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       # taz.de -- Beginn des Jazzfest Berlin: Die Jazzpilze sprießen wieder
       
       > Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin. Im Fokus der Ausgabe 2019
       > steht die Verknüpfung von Akteuren der freien Szene mit internationalen
       > Stars.
       
   IMG Bild: Geheimtipp für Freitag: die Pianistin Angel Bat Dawid aus Chicago​
       
       Berlin taz | Das Berliner Jazzfest, es hat fünfeinhalb Jahrzehnte zwischen
       großem Drama und Stagnation hinter sich, es gab Situationen, da wurden
       Weltstars wegen unpassender Ballkleider ausgebuht, oder Musiker schliefen
       auf der Bühne ein; das Jazzfest Berlin, es kannte Zeiten, da sich Gründer
       wechselseitig mit juristischen Klagen überzogen. Dennoch konnte es immer
       wieder neue Impulse in der Entwicklung des Jazz in Europa geben.
       
       Und doch schien die hiesige Jazzszene und die Berichterstattung darüber ein
       bisschen überfordert, [1][als 2018 tatsächlich das Unvorstellbare eintrat]:
       Eine Frau übernahm erstmals die künstlerische Leitung. Nadin Deventer wurde
       angegriffen und abgefeiert. „Das ist schon erstaunlich, dass es in einer
       europäischen Großstadt wie Berlin so ein großes Ding ist.
       
       Das spricht Bände für den Stand der Debatte um Gender und Diversität in
       dieser Gesellschaft. Mich als Frau Anfang 40 wundert das aber eigentlich
       nicht, ich kenne die patriarchalen Strukturen“, sagt sie nun, wenige Tage
       vor der zweiten Ausgabe des Festivals, das sie kuratiert. „A Mother’s Work
       Is Never Done“, ein Zitat der norwegisch-texanischen Gruppe The Young
       Mothers um Bassist Ingebrigt Håker Flaten, steht jetzt als Slogan im
       Programmheft: Es muss ja doch weitergehen, nach dem Einschnitt, den
       Deventers erste Festivalausgabe darstellte.
       
       ## AACM in Chicago
       
       Nachdem Afrofuturismus und die Szene von Chicago im Fokus standen, ist es
       diesmal tatsächlich die lokale Berliner Szene, die stärker in den Blick
       rückt. Und das nicht nur weil US-Jazz-Legende Anthony Braxton, Mitglied der
       jazzhistorisch hoch relevanten Association for the Advancement of Creative
       Musicians (AACM) und ein Grenzüberschreiter, der Jazz und Neue Musik immer
       wieder verschmolzen hat und mittlerweile Notationen beinahe von der
       grafischen Wirkung her setzt, für sein monumentales Projekt „Sonic Genome“
       mit vielen Berliner Musiker*innen zusammenarbeitet.
       
       Bei Braxtons Ensemble wirken nun Combos wie das Andromeda Mega Express
       Orchestra und das Trickster Orchestra mit. Bei aller Grenzenlosigkeit,
       aller Ungebundenheit von Jazz und allen neuen Kommunikationswegen sei Musik
       noch immer an einen Entstehungsort gebunden, meint Deventer: „Du musst dich
       irgendwo ansiedeln, um zu wachsen, und da haben Metropolen noch immer
       Anziehungskraft. Und in Berlin ist es superinternational. Deutsche Musiker
       sind in der Minderheit. Wir sprechen hier von der ganzen Welt.“
       
       Das Jazzfest hat es lange versäumt, ein gutes Verhältnis zur freien Szene
       aufzubauen. Erst unter Deventers Vorgänger, dem Briten [2][Richard
       Williams,] mit dem sie eng zusammenarbeitete, öffnete sich das Festival
       auch der Stadt. „Ich empfinde es als ein Vergnügen, mit Akteuren der
       lokalen Szene zusammenzuarbeiten, außergewöhnliche Projekte zu kreieren.
       Das ist meine Hauptaufgabe: Freiräume zu schaffen und Möglichkeiten“, sagt
       sie heute.
       
       Zum Beispiel: das Berliner KIM Collective, das sehr interdisziplinär
       arbeitet. 2018 bespielten sie die Unterbühne und luden in den Keller des
       Hauses der Berliner Festspiele, diesmal wachsen sie durch das Haus als
       „Pilz des Festivals“, entwickeln Performances und Installationen – und
       führen am Abschlussabend eine „Fungus-Oper“ namens „The Mass of Hyphae“
       auf.
       
       ## Spiritualität und Politik
       
       Kollektive und Szenen: Rückte das Jazzfest vor wenigen Jahren noch mit der
       Einführung einer „Residency“ Künstlerpersönlichkeiten in den Vordergrund,
       die den Jazz aktuell prägen, ist es diesmal eher die Art, wie diese
       Persönlichkeiten miteinander interagieren. Dies wird ins Licht der Großen
       Bühne der Festspiele geholt – die in diesem Jahr als Amphitheater
       angeordnet wird: ZuschauerInnen, die nah am Geschehen sein möchten, dürfen
       auf Matratzen Platz nehmen.
       
       Zwar gibt es klassische Konzerte, etwa von der Free-Jazz-Künstlerin Angela
       Bat Dawid, deren im Frühjahr erschienenes Debütalbum „The Oracle“
       Spiritualität und Politik verbindet und die am Freitag ihre
       Deutschlandpremiere gemeinsam mit der Gruppe The Brothahood spielen wird.
       
       Doch im Fokus steht das Experiment. So treffen in den „Late Night Labs“
       außergewöhnliche Konstellationen aufeinander: Das Projekt T(r)opic um den
       französischen Gitarristen Julien Desprez entwickelt etwa gemeinsam ein
       Programm mit dem brasilianisch-amerikanischen Trio São Paulo Underground
       und den beiden Tänzerinnen Pauline Simon und Ana Rita Teodoro, die den
       traditionellen brasilianischen Tanz Coco neu denken.
       
       Anthony Braxton, der das Festival am heutigen Donnerstag mit seinem über
       Stunden aufgerichteten Klangkosmos im Gropius-Bau eröffnet, ist
       mittlerweile 74, aber den Glauben, dass nur junge Menschen die Musik
       verändern können, hält Deventer für reichlich naiv. Die Balance zwischen
       dem Blick auf die Stellen des Etablierten, wo der Staub noch nicht so dick
       aufliegt, und der Lust auf das Neue kennzeichnet auch in diesem Jahr ihre
       Programmauswahl.
       
       Eine Ausnahmeerscheinung im Metier will sie damit aber auf keinen Fall
       sein. „Es steht ein Generationswechsel an: Die meisten Institutionen des
       Jazz sind vor 30, 40 Jahren gegründet worden und werden ganz natürlich
       einer jüngeren Generation übergeben werden. Ich bin eine der Ersten. Das
       gibt mir große Sichtbarkeit. Aber es wird passieren, immer mehr.“
       
       31 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Steffen Greiner
       
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