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       # taz.de -- Koloniales Erbe in Namibia: Das Land der Ahnen
       
       > Vor über 100 Jahren nahmen deutsche Kolonialherren Einheimischen in
       > Namibia den Boden weg. Bis heute spaltet die Landfrage die Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Die Kargheit des Landes macht es Farmern in Namibia sehr schwer
       
       Windhoek taz | Auf der Farm Düsternbrook steht in der Mittagshitze alles
       still, nur die Bettlaken auf der Wäscheleine bläht der Wind. Von Weitem
       sind Schreie von Pavianen zu hören. Das Farmhaus liegt auf einer Anhöhe am
       Rand des Khomashochlands, nordwestlich von Windhoek. Johann Vaatz, Ende 60,
       steht in T-Shirt und Khakishorts auf der Terrasse seiner Farm und blickt
       über das trockene Flussbett und die Savanne.
       
       Vaatz lebt von Übernachtungstourismus und Safaris. Nach Düsternbrook kommen
       Gäste aus Europa, um Zebras, Giraffen und Leoparden zu sehen. Oder um Tiere
       zu schießen, ein Pavian kostet 50 Euro, eine Kudu-Antilope 1.200. Die
       Trophäenjagd macht aber nur einen Bruchteil des Geschäfts aus. Zum Konzept
       der Gästefarm gehört es, dass die Touristen den Farmalltag in Namibia
       erleben und beim Abendessen den Geschichten des Farmers über die Dürre und
       die Weite des Landes zuhören. Und Johann Vaatz erzählt gern.
       
       An der Rezeption der Gästefarm steht eine Trinkgeldkasse. Alles, was die
       Gäste dort hineinwerfen, verteilt Vaatz an seine 18 Angestellten. Am
       meisten bekommen die Frauen, die in der Wäscherei oder anderswo arbeiten,
       wo die Touristen sie nicht sehen. Am wenigsten bekommen die Guides, denen
       die Touristen nach der Safari ohnehin einen Zehner in die Hand drücken.
       „100 Prozent Gerechtigkeit schafft man nie, aber ich versuche das
       auszugleichen“, sagt Vaatz. Im Kleinen funktioniert das.
       
       Im Großen ringt Namibia mit der Frage, was Gerechtigkeit heißt – und wie
       man historisches Unrecht wiedergutmachen kann. Konkret geht es darum, wie
       man enteignetes Land gerecht umverteilt und Menschen für ihren Verlust
       entschädigt. Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und [1][mehr als 100
       Jahre nach der Kolonialzeit], in der die Kolonialherren sich Land
       aneigneten, auf dem seit Jahrhunderten Menschen ohne Eigentumsurkunde
       gelebt hatten, hat die Landfrage nichts von ihrer Sprengkraft verloren.
       Kann es eine Lösung für ein Unrecht geben, das so lang zurückliegt?
       
       Als Namibia 1990 nach 30 Jahren des deutschen Kolonialismus und 75 Jahren
       südafrikanischen Apartheidregimes unabhängig wurde, beschloss die
       Swapo-Regierung, das von Weißen enteignete Land mit einer Landreform an
       schwarze Namibier umzuverteilen. Doch die Landreform ging nur sehr langsam
       voran: Laut einer Erhebung der Namibia Statistics Agency von 2018 sind bis
       heute 70 Prozent des kommerziellen Farmlands im Besitz weißer Farmer, die
       nur eine kleine Minderheit der namibischen Bevölkerung ausmachen.
       
       Von seinem Vater hat Johann Vaatz gelernt, dass man im Leben alles
       verlieren kann – sein Land, sein Zuhause, alles, was man sich aufgebaut
       hat. Als seine Eltern in den 1940er Jahren eine Farm in Namibia kauften,
       hatte seine Familie schon eine Landreform hinter sich. Bei der
       [2][Oktoberrevolution 1917] enteigneten Kommunisten die Familie seines
       Vaters – Schwarzmeerdeutsche, die seit mehreren Generationen in der Ukraine
       Landwirtschaft betrieben hatten. Der Grundbesitz wurde in Kolchosen
       aufgeteilt. Es kam es zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen
       sterben.
       
       Die Farm Düsternbrook, rund 45 Autominuten von Windhoek entfernt, kauften
       Johann Vaatz’ Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Als Sicherheit. Sie
       hatten Angst, die südafrikanische Verwaltung könnte ihr Geld auf der Bank
       einfrieren. Vaatz’ Vater wurde vom südafrikanischen Regime wie viele andere
       deutschstämmige Namibier interniert und kehrte erst nach sechs Jahren aus
       dem Lager zurück. In den 1960er Jahren bauten sie auf Düsternbrook die
       erste Gäste- und Jagdfarm Namibias auf. Johann Vaatz wurde hier geboren und
       ist während der Apartheid mit den Kindern der Farmarbeiter aufgewachsen.
       „Es war mehr wie eine Großfamilie“, sagt er. „Nur haben die Arbeiter eben
       da oben gewohnt und wir hier.“
       
       Fast sein gesamtes Leben hat er auf Düsternbrook verbracht, und auf einer
       Farm heißt das: sieben Tage die Woche schuften, vom Morgengrauen bis nach
       Sonnenuntergang, die Wasserstellen kontrollieren, auf Regen hoffen.
       
       Im Oktober 2018 kündigte der namibische Präsident Hage Geingob an, vermehrt
       weiße Landbesitzer zu enteignen. Die namibische Verfassung ermöglicht
       Enteignungen mit gerechter Entschädigung. Am 27. November werden der
       Präsident und das Parlament neu gewählt, und vor diesen Wahlen stellen
       einige mit Vehemenz die Frage, ob nun nicht zurückgeholt werden muss, was
       zu Kolonialzeiten gestohlen wurde. Notfalls ohne Entschädigung.
       
       Vor einer Enteignung habe er keine Angst, sagt Vaatz. „Ich bin namibischer
       Bürger, warum sollte ich Angst haben? Ich gehöre zu diesem Land. Warum
       sollte ich enteignet werden? Nur weil ich weiß bin? Das wäre ja
       rassistisch.“ Er halte grundsätzlich nicht viel von Umverteilung. „Mir
       fehlen da die Erfolgsgeschichten. Deswegen frage ich mich: Was wird
       gewonnen? Befriedigt man nur eine ideologische Gerechtigkeit, oder ist das
       Endziel, dass es der Bevölkerung besser geht?“ Auf die Frage, was für ihn
       Gerechtigkeit bedeute, denkt er einen Moment nach. Dann sagt er: „Die
       Gesetze eines Landes müssen gerecht sein, aber man kann darüber hinaus
       nicht eine künstliche Gerechtigkeit für eine Kolonialzeit schaffen, die 100
       Jahre her ist.“
       
       Johann Vaatz’ Familie hatte Düsternbrook erst nach der Kolonialzeit von
       einem deutschen Kapitänleutnant gekauft. Der wiederum hatte das Land 1908
       von der deutschen Kolonialverwaltung erworben. Die Farm liegt im Ahnenland
       der Ovaherero und Damara, das Land hatte sich wohl die deutsche
       Kolonialverwaltung angeeignet.
       
       Im Nationalarchiv in Windhoek liegen die Dokumente zum Landerwerb, jede
       Farm hat hier ihre eigene Akte. Der Akte Düsternbrook sind ein Kaufvertrag
       mit Siegel und Stempel und eine Skizze des Grundstücks beigeheftet. Im
       Kaufvertrag heißt es: „Das Kaiserliche Distriktsamt Okahandja verkauft und
       übergibt vorbehaltlich der Genehmigung des Kaiserlichen Gouvernements an
       den Farmer Robert Matthiessen die auf anliegender Skizze näher bezeichnete
       (…) Farm mit einem Flächeninhalt von ungefähr 5.000 Hektar.“ Der Kaufpreis
       betrug damals 1 Mark und 20 Pfennig pro Hektar, insgesamt 6.000 Mark.
       
       Zwischen den blauen Aktendeckeln findet sich auch ein mit Schreibmaschine
       getippter Brief von 1921, in dem der Kapitänleutnant den Kaiserlichen
       Gouverneur um Landzukauf bittet. Da seine Farm ausschließlich aus bergigem
       Gelände bestehe, sei Landwirtschaft nur mit zusätzlichem Farmland
       wirtschaftlich. „Ich empfinde jedenfalls ein dringendes
       Ausdehnungsbedürfnis. Diese Ausdehnung ist nicht Marotte, sondern
       Lebensfrage für mich und meine Familie!“
       
       Die Geschichte Namibias ist geprägt von Verdrängung und Aneignung. Als 1884
       die Deutschen kamen und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründeten, zogen
       sie als Erstes Grenzen. Zuvor hatte es keinen Privatbesitz gegeben, Land
       war Ahnenland, auf dem die ethnischen Gruppen kollektiv lebten. Schon vor
       der Kolonialzeit hatten die Gruppen der Damara und San Land verloren, weil
       sie von den Ovaherero verdrängt worden waren. Doch die Grenzen der Gebiete
       waren durchlässig, weil die nomadischen Gruppen mit dem Regen zogen. Nun
       wurden die Ovaherero, Nama, Damara und San immer weiter verdrängt.
       
       Mutjinde Katjiua pinnt die Nachdrucke zweier alter Landkarten an die Wand
       seines Unibüros. Der Professor in kariertem Kurzarmhemd mit Brille und
       Schnurrbart ist Ovaherero. Er leitet die Abteilung für Land- und
       Eigentumsstudien an der Namibia University for Science and Technology und
       ist Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority. „Das Ahnenland zu
       verlieren bedeutete für die enteigneten Gruppen, dass sie die Verbindung zu
       ihren Vorfahren verloren haben“, sagt er. „Mit der Landenteignung haben sie
       ihr Vieh und die Rechte an Ressourcen wie Bergbau und Fischereigründen
       verloren, was ihre Armut bis heute fortsetzt.“
       
       Auf einer der beiden Karten, der „Völkerkarte von Deutsch-Südwestafrika vor
       den Aufständen 1904–1905“, sind die ehemaligen Gebiete der verschiedenen
       ethnischen Gruppen eingezeichnet. Mit dieser Landkarte lässt sich erahnen,
       wie es in Namibia aussah, bevor die deutsche Kolonialverwaltung nach dem
       Genozid neue Grenzen zog.
       
       Mit dem Aufstand der Ovaherero 1904, bei dem um die hundert weiße Siedler
       getötet wurden, und dem Aufstand der Nama 1905 begann ihr Kampf um das
       verlorene Land. Der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von
       Trotha war der Ausgangspunkt für das, was heute als [3][der erste
       Völkermord des 20. Jahrhunderts] gilt. Schätzungsweise 80.000 Ovaherero und
       20.000 Nama starben bis 1908 in der Wüste oder in Konzentrationslagern.
       
       Diejenigen, die überlebten, wurden per Anordnung der Kolonialverwaltung
       enteignet. Diese parzellierte das Land und verkaufte es an deutsche
       Siedler. Die Enteignungen gaben nicht nur den weißen Siedlern Land, sie
       zwangen auch die schwarzen Namibier aus der Selbstständigkeit in die
       Lohnarbeit. Und sie schufen eine soziale Struktur, die sich bis heute kaum
       geändert hat. Ovaherero und Nama sind im heutigen Namibia marginalisierte
       Minderheiten.
       
       In den 1960er Jahren wurden schwarze Namibier ein weiteres Mal von ihren
       Wohnorten vertrieben. Um die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spalten und
       die weiße Vormachtstellung zu sichern, gründete die südafrikanische
       Verwaltung für jede ethnische Gruppe eigene Homelands. Dieses Mal betraf
       die Vertreibung alle schwarzen Namibier.
       
       Für Mutjinde Katjiua ist die Landfrage weder kompliziert noch sensibel: Die
       enteigneten Bevölkerungsgruppen der Ovaherero, Nama, Damara und San müssen
       bei der Umverteilung Vorrang haben. Mit Nachdruck zeichnet er auf einem
       Blatt Linien, um das Gesagte zu veranschaulichen. „Die Mehrheit in der
       Regierung ist vom Genozid und der Enteignung nicht betroffen“, sagt er.
       Deshalb habe die Regierung bisher nicht anerkannt, dass es einen Völkermord
       und Enteignungen gegeben hat.
       
       Seit 2015 verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die
       Aufarbeitung des Genozids. Weil sie sich von den Verhandlungen
       ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten
       fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York eine
       [4][Sammelklage gegen Deutschland] eingereicht. Sie fordern die offizielle
       Anerkennung des Geschehens als Genozid, eine Entschuldigung und
       Wiedergutmachung. Die Klage liegt in New York inzwischen beim
       Berufungsgericht.
       
       Nach jahrzehntelangem Kampf schwindet unter den Nachkommen der Ovaherero
       und Nama aber die Geduld. „Wir sind sehr friedlich und geduldig, aber wenn
       alle friedlichen Wege vergebens sind, werden wir zu unserem Land
       zurückkehren“, sagt Mutjinde Katjiua ruhig. Es klingt nüchtern wie eine
       Feststellung. „Wenn alle rechtlichen und diplomatischen Prozesse scheitern,
       werden wir auf Selbstbefreiung zurückgreifen, und die deutschen Farmer, die
       auf unserem Land sitzen, werden packen und gehen müssen. Ist es das, was
       wir wollen?“
       
       Auf der ersten nationalen Landkonferenz 1991 wurde eine Weiche gestellt,
       was zur Frustration vieler Ovaherero und Nama beitrug, die darauf hofften,
       dass das historische Unrecht nun wiedergutgemacht würde. In der Resolution
       hieß es, Ansprüche auf Ahnenland könnten nicht berücksichtigt werden, da
       aus überlappenden Gebietsansprüchen verschiedener ethnischer Gruppen zu
       viele Konflikte entstünden. Das traf vor allem die Bevölkerungsgruppen, die
       am stärksten unter den Enteignungen gelitten hatten.
       
       Denn nicht alle ethnischen Gruppen in Namibia haben in der Kolonialzeit
       Land verloren. Die Oshivambo sprechenden Gruppen aus dem Norden Namibias,
       die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellen, waren nicht von den
       Enteignungen betroffen. 1991 kurz nach der Unabhängigkeit die Ansprüche auf
       das Ahnenland nicht zu berücksichtigen war aber ein politischer Beschluss:
       Die neu gegründete Republik konnte es sich nach Jahrzehnten der Segregation
       nicht leisten, auf Partikularinteressen einzugehen, die eine noch
       zerbrechliche Einheit hätten gefährden können.
       
       Dass das Land ihrer Ahnen dadurch auch an schwarze Namibier umverteilt
       wurde, die kein Land verloren hatten, war für die Ovaherero und Nama eine
       weitere Enttäuschung. Viele Farmen gingen außerdem an die schwarze Elite,
       die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet hatte. Deshalb ist die
       Landreform inzwischen auch zu einer Klassenfrage geworden.
       
       Es dauerte 27 Jahre bis zu einer zweiten nationalen Landkonferenz. Im
       Oktober 2018 beschäftigte sich die Regierung auf Druck der betroffenen
       Gruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum ersten Mal auch mit
       der Frage des Ahnenlands.
       
       Uhuru Dempers sitzt in der Deja Vu Cafeteria an der Independence Avenue.
       Die Kantine im Zentrum Windhoeks ist um die Mittagszeit belebt, hier
       treffen sich viele Angestellte in ihrer Pause. Immer wieder grüßt jemand
       den Landaktivisten im Vorbeigehen. Er ist gut vernetzt, seit den frühen
       Neunzigern beschäftigt er sich mit der Landreform.
       
       Die letzten Monate, sagt Dempers, seien herausfordernd gewesen. Er meint
       seine Arbeit in einer 15-köpfigen Kommission: Die Ancestral Land Commission
       soll nichts Geringeres leisten, als die kolonial gezogenen Grenzen
       innerhalb Namibias neu zu vermessen und eine Kartografie des vorkolonialen
       Ahnenlands zu entwerfen. Die Kommission wurde vom namibischen Präsidenten
       eingesetzt, um ein Jahr lang zu untersuchen, wo schwarze Namibier im
       Kolonialismus Ahnenland verloren haben und welche Ansprüche sich daraus
       ergeben.
       
       Uhuru Dempers sagt gern: „Wir als Zivilgesellschaft“, wenn er von seiner
       Arbeit spricht. Er ist ein pragmatischer Idealist, bereit, Kompromisse
       auszuhandeln. Zwei Jahre lang ist er vor der zweiten Landkonferenz durchs
       Land gefahren, hat Menschen zur Landreform befragt und nachts im Auto
       geschlafen.
       
       Das hat ihm Respekt verschafft. Und es hat dazu geführt, dass Dempers
       zwischen die Fronten geraten ist. Denn manche traditionellen Autoritäten
       der Ovaherero und Nama boykottierten die zweite Landkonferenz, weil sie
       sich nicht einbezogen fühlten. Sie kritisierten die Ancestral Land
       Commission als Wahlkampfgimmick. „Ich wurde sogar Verräter genannt“, sagt
       Dempers, dessen eigene Vorfahren Ovaherero, Nama und Damara sind. Es ist
       ihm anzusehen, dass ihn das schmerzt. „Ich sehe die Arbeit in der
       Kommission nur als eine weitere Seite des Kampfes, als eine weitere
       Strategie, um das zu erreichen, wofür wir gekämpft haben.“
       
       Zwei Monate ist Dempers dann auch mit der Kommission durch Namibia gereist
       und hat auf öffentlichen Sitzungen Menschen zugehört, deren Vorfahren im
       Kolonialismus enteignet wurden. Die Nachfrage sei überwältigend gewesen.
       „Es gab Menschen, die uns gesagt haben, sie hätten ihr ganzes Leben auf
       diese Kommission gewartet.“ Dass sich die Regierung damit auseinandersetzt,
       wie Menschen für den Verlust ihres Ahnenlandes entschädigt werden, hält
       Dempers für überfällig. „Es ist das erste Mal, dass wir Namibier so über
       unsere Geschichte und den Verlust unseres Landes sprechen.“
       
       Dieses Sprechen hat auch alte Wunden aufgerissen, die nie richtig verheilt
       sind. Öfter mussten die Sitzungen unterbrochen werden, weil die Emotionen
       hochkochten. Manche kamen nur, um einmal öffentlich ihre Geschichte
       erzählen zu können. Sie berichteten, ihr Urgroßvater sei auf der Farm, auf
       der er arbeitete, vom Farmbesitzer umgebracht worden, andere, ihre
       Großmutter sei von Soldaten vergewaltigt worden. Eine alte Frau sagte zu
       Dempers: „Ich bin so froh, dass ich darüber sprechen konnte, ich habe das
       so lang mit mir herumgetragen.“
       
       Die Journalistin Erika von Wietersheim ist bereits 2008 der Frage
       nachgegangen, warum die Landreform für viele Namibier ein so emotionales
       Thema ist. Für die Recherche zu ihrem Buch „This Is My Land“ reiste sie
       5.000 Kilometer durchs Land und interviewte weiße und schwarze Farmer,
       Farmarbeiter und Landminister. Als Treffpunkt hat von Wietersheim das Café
       im Hinterhof des Goethe-Instituts in Windhoek vorgeschlagen, das Hupen der
       allgegenwärtigen Sammeltaxis ist hier nur schwach zu hören. „In Namibia
       Farmer zu sein, egal ob weiß oder schwarz, ist ein hartes Geschäft“, sagt
       sie. „Man muss so viel aufbauen und mit Mühe erhalten, seien es Zäune,
       Wasserstellen oder Wasserpumpen, und immer wieder Dürreperioden überstehen
       mit neuen Ideen und finanziellen Opfern. Deshalb ist jeder Farmer, der
       länger auf einer Farm lebt, sehr eng mit seinem Land verbunden.“
       
       Auch diejenigen, deren Vorfahren Farmen auf dem enteigneten Land der
       Ovaherero und Nama gekauft haben, betrachten das Land nach vier
       Generationen längst als eine Art Ahnenland.
       
       Erika von Wietersheim weiß, wovon sie spricht: 20 Jahre lebte und arbeitete
       sie selbst auf einer Farm im Süden Namibias. Als sie nach dem Studium mit
       ihrem Mann auf die Farm der Schwiegereltern zog, lebte sie zum ersten Mal
       mit schwarzen Familien zusammen.
       
       „Wir als weiße Namibier hatten zuvor kaum Kontakt mit Schwarzen, außer mit
       unseren Hausangestellten.“ Auch von den auf der Farm lebenden Nama waren
       damals viele bei ihr angestellt, aber auf einer Farm teilt man ganz anders
       das gesamte Leben: „Krankheit, Tod, Geburt, die tägliche Arbeit und all die
       Katastrophen, die immer wieder passieren.“
       
       Sie gründet eine Farmschule für die Kinder der Farmarbeiter. Als sie den
       Unterricht für die achte Klasse vorbereitet, stößt sie auf ihre eigene
       Geschichte. „In meiner Kindheit haben wir kaum etwas über den Kolonialismus
       gehört, und wenn, dann Horrorgeschichten von der Ermordung weißer Farmer
       durch die Herero“, erzählt von Wietersheim.
       
       Als sie den Unterricht vorbereitete, las sie entsetzt, was in Namibia
       während der deutschen Kolonialzeit geschehen war: „Vor allem, dass es auf
       der Haifischinsel, wo wir als Kinder so ahnungslos gespielt haben, ein
       Konzentrationslager gab, in dem Hunderte von Menschen an Hunger, Schwäche
       und Auszehrung gestorben sind.“ Es gab kein Geheimnis um diese Insel, sagt
       von Wietersheim mit Tränen in den Augen. „Es war wie ausgelöscht aus dem
       Gedächtnis der Menschen, zumindest der Weißen.“
       
       Den Nachfahren der Überlebenden war die Haifischinsel, eine 30 Hektar große
       Halbinsel im Süden Namibias, dagegen ins Gedächtnis gebrannt. Sima Luipert,
       stellvertretende Vorsitzende der Nama Traditional Leaders Association,
       erinnert sich, wie ihre Großmutter ihr als Kind Geschichten erzählt hat.
       „Als ich als junges Mädchen in die Stadt geschickt wurde, um Brot oder Salz
       zu kaufen, haben die weißen Kinder Steine nach mir geworfen“, sagt sie. Die
       Großmutter warnte sie: „Halt dich von diesen Kindern fern, oder du landest
       auf der Insel.“
       
       ## Die Folgen des Völkermords sind bis heute zu spüren
       
       Erst später begreift Sima Luipert, dass ihre Urgroßmutter eine Überlebende
       des Völkermords war und von ihrem Ahnenland vertrieben wurde. „Meine
       Urgroßmutter war eine Gefangene im Konzentrationslager auf der
       Haifischinsel.“ Drei Generationen später wuchs Sima Luipert unter sehr
       bescheidenen Bedingungen in einem Dorf auf, das Teil eines Reservats war.
       Für die Aktivistin sind Völkermord und Enteignung nichts, was vor 100
       Jahren passiert ist, sondern etwas, was bis heute zu spüren ist.
       
       Luipert kämpft für Wiedergutmachung und Versöhnung. Die deutschstämmigen
       Namibier, sagt sie, müssten anfangen, das Ausmaß des Schadens zu begreifen,
       der angerichtet worden sei: „Wir haben die Souveränität verloren, wir haben
       unsere Lebensgrundlagen verloren, und das ist uns nie zurückgegeben worden.
       Wir bleiben am Rande der namibischen Gesellschaft.“ Sie fügt hinzu: „Wir
       müssen einsehen, dass es keine Heilung geben kann, wenn wir die Landfrage
       nicht lösen.“
       
       Ende November wird Uhuru Dempers dem Präsidenten den Bericht der Kommission
       mit Empfehlungen zur Ahnenlandfrage überreichen. Die Erwartungen
       derjenigen, die zu den öffentlichen Sitzungen der Kommission kamen, sind
       hoch. Die Aktivisten erwarten dagegen nicht so viel. Sie haben schon viele
       Kommissionen kommen und gehen sehen, ohne dass sich etwas verändert hätte.
       
       Dempers hofft, dass der Bericht veröffentlicht wird. Dass sich etwas ändern
       muss – darin sind sich schließlich die meisten einig. Was die Menschen
       spaltet, ist vor allem die Frage, wem das Land heute gehört und wie eine
       gerechte Umverteilung aussehen soll. Das karge, staubige Land ist nicht nur
       Besitz. Für viele Menschen ist es der Ort, an dem die Ahnen begraben
       liegen, ein Raum der Zugehörigkeit – und ein Sehnsuchtsort.
       
       20 Nov 2019
       
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       heute fort.
       
   DIR Bücher über die Raubgut-Debatte: Nur ja nichts falsch machen
       
       Ein Patentrezept für den Umgang mit ethnologischen Sammlungen in
       Deutschland gibt es nicht. Aber interessante Ansätze.
       
   DIR Wahlergebnisse in Namibia: Befreiungsbewegung abgestraft
       
       Die einstige Befreiungsbewegung Swapo regiert das Land seit der
       Unabhängigkeit von Südafrika. Bei den Wahlen büßt sie erstmals massiv ein.
       
   DIR Abgeordneter über Entschädigungen: „Ein Verrechnen darf nicht sein“
       
       Der Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holtz sagt, eine finanzielle
       Entschädigung für den Völkermord könnte die Landreform in Namibia
       unterstützen.
       
   DIR Dürre in Südafrika: Das einsame Nashorn
       
       Eine Reise durch Südafrika ist Anschauungsunterricht in Sachen
       Klimakatastrophe. Der Regen bleibt aus, Farmer gehen pleite, Hotels
       schließen.
       
   DIR Kolonialgeschichte und Erinnerungskultur: Ein Platz an der Sonne
       
       Die Kolonialgeschichte kehrt ins Bewusstsein zurück. Mark Terkessidis
       fragt, was das für das Selbstverständnis der Bundesrepublik bedeutet.
       
   DIR Archäologe über Kolonialismus: „Schädel mit Würde behandeln“
       
       Der Archäologe Bernhard Heeb hat im Auftrag der Stiftung Preußischer
       Kulturbesitz versucht, die Herkunft von 1.200 menschlichen Schädeln
       aufzuklären.
       
   DIR Im Kolonialismus geraubte Körperteile: Wem gehört der Schädel?
       
       Gerhard Ziegenfuß hat einen Totenkopf aus Deutsch-Südwestafrika geerbt. Er
       will ihn zurückgeben. Aber das ist gar nicht so einfach.