4][„Wer kommt, wer geht, wer bleibt?“] liest, dann wird man recht schnell
       darauf stoßen, dass Arbeit und Infrastruktur nicht alles sind.
       
       Junge Frauen gehen auch deshalb, weil es an Kultur und Bildung mangelt,
       weil Firmenchefs sie nicht ernst nehmen. Klar, es gibt sie oft noch, die
       aus DDR-Zeiten überlieferte Selbstverständlichkeit, dass Frauen arbeiten
       gehen. Aber dreißig Jahre dominante männliche Nazi-Kultur hinterlassen an
       vielen Orten Spuren. Mit den Nazi-Ansichten kommt eben auch die Überzeugung
       wieder, starke Männer sollten das Sagen haben.
       
       Das Rechtsextreme hat sich hier mit den Ausläufern postsowjetischer
       Männlichkeit synthetisiert, die sich an vielen Orten des ehemaligen
       sowjetischen Einflussgebietes beobachten lässt: im ukrainischen Donbass, im
       russischen Kaliningrad, im brandenburgischen Kreis Havelland. Die
       Revolution 1989 hat dem realen Mackersozialismus Hammer und Sichel aus der
       Hand geschlagen, viele Männer griffen danach zum Baseballschläger.
       
       David Begrich, langjähriger Beobachter der rechtsextremen Szene in
       Sachsen-Anhalt, [5][beschrieb das kürzlich in der Wochenzeitung Freitag ]
       so: „Männer, die aus ihrer zum Teil sehr schweren körperlichen Arbeit
       soziale Anerkennung und Statussicherheit schöpften, verloren mit ihrer
       Arbeit nicht nur den Lohnerwerb, sondern vielmehr ein ganzes Geflecht
       sozialer Beziehungen und die aus diesem resultierende Anerkennung.“ Diese
       Verlusterfahrungen werden ebenso an die Söhne weitergegeben wie die
       Mechanismen ihrer Kompensation: die Rückbesinnung auf traditionelle
       männliche Werte und Privilegien und das Faustrecht, diese zu verteidigen.
       
       Wie sagte Björn Höcke auf dem AfD-Parteitag in Hannover 2015? Er sagte:
       „Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere
       Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir
       mannhaft werden, werden wir wehrhaft.“
       
       Die AfD versteht die emotionale Verfasstheit der Männer im Osten sehr gut.
       Und sie nutzt sie aus. Sie eignet sich das Ostdeutsche so gut an, dass sich
       viele von dieser Partei sogar das wegnehmen lassen, auf das sie am meisten
       stolz sein können: die Revolution von 1989. „Vollende die Wende“ – mit
       solchen Slogans machte die Partei erfolgreich Wahlkampf. Sie dreht das
       westdeutsche Narrativ des von der großen weiten Welt unberührten
       Ostdeutschen um und macht daraus die Behauptung einer ostdeutschen arischen
       Avantgarde, deren Revolution auch Westdeutschland erfassen soll.
       
       Doch Nazi oder nicht – das ist eine Entscheidung, keine ostdeutsche
       Mutation. Und es gibt diejenigen, die sich anders entscheiden. Diejenigen,
       die kämpfen. Katja Barthold, eine Gewerkschafterin aus Ostthüringen, kann
       zum Beispiel darüber sprechen, wie sie in Metallgießereien die Solidarität
       zwischen Leiharbeitern aus Syrien und Männern aus Thüringen erproben. Oder
       Danilo Starosta, der für das Kulturbüro Sachsen arbeitet, eine dieser
       Organisationen in Ostdeutschland, die Gemeinden und andere im Umgang mit
       Rechtsextremismus beraten.
       
       Er wäre 2009 von mehreren Männern fast ermordet worden. Er ist
       vorsichtiger, den Mund hält er dennoch nicht. Neben den vielen
       Aktivist*innen streiten auch Lokalpolitiker*innen für eine offene
       Gesellschaft: René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), Martina
       Angermann im sächsischen Arnsdorf, Thomas Zenker, Oberbürgermeister von
       Zittau, und Götz Ulrich, Landrat im Burgenlandkreis.
       
       Leider gelten vielerorts diejenigen als Störenfriede, die sich mit den
       Nazis anlegen – nicht andersherum. Martina Angermann ist nach vier Jahren
       Bedrohungen und Beschimpfungen von Rechtsextremen zusammengebrochen und
       seither krankgeschrieben. Viele Engagierte sind krank, gelten als ein
       bisschen verrückt, ein bisschen zu aggressiv, ein wenig zu laut. Das kann
       passieren, wenn jemand jeden zweiten Tag die Post aus dem Briefkasten
       klaut, die Luft aus dem Fahrrad lässt, dem Auto folgt.
       
       ## Sucht euch Verbündete
       
       Es trifft nichtweiße Menschen zuerst, es trifft Transsexuelle, Schwule und
       Lesben, es trifft Frauen in Umweltinitiativen und Männer in
       Demokratieprojekten. Ist uns klar, dass manche Menschen ihr Leben aufs
       Spiel setzen, wenn sie für eine Gesellschaft kämpfen, in der Ostdeutsche
       eine Wahl haben, welches Leben sie führen wollen, ohne dafür wegziehen zu
       müssen?
       
       Widersprechen, ja, da kann man Angst vor haben. Davor, selbst ausgegrenzt
       zu werden bei der nächsten Familienfeier, beim Fußballverein, im Dorf. Es
       kann gefährlich sein. Was hilft, ist, sich andere zu suchen, Verbündete.
       Menschen, die vielleicht genauso still sind wie man selbst. Nicht alle
       Schweigenden stimmen zu.
       
       So ein Text von einem, der nach Berlin rübergemacht hat, ganz schon
       komfortabel, ich weiß. Mir wollte schon lange keiner mehr mit den Füßen auf
       dem Kopf rumspringen. Es ist nur so, damals, in den 90er Jahren, haben mir
       die Leute gefehlt, die offen widersprochen haben. Das gab mir das Gefühl,
       allein zu sein. Gemeinsam widerspricht es sich leichter.
       
       3 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-AfD-Wahlergebnis-in-Thueringen/!5633654
   DIR [2] /Jugendliche-in-Ostdeutschland/!5536453
   DIR [3] /Rechtsextremismus-im-Ruhrgebiet/!5595208
   DIR [4] https://www.demografie.sachsen.de/verbesserung-der-verbleibchancen-junger-frauen-im-landkreis-goerlitz-6469.html
   DIR [5] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/from-hero-to-zero
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schulz
       
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