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       # taz.de -- Die Wahrheit: Schowuscholu zum Streicheln
       
       > Was hat Assad, dieser alte Schlawiner, denn jetzt schon wieder
       > verbrochen? Über die Folgen semantisch-moralischer Ermüdungsbrüche.
       
       Jeder kennt den Effekt, dass Worte, exzessiv wiederholt, bald ihre
       Bedeutung verlieren. Bei übertriebener Erregung der Nervenzellen, auf denen
       das Wort gespeichert ist, denken sich die Nervenzellen irgendwann:
       „Verarschen können wir uns auch alleine!“, und weigern sich, den
       kryptischen Silbensalat mit Sinn zu beliefern. Die Kognitionsforschung
       spricht von einer „semantischen Sättigung“.
       
       Wenn ich zum Beispiel den Begriff „Sättigung“ in rascher Folge oft genug
       verwende, Sättigung, Sättigung, Sättigung, löst sich spornstreichs die
       Bedeutung von ihrem Träger, verflüchtigt sich – und übrig bleibt das
       schleierhafte „Seddikung“, auch etwas so Exotisches wie die myanmarische
       Hafenstadt Settygong. Die es nicht gibt.
       
       Mit diesem frischen Wissen auf hochmotivierten Nervenzellen nun zu den
       Fallen des ganztägigen Radiohörens. Richtiges Radio für intakte
       Großhirnrinden, nicht lobotomisierende Druckbeschallung mit „guter Laune“.
       Schubkarrenweise kübelt mir im Halbstundenrhythmus der Deutschlandfunk den
       Unrat der Welt ins Haus – von „Brexit“ bis „Trump“.
       
       Ich höre kaum mehr hin und ziehe mir auf Dauer doch semantisch-moralische
       Ermüdungsbrüche zu: „Assad, dieser alte Schlawiner“, denke ich mir dann
       kopfschüttelnd: „Was hat er denn nun wieder ausgefressen?“ Oder: „Dieser
       Putin ist wirklich ein ausgekochtes Schlitzohr!“
       
       ## In den Fichten
       
       Eines Tages, während ich gerade das emsige Eichhörnchen draußen in den
       Fichten beobachtete, drang aus dem Radio plötzlich der putzigste aller
       Namen für das niedlichste aller Tierchen: „Schowuscholu“. Man spreche das
       Wort möglichst schnell und die beiden „sch“ möglichst weich aus. Es ergibt
       sich eine beispiellose Nuschelsalve in absteigender Kadenz: „Schowuscholu“.
       
       Je öfter man „Schowuscholu“ wiederholt, umso mehr Bedeutungen nimmt es an!
       Es muss ein flauschiges Meerschweinchen, ein süßer Hamster oder etwas
       Weichhaariges sein, das sich Michael Ende ausgedacht hat: „Schowuscholu
       piepste leise, ein zartes Fiepen wie von einer weit entfernten Geige.“
       
       Über das mir unvermittelt zugehoppelte Schowuscholu freute ich mich so
       sehr, dass ich seinen Ursprung gar nicht mehr erfragen wollte. Weil bei mir
       aber ständig das Radio läuft, währte mein Entzücken nur eine halbe Stunde –
       bis zu den Nachrichten, in denen mit nüchterner Klipp- und Klarheit erneut
       verlautbart wurde: „Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu wirft
       Deutschland mangelnde Unterstützung beim Kampf gegen die kurdische
       YPG-Miliz vor.“
       
       Seitdem habe ich das, was die Kognitionsforschung als „kognitive Dissonanz“
       beschreibt. Man könnte es auch einen Nervenzusammenbruch nennen. Immerzu
       murmele ich Çavuşoğlu, Çavuşoğlu, Çavuşoğlu vor mich hin. In der Hoffnung,
       dass das Wort wieder seine Bedeutung verliert – und ich meinem wuscheligen
       Schowuscholu erneut zärtlich übers Stupsnäschen streicheln kann.
       
       29 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arno Frank
       
       ## TAGS
       
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