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       # taz.de -- Wohnungslosenhelfer über Abschied: „Ich schleiche mich raus“
       
       > Unbürokratische Hilfe für Obdachlose: Das ist ein Traum von Bertold
       > Reetz. Darum muss sich künftig aber sein Nachfolger kümmern.
       
   IMG Bild: Die Umzugskartons warten schon: Bertold Reetz geht Ende des Monats in den Ruhestand
       
       taz: Herr Reetz, was hat sich im Bereich der Wohnungslosigkeit in den
       letzten drei Jahrzehnten in Bremen geändert? 
       
       Bertold Reetz: Die Not und das, was man erlebt, wenn man auf der Straße
       lebt – man hat kein Hausrecht und ist sozusagen „öffentliche Person“ – sind
       gleich geblieben, aber in den letzten Jahren ist mit Menschen aus Osteuropa
       eine neue Personengruppe hinzugekommen. Diese Menschen erhoffen sich,
       Arbeit zu bekommen und Wohlstand, müssen sich aber prostituieren oder auf
       den „Arbeitsstrich“ in Walle gehen, damit sie überhaupt ein paar Euro in
       der Tasche haben. Etliche von ihnen verkaufen die [1][Zeitschrift der
       Straße] – die leben davon, das ist für sie ganz wichtig, denn sie haben
       keinen Anspruch auf Sozialleistungen.
       
       Aber trotzdem sollten sie nicht auf der Straße leben müssen … 
       
       Richtig, denn sie haben ein Recht auf Unterbringung – das hat mit
       Sozialleistungen nichts zu tun. Hier in Bremen dürfen die Menschen ab einer
       bestimmten Temperatur auch in die Notunterkünfte, das ist schon mal gut.
       Wenn ich hier irgendetwas zu sagen hätte, würde ich einen Platz
       organisieren, zum Beispiel den alten Campingplatz am Unisee und würde da
       gebrauchte Bauwagen hinstellen, Security, die aufpasst, und einen Träger,
       der die Verantwortung übernimmt – und dort könnte dann wohnen, wer will,
       ohne Anträge, ohne Kostenübernahme.
       
       Wie viele Menschen leben in Bremen auf der Straße? 
       
       Ich gehe davon aus, dass es insgesamt 600 bis 700 sind. Die Zahl ist
       gestiegen und zwar auch, weil Wohnungen luxussaniert werden, die Mieten
       steigen und das einen Verdrängungsmechanismus nach unten auslöst. Das
       heißt, dass jene, die mühselig gerade noch in der Lage waren, ihre Wohnung
       zu erhalten, jetzt rausfallen. Hinzu kommt, dass Sonderwohnformen wegfallen
       wie die Reihersiedlung in Gröpelingen. Dort haben ja immer Menschen
       gewohnt, die nicht in irgendeinem „normalen“ Wohnhaus leben können, ohne
       dass es Konflikte gibt. Dort aber kamen die klar, für die war das gut –
       auch wenn uns die Zustände dieser Wohnungen unzumutbar erscheinen mögen.
       
       Was ist mit ihnen passiert? 
       
       Sie leben teilweise jetzt auf der Straße. Es gibt ja auch immer Menschen,
       die nicht in Notunterkünfte oder in betreute Wohnformen wollen, weil sie
       ihre Autonomie behalten wollen. Ich fand es deswegen eigentlich auch ganz
       schön, dass die Menschen am Güterbahnhof sein konnten – bis der dann aber
       „gesäubert“ wurde, leider.
       
       Jetzt soll das Konzept „Housing First“ als Pilotprojekt auf den Weg
       gebracht werden – woher sollen Wohnungen dafür kommen? 
       
       Das frage ich mich auch. Mein Traum ist natürlich auch, zum Streetworker zu
       sagen: Jonas, ich hab hier fünf Wohnungen, hast du fünf Leute von der
       Straße, die sie wollen? Aber selbst damit wäre es ja nicht getan. Denn so
       eine Wohnung muss in Ordnung gehalten werden, Hausordnungen müssen
       eingehalten werden – ohne Betreuung ist das kaum möglich. Deswegen fände
       ich das Prinzip der Schlichtwohnungen besser, um die Leute von der Straße
       zu holen. Es muss Sonderwohnformen geben – aber mit Mietvertrag, mit
       normalen Hausrechten, einer normalen Kündigungsfrist, das ist ganz wichtig.
       
       Was hat sich im Bereich der Hilfen für Wohnungslose in Ihrer Amtszeit
       getan? 
       
       Der [2][Frauen-Tagestreff „Frauenzimmer“] und die Notunterkunft für Frauen
       sind entstanden, wir haben wesentlich mehr Streetworker bekommen, weil wir
       gesehen haben, dass wir sonst an den Menschen vorbeiarbeiten. Dann sind die
       Treffs entstanden wie in Gröpelingen am Sedanplatz, in der Neustadt am
       Lucie-Flechtmann-Platz, dann das Café Papagei – und das Sahnestück ist der
       neue Szenetreff am Hauptbahnhof.
       
       Das ist nicht Ihr Ernst? 
       
       Nein, natürlich nicht. Aber es gab keine Alternative dazu. Es hätte
       entweder diesen Treff gegeben oder gar keinen. Ich finde, der Ort sieht gar
       nicht mehr so schlimm nach Käfig aus – und er hat jetzt auch eine
       ordentliche Toilette. Da haben wir zwar viele Problemen mit
       Drogenabhängigen, aber die Leute sagen, sie kommen gerne dorthin, weil sie
       ihre Ruhe haben und die Polizei sie nicht ständig kontrolliert.
       
       Der Zaun um den Treff wird abends abgeschlossen. Warum? 
       
       Wir haben versucht, ihn geöffnet zu lassen. Am Szenetreff in Bremen-Nord
       funktioniert das auch – aber am Bahnhof war das eine Katastrophe. Die Leute
       dort sind härter drauf als in Nord, vor allem die, die später am Tag da
       sind. Die buddeln da alles um, das ist richtig schlimm. Da sind Drogen wie
       Crack im Spiel und da kann man nicht mehr an die Vernunft appellieren –
       aber solange die Streetworker da sind, läuft das eigentlich gut.
       
       Kann der geplante Druckraum die Situation verbessern? 
       
       Bestimmt. Aber zu glauben, dass man deswegen niemanden mehr am Wall sieht,
       der sich eine Spritze setzt, wäre illusorisch. Aber es wäre ein erster
       Schritt zur Entlastung. Eigentlich bräuchte Bremen schon lange einen
       Druckraum, aber ich würde das nur befürworten, wenn die Finanzierung des
       Raums nicht zu Lasten der normalen Drogenberatung geht. Das eine ist, Elend
       zu verwalten, was man leider auch muss, aber der Schwerpunkt muss in
       Prävention und Beratung liegen. Das kostet Geld und ein Druckraum kostet
       ebenfalls viel Geld.
       
       In Bremen dreht sich immer alles ums Geld und auch Sie mussten ja immer
       schauen, wie Sie Ihre Projekte finanziert bekommen. Ist das nicht
       frustrierend? 
       
       Wir bekommen sehr viele Spenden und Unterstützung aus der
       Zivilgesellschaft. Kirchen engagieren sich, Rotarier oder der Lions Club
       unterstützen uns. Und die Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren ist
       auch immer gut und konstruktiv gewesen, trotz des Geldmangels. Deswegen ist
       die Arbeit keineswegs frustrierend, sondern sie macht Spaß. Und manches,
       von dem man dachte, es funktioniert nicht, klappt irgendwann doch. Wir
       haben zum Beispiel keinen Cent für das „Frauenzimmer“ bekommen und das dann
       spendenfinanziert eröffnet und 15 Jahre lang auch so betrieben – und jetzt
       wird ein Teil davon endlich finanziert. Manchmal muss man auch als Träger
       in Vorleistung gehen.
       
       Welches der Projekte, die Sie umsetzen konnten, hat Ihnen besonders am
       Herzen gelegen? 
       
       Die Grabstätte für Obdachlose, die es seit 2012 auf dem Friedhof Walle
       gibt, war eine Herzensangelegenheit von mir. Bis es die gab, wurden die
       Menschen anonym in Urnen auf Gräberfeldern beigesetzt, ohne Namen, ohne
       Grabstein. Freunde oder Angehörige hatten also kein Grab, das sie besuchen
       konnten. Auf dem Stein der Grabstätte liegt für jeden Verstorbenen ein
       steinernes Buch mit seinem Namen darauf. Mittlerweile gibt es über 50
       Bücher.
       
       Sie haben 2015 zusätzlich auch noch den Bereich „Migration und Flucht“
       übernommen – war das nicht ein bisschen viel? 
       
       Ja, da bin ich wirklich an meine Grenzen gekommen. Da wurden von einem Tag
       auf den anderen Turnhallen angemietet, über Nacht mussten komplette
       Unterkünfte für die Geflüchteten bereitgestellt werden. Das war wirklich
       Wahnsinn. Aber es hat Spaß gemacht, weil es funktioniert hat und die
       Zusammenarbeit mit der Behörde sehr gut war. Ich war früher
       Leistungssportler, vielleicht habe ich deswegen Spaß daran, zu kämpfen und
       nach vorn zu schauen. Und ich fand das System hier in Bremen sehr gut, dass
       gesagt wurde: Niemand, der geflüchtet ist, muss auf der Straße wohnen.
       Heute befinden sich noch fünf Wohnheime in unserer Trägerschaft und wir
       haben Beratungsangebote, aber den Bereich habe ich schon im Sommer
       abgegeben – ich schleiche mich so langsam raus.
       
       Und Ende des Monats ist dann ganz Schluss … 
       
       Fast. Ich bin ja auch noch Geschäftsführer der ambulanten Suchthilfe und
       das werde ich auch bleiben. Ich brauche wohl einen schrittweisen Übergang
       zum Nichtstun.
       
       22 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://zeitschrift-der-strasse.de/
   DIR [2] https://www.inneremission-bremen.de/wohnungslosenhilfe/tagestreffs/frauenzimmer/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schnase
       
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