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       # taz.de -- Kampf ums Mobilitätsgesetz: Die Weiche soll weichen
       
       > Mit seinem Widerspruch gegen die Fahrradweiche an der Schillingbrücke
       > piesackt ein Radaktivist die Senatsverkehrsverwaltung. Die verspricht
       > Besserung.
       
   IMG Bild: Mutiger Weichen-Radler, hier auf der Wilhelmstraße in Kreuzberg
       
       Jens Blume hat es wieder getan. Der Umweltingenieur, der sich im Verein
       Changing Cities für die Verkehrswende engagiert, hat am Wochenende bei der
       Senatsverkehrsverwaltung schriftlich Widerspruch eingelegt – gegen das, was
       RadaktivistInnen seit Längerem als „Angstweiche“ bezeichnen. Je nachdem,
       wie das Haus von Regine Günther (Grüne) auf Blumes fünfseitiges
       Schriftstück reagiert, behält dieser sich eine Klage beim
       Verwaltungsgericht vor.
       
       Konkret geht es um die Straßenmarkierung an der Ecke
       Schillingbrücke/Stralauer Platz, unweit des Ostbahnhofs. Radfahrende, die
       die Brücke von Kreuzberg aus überquert haben, müssen sich seit Kurzem
       entscheiden, ob sie sich zum Abbiegen am rechten Straßenrand halten oder
       aber zum Geradeausfahren den „Radfahrstreifen in Mittellage“ wählen, wie es
       amtlich heißt.
       
       Für Vereine wie Changing Cities sind diese „Weichen“ ein rotes Tuch, denn
       die geradeaus Fahrenden befinden sich plötzlich zwischen fahrenden
       Kraftfahrzeugen. Schlimmstenfalls rollen links und rechts Sattelzüge,
       gleichzeitig besteht immer das Risiko, dass AutofahrerInnen doch noch nach
       rechts ausscheren wollen oder den Streifen einfach aus Nachlässigkeit
       überfahren.
       
       Für Blume ein No-Go: „Ein sicheres Befahren der Fahrradweiche, insbesondere
       mit meinen Kindern, ist mir per Rad nicht möglich“, schreibt er im ersten
       Absatz seines Widerspruchs. Es folgt eine Aufzählung von nicht weniger als
       zehn Punkten des im Juni 2018 verabschiedeten Mobilitätsgesetzes, gegen die
       die „Angstweiche“ seiner Ansicht nach verstößt. An erster Stelle die
       „Vision Zero“-Leitlinie (§ 10), die der Politik den Auftrag gibt,
       Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden perspektivisch auf null zu
       reduzieren.
       
       Radfahrende würden rechts und links „mit teils hohen Geschwindigkeiten“ und
       „mit viel zu geringem Seitenabstand“ überholt, argumentiert Blume. Der
       erforderliche 1,5-Meter-Abstand, der schon lange in der Rechtsprechung gilt
       und nun auch Eingang in die Straßenverkehrsordnung gefunden hat, könne
       „aufgrund der jeweiligen Spurbreiten nicht eingehalten werden“. Der für
       Radfahrende bisweilen tödlich endende Rechtsabbiegekonflikt an der
       Straßenecke werde lediglich vorgelagert. Wirklichen Schutz böten nur
       getrennte Ampelphasen.
       
       ## Auch Fußgänger gefährdet
       
       Für die FußgängerInnen ändere sich im Übrigen nichts – schlimmstenfalls
       seien sie sogar stärker gefährdet, weil KraftfahrerInnen die Konfliktzone
       vermeintlich schon hinter sich gelassen haben. Zu den weiteren von Blume
       ins Feld geführten Punkten gehört das verfehlte Ziel einer gesteigerten
       Leistungsfähigkeit des Umweltverbunds (§ 5), also aller
       VerkehrsteilnehmerInnen außer Autofahrenden. Er hat nämlich beobachtet,
       dass die Fahrradweiche bei hohem Kfz-Aufkommen zugestaut wird.
       
       „Ich bin die erste Person überhaupt, die den juristischen Weg geht“, sagt
       Blume der taz. Dass er Erfolg haben könnte, zeigt der wenige Wochen alte
       Fall der Oberbaumbrücke, wo der Aktivist ebenfalls Widerspruch gegen den
       aus seiner Sicht zu schmalen und ungeschützten Radweg einlegte. „Frau
       Günther hat mittlerweile baulichen Schutz für diesen Radweg angekündigt“,
       so Blume, „es sieht also so aus, dass ich nicht klagen muss.“ Könnte das
       auch an der Schillingbrücke klappen? „Es gibt mobilitätsgesetzkonforme
       Lösungen. Wenn eine solche Anwendung findet, bin ich zufrieden.“
       
       Was heute als „Angstweiche“ gilt, fand noch vor zehn Jahren Zuspruch bei
       der Radlobby. Deren VertreterInnen, sagt Jens Blume, machten nämlich lange
       „Politik für alle, die sich eh schon aufs Rad trauen“. Außer diesen jungen
       und körperlich robusten, meist männlichen StraßenfahrerInnen, „die schnell
       von A nach B kommen wollen“, gebe es aber noch viel mehr Menschen „von 8
       bis 108“, deren Recht auf sicheres Radfahren spätestens seit dem
       Fahrrad-Volksentscheid im Mittelpunkt stehe und deren Sicherheit auch durch
       bauliche Maßnahmen geschützt werden müsse.
       
       ## Senat: „Wir optimieren“
       
       Kurz vor Redaktionsschluss erreichte die taz noch die Stellungnahme der
       Verkehrsverwaltung: „Fahrradweichen können unter bestimmten Bedingungen für
       mehr Sicherheit sorgen, sie werden aber oft als subjektiv unattraktive
       Verkehrslösung empfunden und kritisiert“, so Günthers Sprecher Jan Thomsen.
       „Deshalb werden wir alle neuen, hoch frequentierten Fahrradweichen nochmals
       bei einer Vor-Ort-Begehung prüfen und gegebenenfalls durch weitere
       Sicherheitselemente wie Leitboys oder farbliche Unterlegungen optimieren.“
       
       Thomsen fügte hinzu, die Senatsverwaltung strebe „darüber hinaus eine
       Verständigung über sichere Kreuzungsdesigns insgesamt an“, in einem
       „Diskussionsprozess mit den Fachverbänden“ werde an „alternativen
       Lösungsansätzen für Knotenpunkte gearbeitet, die in unterschiedlichen
       Verkehrssituationen eine möglichst sichere Infrastruktur gewährleisten“.
       
       Auch die Verkehrswissenschaft betrachtet Fahrradweichen übrigens kritisch,
       wenn auch nicht ganz so negativ wie die AktivistInnen: Die TU Berlin führte
       2015–2017 eine Untersuchung an 48 Kreuzungen durch, die einen
       Radfahrstreifen in Mittellage erhalten hatten. Im Ergebnis, so die
       ForscherInnen, habe sich gezeigt, „dass diese Führungsform im
       Knotenpunktbereich nicht generell positiv auf die Sicherheit wirkt“. Die
       Unfälle im vorgelagerten Bereich resultierten „deutlich häufiger in
       schweren Verletzungen“ als solche direkt an der Kreuzung. Aber: Würden
       Fahrradweichen „mit Regelbreite und ausreichend lang markiert, haben sie
       das Potential für eine positive Wirkung auf die Radverkehrssicherheit“.
       
       11 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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   DIR Vielleicht wird's noch breiter
       
       Die umstrittenen Rad- und Kfz-Spuren auf der Oberbaumbrücke könnten noch
       einmal korrigiert werden – das stellt die Verkehrsverwaltung in Aussicht.