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       # taz.de -- Demokratie in der Krise: Schluss mit Peter Pan
       
       > Das hat man nun davon: Nach 1989 sah man die postideologische
       > Weltgesellschaft kommen – und zog eine apolitische Generation heran.
       
   IMG Bild: „Das ahistorische Mindset der Nineties war auch in den Nullern noch maßgeblich“: Loveparade 2006
       
       Vor dreißig Jahren leiteten der Fall des Eisernen Vorhangs und ein
       Troubadour in glühlampenbestickter Lederjacke das vorläufige Ende der
       Geschichte ein. David Hasselhoff schwebte über der [1][durchbrochenen
       Berliner Mauer] und kündete den geplagten DDR-Bürgern von einer leuchtenden
       Ära der Freiheit.
       
       Bald darauf riefen Teile der Politikwissenschaft das liberale
       Ordnungsmodell zum ewigen Gewinner der konkurrierenden Großsysteme aus. In
       vulgärhegelinanischem Freudentaumel erklärten Francis Fukuyama und andere
       die weltpolitischen Widersprüche für aufgehoben – der
       geschichtsdialektische Marathon hatte sein großes Ziel erreicht, der
       Weltgeist war nach Hause gekommen, durfte seine wundgelaufenen Füße auf dem
       Sofatisch platzieren.
       
       In der Folge verlor das [2][Politische selbst nach und nach an Relevanz].
       Alles stand im Zeichen des großen Konsums. Und breiter als jemals zuvor
       schmutzte eine eifrige Kulturindustrie die ehedem chronisch rebellische
       Jugend mit Mist wie Baywatch und den Backstreet Boys zu.
       
       ## Überwachungskapitalismus auf dem Vormarsch
       
       Die 90er sind längst vorüber und der Topos vom Ende der Geschichte wurde
       historisch hinweggefegt. Wir sehen ja, dass es überall brennt, wissen, dass
       die Brände von selbst nicht erlöschen; dass Milliarden von Menschen in
       strukturell erzeugtem Elend vegetieren; dass die Demokratie in einer
       grundstürzenden Krise steckt; dass Autoritarismus und rechte Bewegungen
       weltweit auf dem Vormarsch sind; dass wir im digitalen
       Überwachungskapitalismus mehr denn je zum Anhängsel der Maschine verkommen;
       dass schließlich die planetare Hardware dabei ist, ein für alle Mal
       durchzubrennen.
       
       Von falschem Bewusstsein kann angesichts der endzeitlichen Grundstimmung
       unserer Gegenwart eigentlich keine Rede mehr sein. Und doch, so scheint es,
       kommen wir nur mäßig und viele überhaupt nicht aus dem Quark – geschweige
       denn auf die Barrikaden. Ich meine: Eine unzeitgemäße Ethik hat sich wie
       Kalk in uns abgelagert.
       
       So haben wir alle – besonders aber die Generation Y – die Nineties als
       Haltung und Habitus bewahrt. Den aus dem falschen Versprechen von der
       postideologischen Weltgesellschaft herrührenden, chronisch infantilen
       Anspruch, ein Leben jenseits der Geschichte zu leben, haben wir über die
       2000er und 2010er bis an die Schwelle der 2020er Jahre geschleppt.
       
       Ich bin in jener vermeintlich geschichtslosen Blase, im Korridor zwischen
       den Jahrtausenden, sozialisiert worden. Zu jener Zeit, als der Kapitalismus
       plötzlich ohne Konkurrenz war und deshalb nicht mehr auf freundlich machen
       musste. Denn, um Missverständnissen vorzubeugen: die 90er waren kein bloß
       lustiges Jahrzehnt, in dem Eurodance die Charts und eine unbeschwerte
       Freiheit die Gesellschaft dominierte.
       
       ## Selbstbesoffene Wirtschaft
       
       Hier ging das in den 80ern begründete neoliberale Regime in die Vollen.
       Hier wurden die Weichen für die Auszehrung des Sozialstaats gestellt, die
       Spielräume der Politik immer stärker zugunsten einer selbstbesoffenen
       Wirtschaft beschnitten. Hier mutierte die Sozialdemokratie zur Konkubine
       des Kapitals. Hier wurden die entfremdenden Imperative der
       Leistungsgesellschaft zu quasireligiösen Leitsätzen erhoben, wurden
       egotaktisches Lebenslaufdesign und das Kuratieren der eigenen Person zu
       alles entscheidenden Techniken des Selbst.
       
       Wenn man Ende der 90er zum Jugendlichen wurde – und in den Nullern als dem
       Wurmfortsatz der 90er ein zumindest minimales politisches Bewusstsein
       entwickelte –, gab es vieles, was man ablehnen konnte. Die einerseits auf
       Karriere als Lebenssinn und andererseits auf stumpfen Hedonismus gepolte
       Lebensform der atomisierten Spaßgesellschaft fanden meine Leute schon zu
       Schulzeiten pervers. Wir wollten da auf keinen Fall mitmachen.
       
       Doch waren wir eben die Kinder unserer Zeit, Widerstand fand nicht statt.
       Eine andere Welt als die, in der wir lebten, konnten wir uns einfach nicht
       vorstellen. Dass die Geschichte sich fortbewegte, schien uns ein Merkmal
       sepiafarbener Vergangenheit zu sein. Trotz einstürzender Twin Towers,
       „Krieg gegen den Terror“ und kollabierender Großbanken war das ahistorische
       Mindset der Nineties auch in den Nullern noch maßgeblich.
       
       Nichts würde jemals wieder anders sein als jetzt. Alles war am Ende bloß
       interaktives Fernsehen, wir konnten uns aus sicherer Distanz an
       spektakulären Explosionen berauschen. Am 1. Mai in Kreuzberg oder auf der
       Anti-Irakkriegs-Demo haute man ein bisschen auf die Kacke – anschließend
       kehrte man zum Alltag zurück.
       
       ## „We would prefer not to“
       
       So vollzog sich noch das Aufbegehren gegen die Zumutungen des neoliberalen
       Zeitgeists unter neoliberalen Vorzeichen. Die „Gesellschaft der
       Singularitäten“ haben wir als jene Solitäre befehdet, zu denen wir in ihrem
       Schoß herangewachsen waren. Unser „Protest“ war seinerseits kaum mehr als
       infantiler Trotz und Bartleby’sche Verweigerung im Sinne eines „We would
       prefer not to“.
       
       Was können dir gesellschaftliche Imperative, wenn du stoned auf Parkbänken
       chillst oder mit verschiedenen Substanzen im Blut ins Fieberlicht
       wummernder Nächte tauchst? Unser jugendliches Oppositionsgebaren fand kein
       sinnvolles Ventil. So haben viele junge Wilde der 90er und 2000er ob der
       verspürten Abwesenheit eines narrativen Fluchtpunkts, auf den sich ein
       Traum von Umwälzung hätte ausrichten können, vor allem die eigene
       Gesundheit geschröpft.
       
       Natürlich hatten wir hochfliegende Träume, die eben die Träume unseres
       Zeitalters waren. Wir hofften nicht auf eine bessere Welt. Anstatt uns als
       historische Subjekte zu verorten, träumten wir davon, aus der Masse
       hervorzubrechen, Einzelne zu sein, die in ewiger Jugend und dauerhaft im
       Applaus leben würden.
       
       ## Neurotisch im Hamsterrad
       
       Irgendwann brach dann die Wirklichkeit ein: Inzwischen nun rennen wir
       entfremdet und neurotisch im Hamsterrad umher, haken Posten auf
       To-do-Listen ab, leben, lieben, arbeiten prekär und fürchten das Fallen ins
       Bodenlose. Am Ende des Tages schleppen wir unsere an der allgemeinen
       Aufgabe, ganz besondere Individuen zu sein, erschöpften Selbstreste
       wahlweise aufs Sofa vor die Netflix-Serie oder in den Club und das
       Tinder-Multiversum.
       
       Die eine Hälfte hat ihre im Zuge des Älterwerdens verschüttgegangenen
       Träume auf ihre Kinder verlagert, ihre Weise des Erwachsenseins erschöpft
       sich meist im täglichen Funktionieren. Die andere Hälfte klammert sich an
       ihre versunkene Jugend und frönt, als hätte sich nichts verändert, weiter
       dem Peter-Panismus.
       
       Seit ein paar Jahren aber ist die Geschichte, die niemals fort war, ins
       Bewusstsein der meisten zurückgekehrt. Mit Syrien und der sogenannten
       Flüchtlingskrise, mit zahllosen Leichen, die an die Strände Europas gespült
       werden, mit Brexit und Trump, mit den verstörenden Landgewinnen des
       Rechtsextremismus, mit der nunmehr rezipierten Klimakatastrophe haben wir
       endlich begonnen, zu begreifen, dass unser Leben nicht bleibt, wie es ist.
       
       ## Im ewigen Nimmerland
       
       Dass es sich zum Schlechteren ändern kann – und sich zum Besseren ändern
       muss. Allein: Gemessen an Dringlichkeit und Präsenz dieser Erkenntnis
       geschieht verhältnismäßig wenig. Wir reiben uns verblüfft die Augen,
       hoffen, dass alles wieder wird, wie es war. Immer noch halten wir die
       Vorstellung fest, wir könnten im ewigen Nimmerland leben.
       
       Okay, viele von uns haben seit 2015 wiederholt mit irgendwelchen Onkels an
       Weihnachten über Geflüchtete gestritten. Wir sind schlechten Gewissens,
       wenn wir Plastiktüten kaufen, und nicht wenige waren mal auf irgendeiner
       Klima- oder Anti-AfD-Demonstration. Situatives Geplänkel aber – ein
       bisschen Hobbypolitik im Zeichen von Distinktionsgewinn und moralischer
       Selbstoptimierung – wird dieser Tage nicht ausreichen.
       
       Wir stehen vor einer Jahrhundertaufgabe. Die ganz Jungen haben das am
       besten begriffen, wenn sie sich aus ihren digitalen Wohnzimmern hinaus ins
       Analoge und voller Wut auf die Straße begeben. Wir müssen uns ihnen
       anschließen.
       
       Die Politisierung, die viele von uns seit einigen Jahren noch immer
       ungläubig durchlaufen, gilt es fortlaufend auszubauen, gegen die
       Beharrungskraft des Alltags. Die Kinder der Zwischenzeit können sich nicht
       mehr der doppelt infantilen Daseinsform von individuellem Lebenslaufdesign
       auf der einen und Flucht in die ewige Party auf der anderen Seite
       verschreiben. Wenn sich Rechtsextreme in Parlamenten festsetzen, und die
       Mächtigen der Welt die Zukunft torpedieren, dürfen das Fusion-Festival und
       das Berghain nicht mehr der Peak des Widerstands sein.
       
       ## Dem irre gewordenen Kapitalismus die Stirn bieten
       
       Wir stehen vor der geschichtsträchtigen Aufgabe, nicht nur zivilisatorische
       Errungenschaften wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen zu
       müssen. Durch den Klimawandel und das, was in dessen Folge auf uns zukommt,
       wird endgültig deutlich, was vorher schon galt: dass wir der
       krankmachenden, ausbeuterischen und verheerenden Höllenmaschine eines an
       sich selbst irre gewordenen Kapitalismus endlich entschieden die Stirn
       bieten sollten. Zuallererst aber brauchen wir eine neue Selbsterzählung,
       einen runderneuerten Habitus.
       
       Das geschichtslose Mindset der 1990er müssen wir aus uns herausschulen.
       Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist Peter Pan, das ewige Kind, mehr als
       reif für die Rente.
       
       6 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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