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       # taz.de -- Wiederentdeckter schwuler Klassiker: Immer schon da
       
       > Der Aufsatz „Für den Arsch“ aus den Blütejahren der Schwulenbewegung
       > erläutert, dass auch anale Sexualität in die phallische Ordnung
       > verstrickt ist
       
   IMG Bild: Warum nicht mal ein bisschen mehr Hintern wagen? CSD, 2019, Berlin
       
       Ein, so soll es scheinen, handgekrakelter Strich verdeckt den einen Namen
       und macht es möglich, einen anderen hinzuzufügen. Die Zwänge der
       Bürgerlichkeit, die in uns allen wohnen, verlangen nach eindeutiger
       Klassifizierung und Kanonisierung selbst des als subaltern und radikal
       Angekündigten.
       
       Dass diese Zuschreibungsakte so deutlich (nämlich: auf dem Titelblatt)
       erkennbar gemacht werden, ist wiederum nur möglich, da es sich um den
       kleinen, gewissenhaften August Verlag handelt.
       
       Der eine dieser Namen lautet Guy Hocquenghem und gehört dem bekanntesten
       Autor im Umfeld der französischen Schwulenbewegung der Siebziger. Dessen
       ebenfalls dieser Tage neu aufgelegtes Buch [1][„Das homosexuelle Begehren“]
       stellte die selbst unter Linken angefeindeten Forderungen auf nach
       Befreiung und Zirkulation des ungebremsten, umherschweifenden Verlangens
       (statt phallischer Revolutionsapologetik).
       
       Weil das von ähnlichen Gedanken ausgehende Traktat mit dem Titel „Les culs
       énergumènes“, zu Deutsch etwa: „Die energiereichen Arschlöcher“, erstmals
       1973 in einer später als sittenwidrig beschlagnahmten und vernichteten
       Ausgabe der Zeitschrift Recherches erschienen war, in der zwar die
       Autor*innennamen aufgeführt waren, darunter auch Hocquenghems, aber ohne
       Zuordnung zu ihren Beiträgen, gingen die Herausgeber der Neuauflage noch zu
       Anfang ihrer Arbeit davon aus, wie auch alle vor ihnen, Hocquenghem sei der
       Autor.
       
       Dabei handelt es sich in Wahrheit um den weniger bekannten Christian
       Maurel, wie der [2][Didier-Eribon]-Doktorant Antoine Idier kürzlich
       herausfand.
       
       Der Text liest sich wie ein Kommentar auf Hocquenghems Hauptwerk. Dessen
       zentraler Gedanke, die gesellschaftliche Sexualität baue auf der Verfolgung
       der Homosexualität auf, wird jedoch weitergesponnen: Was folgt aus dieser
       Logik für die Subjektivität derer, die sich der heterosexuellen Ordnung
       scheinbar entziehen? „Wir sind die Bedrohung der verdrängten Homosexualität
       aller anderen, und ihre Reaktion darauf ist, was uns geformt hat.“
       
       ## Scham und Fleischbeschau
       
       Nichts mit der Befreiung also, auch für sie! Während Hocquenghem seine
       Leser*innen mit der Hoffnung entließ, eine irgendwie strömende und anale
       Homosexualität besitze an sich schon transformative Kraft, beleuchtet
       Maurel die Orte, an denen sich diese Hoffnung zerschlägt.
       
       Dort trifft er auf schuldige, schamhafte Inszenierungen von Klassen- und
       „Rassen“-Zugehörigkeit, die die Anordnung der Sexualpartner bestimme (der
       reiche Franzosensohn lasse sich vom „Araber“ zum Ausgleich für dessen
       prekären Status penetrieren, aber bitte anonym und im Dunkeln); er trifft
       auf einen „Imperialismus der Jugend und des schönen Körpers“, der in Zeiten
       digitalisierter Fleischbeschau zu einer gigantischen Industrie angewachsen
       ist; auf jene „Bösartigkeit“ und Bindungsunfähigkeit, die die schwule Szene
       zu einem so zugigen Ort macht, noch heute; auf ihre die Homosexualität
       eigentlich verdrängende „Geometrie“, die die Sexualpartner „zitternd im
       Arschloch die Vagina“ suchen lasse.
       
       Über Sex zu reden, ist im Zuge all der Anerkennungskämpfe in den
       Hintergrund getreten (ob ihre Vertreter*innen etwa marginalisierte Gruppen
       innerhalb der LGBTI* unterstützen oder aber sich im Namen einer bedrohten
       Männlichkeit gegen genau solche Forderungen abdichten wollen); darauf weist
       Peter Rehberg in seinem Nachwort hin.
       
       Dabei befinden sich, das macht Maurel klar, viele Schwule trotz Coming-outs
       innerlich auf der Flucht vor der Ordnung. Der ordneten sie insgeheim doch
       wieder ihre Fantasien unter: „Wir lassen die Homosexualität exakt so
       ablaufen, wie Heterosexuelle sie sich vorstellen.“ Das heißt: Es gibt
       „aktiv“ und „passiv“, stark und schwach, maskulin und feminin. Klare
       Rollen, klare Sache.
       
       ## Ein Verlangen, „das verschwendet und verschwindet“
       
       Daher auch die Wut vieler Schwuler. Es ist wie mit Hase und Igel: „Ich bin
       schon da“, verkündet die heteronormative Ordnung zuverlässig nach jedem
       Versuch, aus ihr auszubrechen.
       
       Also warum nicht mit ihr kuscheln? „Das Bürgertum lässt uns keine
       sechsunddreißig Wege in die Homosexualität, es lässt uns einen einzigen“,
       bemerkt Maurel treffend.
       
       Im „Tonfall einer abgeklärten oder zynischen Tunte“ (Rehberg) leistet er
       seiner Skepsis zum Trotz die nötige Trauerarbeit, um von diesem Frust
       ausgehend den Boden für ein radikaleres Experiment vorzubereiten: „ein
       Verhältnis der Nicht-Konkurrenz und des Nicht-Eigentums“; ein Verlangen,
       „das sich endlich polymorph verausgabt, sich verschwendet und verschwindet“
       und das in diesem Verschwinden Geschlechter, Macht und sicher geglaubte
       Kategorien mit sich reißt.
       
       Dieser Weg des Sichverlierens führt, daran lässt der Autor keinen Zweifel,
       in und um und durch den Arsch. Ohne Garantie auf Erfolg.
       
       18 Nov 2019
       
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