# taz.de -- Eine nie dagewesene Freundschaft: Brüderchen Russland
> Ostdeutsche Ministerpräsidenten beschwören gern ein besonderes Verhältnis
> zu Russland. Echte Nähe hat es nie gegeben, auch nicht zur DDR-Zeiten.
IMG Bild: Als Bruderstaaten sahen sich DDR und Sowjetunion gerne – weit her mit der Nähe war es aber nicht
Man habe „hier in den neuen Bundesländern eine besondere Sichtweise in
Richtung Osteuropa. Wir kennen die Gefühle der Menschen, wir kennen auch
die Geschichte und wir wollen die Dinge beim Namen nennen“, sagte Sachsens
Ministerpräsident Michael Kretschmer im vergangenen Sommer [1][nach
umstrittener Russlandreise und Audienz bei Präsident Wladimir Putin].
Der „besonderen Sichtweise“ und Nähe zu Russland stimmen auch die übrigen
MinisterpräsidentInnen der neuen Bundesländer zu. Sie [2][drängen auf
baldigen Abbau der Sanktionen], die 2014 wegen der Krim-Annexion und des
Kriegs in der Ostukraine gegen Moskau verhängt worden waren.
Die Ausführungen des sächsischen Regierungschefs ließen aufhorchen.
Kretschmer wischte die Kritik mehrerer EU-Staaten [3][am Bau der zweiten
Nordstream-Gas-Trasse] vom Tisch, mit dem Hinweis, US-amerikanische
Interessen stünden dahinter. Überdies sprach er von osteuropäischen
Interessen, schien aber nur Russland im Sinn zu haben.
Der antiamerikanische Schlenker kommt in Moskau gut an. Auch die
selbstverständliche Wiedereinsetzung Russlands als osteuropäische Vormacht.
Denn osteuropäisch und russisch verwendet der Regierungschef als Synonym.
Wieder werden bei den östlichen Nachbarn Erinnerungen an den
Hitler-Stalin-Pakt geweckt. [4][Antiamerikanismus] und Überheblichkeit
gegenüber Osteuropa waren schon feste Topoi der deutschen Reaktion lange
vor dem Zweiten Weltkrieg. Heute ist Russland kein Nachbar mehr, andere
Länder liegen dazwischen. Warum wird trotz allem diese Nähe beschworen?
Sind Anknüpfungspunkte für Vertrautheit vielleicht in der Beziehung
zwischen der Sowjetunion und der DDR nach dem Kriegsende zu suchen?
Die Mauer fiel im November 1989, im März 1990 war die DDR-Volkskammer neu
gewählt worden. Deswegen war die DDR-Botschaft in Moskau gesprächsbereit,
als der Moskaukorrespondent dieser Zeitung, gerade in der UdSSR
eingetroffen, um ein Interview bat. Das Treffen mit einem ranghohen
Diplomaten war freundlich. Kein Blatt nahm er vor den Mund, obwohl ihm
gegenüber noch ein Klassenfeind saß. Auch der leutselige Versuch, neue
deutsch-deutsche Gemeinsamkeit zu schaffen, wirkte verwirrend. Noch vor
Kurzem verhängte Ostberlin Einreiseverbote, nun bot es Komplizenschaft an.
Den sowjetischen Alltag schilderte der DDR-Diplomat jedoch realistisch und
ideologiefrei: Alkoholsucht, Disziplinlosigkeit, technische und
organisatorische Rückständigkeit, gewaltige Umweltsünden, ärmliche
Lebensbedingungen der Bevölkerung. Wenn junge DDR-Studenten in die
Sowjetunion kamen, mussten sie in den ersten Tagen zur Unterweisung in der
Botschaft erscheinen, erzählte er. Das zu Hause vermittelte Bild war nur
ein Entwurf, der nichts mit der Wirklichkeit gemein hatte. Für einige,
besonders klassenbewusste junge Genossen, sei das schmerzlich gewesen,
gestand der Diplomat.
In der DDR selbst blieben Kontakte zu Russland und den Russen nur
offiziell. Die Massenorganisation der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft
(DSF) bot dafür meist den Rahmen. Sie zählte Millionen Mitglieder, die ihr
aber kein Leben einhauchen konnten. Es war eine politische Organisation, in
der man offiziell „sowjetische Freunde“ traf, aber „fremden Russen“
begegnete.
Tatsächlich blieben die Russen auch während Gorbatschows Perestroika immer
[5][ein Fremdkörper in der DDR]. Bis zum Abzug aus Deutschland 1994. Engere
Kontakte wurden von beiden Seiten gemieden. Die Sowjets befürchteten, die
Ostdeutschen könnten das Verlangen nach besseren Lebensbedingungen
wachrufen. DDR-Kommunisten wollten das „Paradies“ nicht an die Wirklichkeit
verlieren. Die DDR galt lange als Schaufenster und Musterland. Aus Sicht
der sozialistischen Bruderstaaten war sie gar so etwas wie ein
west-östlicher Hybrid. Sie genoss den Ruf, in fast allem vorbildlich zu
sein. Nur bei den Reformen des KPdSU-Generalsekretärs, Michail Gorbatschow,
zog Ost-Berlin nicht mit. Von einer Nähe gegenüber der Sowjetunion war
wenig zu spüren. Eher schimmerte Überheblichkeit durch, die vor allem auf
dem alltäglichen Chaos in der Sowjetunion beruhte.
Heute beschwören die MinisterpräsidentInnen die fiktive Nähe aus
wirtschaftlichen Interessen. Die Fakten halten dem aber nicht stand. Der
Russlandhandel ist insgesamt rückläufig. Gleichwohl ist dieser Rückgang
nicht lebensbedrohend. Ein Blick auf Sachsens Handelsstatistik ergibt, dass
Russland 2018 nicht mehr zu den führenden Exportländern gehört. 60 Prozent
des sächsischen Exports gehen insgesamt in die EU, darunter sind Tschechien
und Polen die wichtigsten Partner in Osteuropa. An der Spitze der
Ausfuhrliste stehen China und die USA als Einzelstaaten.
Auch vor den Sanktionen 2013 war Russland jedoch kein Partner, der für
Rekordumsätze sorgte. Moskau rangierte damals auf Platz sechs zwischen der
Tschechischen Republik und Polen. China und die USA bildeten auch damals
schon die Spitze. Die mit den Sanktionen verbundenen Einbußen sind nicht so
gravierend, als dass es sich lohnen würde, einen Bruch des Völkerrechts zu
ignorieren und Einmütigkeit in der EU aufs Spiel zu setzen.
Weder pragmatische Interessen noch die Jahre der DDR-Diktatur können die
warmen Empfindungen der ostdeutschen Politiker heute erklären. Was aber ist
es dann? Ist es die alte Konstante der deutschen Geschichte, der
Antiamerikanismus, der mit gesteigerter Affinität für den russischen
„Nachbarn“ einhergeht? Auch nach 1945 hatten die USA als Ordnungsmacht
Individualismus und Freiheitsdrang im Westen befördert. Die SU diente indes
als eine willkommene Projektionsfläche für antidemokratische und
antiwestliche Strömungen. Heute fällt Russland diese Rolle zu.
8 Nov 2019
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## AUTOREN
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