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       # taz.de -- Mircea Cărtărescus neues Buch „Solenoid“: Produkt eines riesenhaften Geistes
       
       > „Solenoid“ ist eine Freude. Wer Spaß an Fantastik, an metaphorischen und
       > allegorischen Rätseln hat, sollte Mircea Cărtărescus neues Buch lesen.
       
   IMG Bild: Bukarest, „die traurigste Stadt auf dem Erdboden, aber gleichermaßen die einzig wahre Stadt“
       
       Die Lektüre der Romane des [1][rumänischen Schriftstellers und Dichters
       Mircea Cărtărescu] ist ein ganz eigenes Vergnügen. Wohl kein anderer
       zeitgenössischer Autor hat eine derart opulente, alle Maßstäbe sprengende
       Fantasie. Und keiner hat dabei seine Heimatstadt auch sprachlich auf immer
       neue, überraschende Weise zu solch einer surrealen Welt gemacht. Das gilt
       besonders für Cărtărescus „Orbitor“-Trilogie „Die Wissenden“, „Der Körper“
       und „Die Flügel“.
       
       Sein neuer Roman, „Solenoid“, knüpft an diese Trilogie an. Der namenlose
       Ich-Erzähler ist wie in den „Orbitor“-Romanen in einem riesigen Plattenbau
       an der Straße Ştefan cel Mare aufgewachsen, hat nächtelang aus dem Fenster
       seines Kinderzimmers auf die Lichter der Stadt gesehen und sie mit seinen
       Träumen zu einer imaginären Welt verschmolzen.
       
       Diesmal jedoch stehen andere Erlebnisse und Phasen seines Lebens im Zentrum
       der Erzählung. Zum Beispiel die Erinnerung an den ersten Verrat der Mutter,
       die dem jungen Erzähler eines Morgens sagt, dass sie zu seinem Cousin
       fahren. Stattdessen aber geht es zu einer Operation in eine Zahnklinik. Ein
       traumatisches Erlebnis, das er nie vergessen hat.
       
       ## Gedicht ist „literarische Pathologie“
       
       Auch die Phase des Studiums kennt der Leser der „Orbitor“-Romane noch
       nicht. Hier ist das entscheidende Erlebnis ein Treffen des
       „Mond-Literaturkreises“, datiert auf den 24. Oktober 1977. Das Gedicht, das
       der Erzähler vorträgt, sollte wie ein Bombe einschlagen, stattdessen wird
       es von den Kritikern des Kreises wie ein Stück „literarischer Pathologie“
       behandelt.
       
       Der Erzähler wird zwar nicht rücksichtslos „abgeschlachtet“, wie er
       schreibt, sondern „nur so nebenbei, verächtlich und mit einem Lächeln auf
       den Lippen“; aber fortan gibt er all seine dichterischen Ambitionen auf.
       Und wird an einer Schule in einem Vorort Bukarests Rumänischlehrer.
       
       Man könnte meinen, Cărtărescu, der nach dem Literaturstudium zeitweilig
       auch Lehrer war, würde mit „Solenoid“ einen alternativen Lebensweg ohne all
       seinen Erfolg und Ruhm wie im wirklichen Leben durchspielen. Aber die
       Haltung des Ich-Erzählers, seine Bedeutungslosigkeit, ist gleichzeitig
       zentraler Bestandteil seines poetologischen Konzepts.
       
       ## Das Gefängnis Leben
       
       Die Anonymität des Schreibens ist für ihn dabei entscheidend. „Weil ich
       kein Romanschriftsteller bin und keine falschen Türen auf Mauern zeichne,
       bin ich glücklich beim Schreiben, dieses Glück ersetzt mir allen Ruhm.“ Mit
       Türen sind hier die Ausgänge aus dem Gefängnis gemeint, als dass der
       Erzähler sein Leben empfindet.
       
       Ruhm dagegen, heißt es weiter, führe nur zu „Konformismus, Falschheit,
       Selbstbetrug, Größenwahn und Enttäuschung“. Weil sie sich selbst und die
       eigenen Texte für nichtig hielten, sei Wahrhaftigkeit für großen Autoren,
       wie etwa Kafka, erst möglich geworden.
       
       Also schreibt Cărtărescus Antischriftsteller und Erzähler nur für sich
       selbst. Und zwar über weite Strecken des Romans ganz realistisch. Zum
       Beispiel über die Zeit, die er als Neunjähriger in den 1960er Jahren in
       einem Lungensanatorium für Kinder verbracht hat. In dem die Verhältnisse so
       gewalttätig waren wie später in der Schule, in der er unterrichtet. Dort
       kommen die Eltern zu ihm und bitten ihn, ihre Kinder zu schlagen. „Hauen
       Sie ihnen in den Nacken, Herr Lehrer, lassen Sie sich nicht den Schneid
       abkaufen, sonst steigen die Ihnen aufs Dach!“
       
       ## Fantastische Welten
       
       Gleichzeitig bricht in diese Ceaușescu-Welt immer wieder das Fantastische
       ein. So verschwinden Kinder in der großen Pause in einer stillgelegten
       Fabrik, die sich gegenüber der Schule befindet. Der Direktor beauftragt den
       Erzähler und einen seiner Kollegen, herauszufinden, was sie auf dem
       verlassenen Gelände machen.
       
       Bei der Expedition in die Fabrik taucht an einer der Wände der riesigen
       Halle eine Tür auf, die durch ein Zahlenschloss gesichert ist. Das
       Unbewusste des Erzählers hilft ihm, die Zahlenkombination zu finden:
       Intuitiv fällt sie ihm ein. Hinter der Tür verzweigt sich dann ein Gang
       schnell in ein „Labyrinth aus Sälen und Sälchen vollgestopft mit Exponaten,
       biologischen Präparaten, die künstlich eingefärbt worden waren, Gläser mit
       widerwärtigen Wesen, Lehrtafeln an den Wänden, auf denen die
       Weltraumbiologie einiger Albtraumwesen gefeiert wurde.“
       
       Es sind nicht immer Angsträume, die die fantastischen Passagen des Romans
       prägen. Unter dem alten Haus, das der Erzähler einem älteren Herrn abkauft,
       befindet sich ein Solenoid, eine Magnetspule, die ihn und seine Freundin
       auf Knopfdruck im Bett schweben lässt. Ein Solenoid, der dann in größerer
       Form an einer anderen Stelle des Romans die Stadt Bukarest aus dem Boden
       reißt.
       
       ## Eine von Anfang an ruinierte Stadt
       
       Bukarest, „die traurigste Stadt auf dem Erdboden, aber gleichermaßen die
       einzig wahre Stadt“. Denn im „Unterschied zu allen anderen Städten … ist
       Bukarest das Produkt eines riesenhaften Geistes, das mit einem Mal da war“.
       Ein Geist, der die geniale Idee gehabt habe, „eine von allem Anfang an
       schon ruinierte Stadt zu bauen“.
       
       Als Leser ahnt man, dass all die Visionen, Allegorien und Metaphern des
       Romans auf etwas anderes hindeuten. Beeindruckend ist auch der sprachliche
       Reichtum, mit dem der rumänische Autor erzählt. Dieser Reichtum und der
       inhaltliche Anspruch mag nicht im Trend der gegenwärtigen, für den Tag und
       aufs Publikum hin geschriebenen Prosa liegen. Aber für jemanden, der
       Geduld, der Spaß an fantastischen Visionen, an metaphorischen und
       allegorischen Rätseln hat, für den ist „Solenoid“ eine lohnende Lektüre.
       
       14 Nov 2019
       
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