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       # taz.de -- Die Wahrheit: Alfie, das Opfer
       
       > Irgendetwas war immer mit diesem Pechvogel. Er war das bevorzugte Ziel
       > aller Trickser und Ganoven. Bis eines Tages in Sevilla alles anders
       > wurde…
       
       Alfie war nicht per se ein Pechvogel. Nie schnitt er sich beim Anlecken
       eines Briefumschlags in die Zunge. Und wenn er zur falschen Zeit am
       falschen Ort war, kam er mit einem blauen Auge davon. Als die alte Frau
       Kramer damals den Geranientopf versehentlich vom Fensterbrett stieß, stand
       Alfie unten direkt in der Flugbahn und betrachtete nichtsahnend die
       Obstauslage vor Ümits Laden. Kurz bevor das Geschoss jedoch seinen Schädel
       spaltete, flatterte eine Taube vorbei und kreuzte so dämlich den Weg des
       Topfes, dass sie schlagartig ins Jenseits trudelte, der Topf indes durch
       die Kollision abgelenkt wurde, Alfies Birne verfehlte und in Ümits
       Granatapfelpyramide einschlug.
       
       Anders verhielt es sich, wenn er verreiste, denn er war das bevorzugte Ziel
       aller Trickser und Ganoven: Kaum war er im Hotel, bemerkte er, dass ihm der
       Typ, der ihn in der Metro angerempelt hatte, die Geldbörse geklaut haben
       musste, und auch in den nächsten drei Wochen zog er Rucksackräuber und
       Hütchenspieler magisch an, sodass er stets froh war, wenn er sich nur ein
       oder zwei Mal Geld nachschicken lassen musste.
       
       „Du darfst halt nicht ängstlich wie ein Kaninchen aus der Wäsche gucken“,
       sagte Rudi, der Blödmann. „Verbrecher achten auf so was!“ – „Ich gucke
       nicht ängstlich, schon gar nicht wie ein Kaninchen!“, motzte Alfie. –
       „Garantiert machst du das. Du musst wie jemand aussehen, der nur ein paar
       Cent für die Parkuhr in der Hosentasche hat.“
       
       Alfie rollte genervt mit den Augen, doch bevor er das nächste Mal
       verreiste, stellte er sich tatsächlich vor den Spiegel und trainierte den
       gelassenen Blick eines Menschen, in dessen Portemonnaie erschütternde Leere
       herrschte. Es funktionierte. Er schaffte es in Sevilla mit betont
       gelangweiltem Gesichtsausdruck ohne Verluste vom Flughafen ins Hotel und
       später in eine Tapas-Bar. Als ihm auf dem Rückweg trotzdem ein bärtiges
       Kerlchen in den Weg trat und ein Messer vor die Nase hielt, war Alfie
       stinksauer.
       
       „Was soll das denn, hä?!“, schnauzte er das Kerlchen an. „¡Esto es un robo,
       amigo!“, sagte das Kerlchen und fuchtelte gefährlich mit dem Messer herum,
       was Alfie noch wütender machte. „Spinnst du, oder was?!“, tobte er: „Siehst
       du nicht, dass ich nur ein paar Cent für die Parkuhr in der Hosentasche
       habe, du Amateur?!“ Und mit diesen Worten schlug er ihm erst das Messer aus
       der Hand und dann eine runter, sodass das Kerlchen in Panik floh.
       
       Fortan wurde jeder, der Alfie zu beklauen versuchte, erst angeschnauzt und
       dann geohrfeigt. Nur eine Flamencotänzerin, die ihm am Guadalquivir das
       Handy zu mopsen versuchte, verschonte er. Stattdessen verliebten sie sich
       ineinander, wie Rudi, der Blödmann, erzählte. Sie zogen fort in die Sierra
       Morena, wo sie seitdem als Straßenräuberpaar tätig sind. Aber vielleicht
       ist das auch nur eine von den üblichen Blödmann-Geschichten, für die Rudi
       so berühmt ist wie Alfie für seine aufopferungsvolle Gabe als Unglücksrabe.
       
       12 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Die Wahrheit
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