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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Radikales Klima
       
       > Zwei Protestbewegungen lenken derzeit Aktivismus in Frankreich: Ökos und
       > Gelbwesten. Was passiert, wenn sie versuchen, sich zu vereinen?
       
   IMG Bild: Beim Klimaprotest in Paris kam es im September 2019 zu Ausschreitungen
       
       [1][Klimastreiks], Sitzblockaden bei Amazon, Monsanto oder BNP Paribas,
       lokale Aktionen aller Art: Keine Woche vergeht ohne einen neuen
       Paukenschlag zur Rettung des Planeten. Viele, die vorher eher unpolitisch
       waren, engagieren sich und mischen Organisationen wie Greenpeace, Amis
       de la Terre (den französischen Zweig von Friends of the Earth), Attac oder
       France Nature Environnement auf. Sie geben sich radikal, wollen die
       Probleme an der Wurzel packen und stellen die Wirtschafts- und
       Gesellschaftsordnung infrage, die diese Probleme produziert.
       
       „Wir kämpfen für grundsätzliche Veränderungen und üben radikal Kritik am
       kapitalistischen System“, erklärt der Aktivist Gabriel Mazzolini, der bei
       Amis de la Terre für die Aktionsplanung zuständig ist und im Dezember 2018
       bei einer gewaltfreien Blockade vor dem Sitz der Société Générale in
       Polizeigewahrsam genommen wurde. Die Aktivisten werfen der französischen
       Großbank die Finanzierung „schmutziger Energien“ vor.
       
       Die verschiedenen Gruppierungen unterscheiden sich in ihrer Radikalität.
       Dabei ist festzustellen: Wer in seinen Aktionsformen radikal ist, ist es
       nicht unbedingt auch im Hinblick auf seine politischen Konzepte und Ziele.
       Bewegungen wie Greenpeace oder Sea Shepherd sind für ihre riskanten
       Aktionen gegen Öltanker und Walfangschiffe bekannt, vertreten aber
       gleichzeitig reformistische Gesellschaftsmodelle oder scheren sich gar
       nicht erst um soziale Fragen.
       
       Auch wenn nur wenige Ökoaktivisten aus der Arbeiterklasse stammen, werden
       soziale Fragen mittlerweile aber nicht mehr komplett ausgeblendet. „Die
       Menschen haben erkannt, dass der Raubbau am Planeten durch große
       multinationale Konzerne und die soziale Ungleichheit zusammenhängen“,
       meint der Soziologe Albert Ogien, der am Pariser Centre national de la
       recherche scientifique (CNRS) zu sozialen Bewegungen forscht. „Ökologie
       und soziale Probleme lassen sich heute nicht mehr trennen.“ Allein mit
       neuen Lösungen und alternativen Konzepten ist es dabei nicht getan.
       
       ## Kein ziviler Ungehorsam
       
       Anne-Sophie Trujillo, die für Alternatiba und ANV-COP21 (Action
       non-violente COP21) aktiv ist, meint dazu: „Wir haben es mit Veränderungen
       im Alltag versucht, haben versucht, gemeinsam mit den Kommunen Pläne zu
       entwickeln, und sind auf die Straße gegangen. Trotzdem blieb alles beim
       Alten. Mir wurde klar, dass wir einen Schritt weitergehen müssen.“
       Trujillos Aktion: Sie nahm in einem Rathaus im Département Ain das Porträt
       von Präsident Emmanuel Macron von der Wand, dafür bekam sie eine Geldstrafe
       von 500 Euro zur Bewährung aufgebrummt.
       
       Anfang Oktober wurden 51 Aktivistinnen und Aktivisten wegen
       „gemeinschaftlichen Diebstahls“ angeklagt, nachdem sie sich am Abhängen von
       Macron-Porträts beteiligt hatten. Das Strafgericht Lyon sprach zwei von
       ihnen frei, weil es aufgrund der Untätigkeit des Staates angesichts der
       Erderwärmung eine „Notsituation“ als gegeben ansah. Der Staatsanwalt
       legte Berufung ein. Andere Aktivisten wurden wegen desselben Tatbestands
       verurteilt. Alle Welt preist den zivilen Ungehorsam. In Wahrheit handelt es
       sich aber eher um eine gewaltfreie Form der direkten Aktion.
       
       „Ziviler Ungehorsam heißt, dass jemand bewusst beschließt, ein Gesetz zu
       missachten“, erläutert Ogien. „Dieser Jemand sagt: ‚Nehmt mich fest, sperrt
       mich ein, macht mir den Prozess – dann erkläre ich euch, warum ich mit
       diesem Gesetz nicht einverstanden bin.‘ Wenn er damit Erfolg hat, wird das
       Gesetz vielleicht geändert. Die Aktionen von Extinction Rebellion [2][wie
       die Brückenbesetzungen in London], das Abhängen von Präsidentenporträts
       oder Anti-AKW-Kampagnen richten sich aber nicht gegen ein konkretes
       Gesetz.“
       
       Der Zulauf neuer Aktivisten stärkt auch riskante Manöver. „Ende Gelände“
       besetzt jedes Jahr einen Tag lang den riesigen Tagebau Garzweiler im
       Rheinischen Braunkohlerevier. Während die erste Aktion von 2015 immerhin
       schon 1500 Menschen mobilisieren konnte, legten [3][2019 zwischen 5000 und
       6000 Aktivisten den Betrieb für 45 Stunden lahm].
       
       ## Vereinigung der Protestbewegungen?
       
       In Frankreich ist derzeit die entscheidende Frage, ob sich die Proteste der
       Klimaschützer und die der [4][Gelbwesten] vereinen lassen. In etlichen
       kleineren Städten haben sie schon zusammen demonstriert, anderswo ist die
       soziale Kluft unübersehbar, besonders in Paris. Jérôme Cassiot, der in
       Villefranche-sur-Saône in gelber Weste auf die Straße ging, erzählt von
       seinen Erlebnissen am 16. März 2019: „Wir zogen uns von den Champs-Élysées
       zurück, wo praktisch Krieg herrschte, und gingen zur Place de la
       République, wo gerade die Klimaschützer mit ihrem ‚Marsch des Jahrhunderts‘
       ankamen. Der Gegensatz sprang allein schon optisch ins Auge. Ich dachte: Da
       marschieren die Gutgläubigen und Bobos, die nicht sehen wollen, was um sie
       herum passiert.“
       
       Mathieu Bourbonneux, der bei den Gelbwesten in Nantes mitmischt, berichtet:
       „Manche der radikaleren Ökoaktivisten gingen lieber zusammen mit den
       Gelbwesten auf die Straße, die nichts von Verhandlungen halten und einen
       Systemwechsel anstreben.“ Khaled Gaiji, der Vorsitzende von Amis de la
       Terre, räumt selbstkritisch ein: „Diesen Annäherungsversuch haben wir
       vermasselt. Wir haben zu zögerlich reagiert, dabei spielte auch die Angst
       vor Rechtsextremen eine Rolle. Erschwerend kam hinzu, dass dort, wo die
       Gelbwesten auf die Straße gingen, unsere Leute fehlten. Wir haben versucht,
       das zu ändern. Seit April kommt man sich näher, aber die kulturellen Codes
       sind doch sehr unterschiedlich. Dieser Annäherungsprozess ist kein
       Selbstläufer. Wir müssen uns erst mal kennenlernen.“
       
       „Die Naturschutzbewegungen waren schon immer sehr divers. Aber für die
       meisten von ihnen ist sozialer Fortschritt nicht Teil der Agenda“, erklärt
       die Wissenschafts- und Umwelthistorikerin Valérie Chansigaud. „Darunter
       sind reaktionäre und esoterische Gruppierungen, die sich zwar den Erhalt
       der Natur auf die Fahnen schreiben, aber nicht für Emanzipation stehen.
       Ähnliches gilt für die Colibri-Bewegung und die Anthroposophen. Dass manche
       stolz darauf sind, weder rechts noch links zu sein, zeigt nur, dass sie
       über die sozialen Kämpfe nicht im Bilde sind. Das gilt zum Beispiel für die
       Umweltschützer, die sich Macrons La République en marche (LRM)
       angeschlossen haben.“
       
       Auch etliche Aktivisten von Amis de la Terre, die 1974 René Dumont als
       Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen ins Rennen schickten, haben sich
       auf einen reformistischen Kurs zurückgezogen. Ironie des Schicksals: Die
       teils anarchistischen Wachstumskritiker von früher glauben heute an einen
       guten Kapitalismus. „Wir müssen uns von der Idee der Weltrevolution
       verabschieden und stattdessen schauen, was sich auf gesetzgeberischer Ebene
       bewegen lässt“, meint Yves Lenoir, Aktivist der ersten Stunde bei Amis de
       la Terre und Greenpeace. „Was wir brauchen, ist ein Kapitalismus mit
       ökologischen Prioritäten. Das Denken in Ungleichheitskategorien führt zu
       nichts. Aus historischen Gründen gibt es nun einmal Leute, die Geld haben.
       Entscheidend ist, was sie mit diesem Geld machen.“
       
       ## „Wir sind komplett unabhängig“
       
       Eine andere ökologische Vision entstand in den 1970er Jahren. In den USA
       und den angelsächsischen Ländern wurde die Sorge um die Umwelt mit einer
       immer entschiedeneren Absage an das kapitalistische Systems verknüpft. Für
       die Anhänger der Animal Liberation Front (ALF) und Earth Liberation Front
       (ELF) gibt es keine Hierarchie zwischen den Lebewesen dieser Erde.
       
       „ALF und ELF“, so Valérie Chansigaud, „bleiben jedoch Außenseiter. Das
       liegt weniger an ihrer zahlenmäßigen Stärke als an ihren Positionen. Sie
       kämpfen gegen die Gesellschaft, ohne Teil von ihr sein zu wollen. Aus
       diesem Geist entstand auch die ZAD („zone à défendre“) gegen den Bau des
       Großflughafens im bretonischen Notre-Dame-des-Landes. Die Aktivisten im
       Protestcamp waren bereit, ihr Leben radikal zu ändern, um mit ihren eigenen
       Zielen im Einklang zu leben: ein klassisches Beispiel für eine direkte
       Aktion.“
       
       Die Kritik an den Anhängern der reformistischen Ökobewegung, die ihr
       Fähnchen nach dem Wind hängen würden, um – wie etwa die Grünen – an
       einflussreiche Posten zu gelangen, artikuliert sich im Onlinemagazin
       Terrestres und in den Zeitschriften La Décroissance und Silence. Die neuen
       Aktivisten von Youth for Climate oder Extinction Rebellion (XR) lehnen den
       Politikbetrieb strikt ab und meiden konsequent jede parteipolitische
       Vereinnahmung.
       
       „Wir sind komplett unabhängig“, erklärt der 16-jährige Marin Bisson, der
       sich in Lyon bei Youth for Climate engagiert. „Wir wollen zeigen, dass die
       Jugend für ihre Zukunft aufsteht und dass wir mit der herrschenden Politik
       nicht einverstanden sind.“ Antoine von Youth for Climate in Paris ist
       anderer Meinung: „Den politischen Weg sollte man trotz allem nicht komplett
       abschreiben. Die Vernetzung mit engagierten Leuten in den ökologisch
       orientierten Parteien kann uns durchaus stärken.“ Andere sind
       entschiedener: Das Netzwerk Collectif pour une transition citoyenne – allen
       voran die Bewegung „Utopia“ – und die Organisation Démocratie ouverte regen
       an, für die Kommunalwahlen 2020 Bürgerlisten aufzustellen, um in die
       Rathäuser einzuziehen.
       
       ## Umweltbewegung lernt von den Gelbwesten
       
       Eine Generation, die in der Überfluss- und Konsumgesellschaft sozialisiert
       und entpolitisiert wurde, entdeckt auf einmal anarchistische Denker wie
       Élisée Reclus wieder. Sie begeistert sich für die Ideen der Sozialökologie,
       den libertären Kommunalismus von Murray Bookchin oder die politische
       Ökologie von André Gorz. Und die 2013 gegründete Organisation Alternatiba
       (das baskische Wort für „Alternative“), die gegen den Klimawandel
       mobilmacht, steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seite muss sie ihre
       Basis vergrößern und sich deshalb auch für weniger militante Teile der
       Gesellschaft öffnen, auf der anderen Seite will sie ein radikal anderes
       Gesellschaftsmodell verwirklichen.
       
       Die Soziologen Nicolas Brusadelli und Yannick Martell, die Alternatiba seit
       2014 beobachten, beschreiben die Bewegung so: „Bei den Zusammenkünften von
       Alternatiba wird konsensorientiert diskutiert. Auf diese Weise hat
       Alternatiba es geschafft, Menschen zusammenzubringen, die komplett
       unterschiedlicher Meinung sind, aber denselben Lebensstil pflegen. Nahezu
       alle Mitglieder von Alternatiba kommen aus der Mittelschicht.
       
       Globalisierungsgegner sehen darin eine Entpolitisierung, aber politikferne
       Menschen, wie etwa leitende Angestellte in der Industrie, empfinden es
       schon als starke Politisierung, wenn sie bei Alternatiba mitmachen. Für sie
       bedeutet dieser Schritt einen radikalen Bruch mit ihrem bisherigen Leben
       und manchmal sogar mit ihren Familien. In einem zweiten Schritt engagieren
       sie sich dann vielleicht in der gewaltfreien Bürgerbewegung ANV-COP21, die
       die Möglichkeit von konkreteren Aktionen abseits des Profi-Aktivismus
       bietet, den die großen Organisationen praktizieren.“
       
       Der Aufstand der Gelbwesten im Herbst 2018 brachte die eher
       reformorientierten Ökoaktivisten unter Zugzwang. „Die Gelbwesten haben die
       Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt“, konstatiert der
       Soziologe Jean-Baptiste Comby. Sogar der Regisseur Cyril Dion, der
       gemeinsam mit Pierre Rabhi die Umweltbewegung Colibris gründete, ergreift
       inzwischen öffentlich Partei für die Gelbwesten und erklärt, er traue den
       bestehenden Institutionen nicht zu, die ökologische Krise zu lösen.
       
       Die drängende soziale Frage trifft mit dem Klimanotstand zusammen, der sich
       mit jedem Tag verschärft. Die Slogans von Extinction Rebellion und ihr Logo
       – eine in einen stilisierten Globus eingeschriebene Sanduhr – bringen die
       Situation auf den Punkt: Die Zeit drängt. Innerhalb der Bewegung wird über
       ein Ende des Kapitalismus und der Industriegesellschaft debattiert.
       
       ## „Wir müssen die ausgelatschten Pfade verlassen“
       
       Viele Aktivisten wollen bei den direkten Aktionen noch weitergehen und
       kritisieren jede Form „falscher Lösungen“. Davon zeugt die harsche Kritik
       der Gruppe an Maxime de Rostolan, dem Gründer von „Fermes d’avenir“
       (Bauernhöfe der Zukunft), die sich für eine biologische, aber
       produktivistische und von Agrarmultis unterstützte Biolandwirtschaft
       starkmacht. Das Festival „L'An Zéro“ (das Jahr null), das die Gruppe im
       August 2019 veranstalten wollte, musste abgesagt werden, nachdem rund 30
       Gruppen das Event als „Öko-Macronismus“ gebrandmarkt hatten.
       
       Zahlreiche Aktivistengruppen sind überzeugt, dass sie angesichts der
       Dringlichkeit der Lage ihr gewohntes Arsenal von Aktionsformen erweitern
       müssen: rechtliche Schritte, Demonstrationen, Streiks, Sitzblockaden auf
       öffentlichen Plätzen oder vor umweltschädlichen Betrieben, Sabotageakte.
       Immer mehr von ihnen freunden sich – was die Aktionsformen betrifft – mit
       dem Gedanken an, mehrgleisig zu fahren. „Ich glaube, dass wir alle Optionen
       brauchen“, meint der 15-jährige Vipulan, der sich bei Youth for Climate
       engagiert.
       
       Die 21-jährige Léna, die an der Sorbonne Mathematik und Physik studiert und
       ebenfalls bei Youth for Climate mitmacht, berichtet: „Vor zwei Jahren habe
       ich bei ANV-COP21 ein Aktionstraining in zivilem Ungehorsam mitgemacht.
       Aber unsere Gruppe wurde gegründet, weil viele mit dieser Art von zivilem
       Ungehorsam nichts anfangen können. Solange wir reformistisch agiert haben,
       kamen wir uns überflüssig vor. Im Rückblick ist die Geschichte der
       Ökobewegung ziemlich deprimierend. Wir müssen kreativer werden und die
       ausgelatschten Pfade verlassen, wenn wir die Mächtigen wirklich schwächen
       und die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten verändern wollen. Das
       bedeutet zum Beispiel, für gewisse Zeit strategisch wichtige Orte zu
       besetzen.“
       
       Dieses mehrgleisige Vorgehen ist auch das Erfolgsmodell der ZAD in
       Notre-Dame-des-Landes. „2012 bei der Operation ‚César‘ war es genau diese
       Taktik, die zum Sieg führte. Wichtig ist, dass wir den Überraschungseffekt
       auf unserer Seite haben“, stellt Isabelle F. fest, die in der ZAD wohnt und
       das Kollektiv „The Laboratory of Insurrectionary Imagination“ mitbegründet
       hat.
       
       ## Wenn die Gewaltfrage aufgeworfen wird
       
       Immer wieder wird bei taktischen Überlegungen der Aktivisten auch die
       Gewaltfrage aufgeworfen. „Für uns hat die Mehrgleisigkeit den sogenannten
       Grenadine-Effekt“, erklärt Gabriel Mazzolini von Amis de la Terre. „Stell
       dir vor, du schüttest einen Schuss Grenadinesirup – sprich: einen Schuss
       Gewalt – in ein Glas Wasser. Hinterher sieht man kein Wasser mehr, sondern
       nur noch den Sirup. Der Nutzen und die Beweggründe der Aktion bleiben auf
       der Strecke. Wir sind uns der bestehenden Kräfteverhältnisse bewusst und
       geben uns nicht der Illusion hin, das politische System könnte sich aus
       seiner Erstarrung lösen. Deshalb müssen wir die Bewegung noch stärker
       bündeln.“
       
       Für Jean-Baptiste Comby steckt hinter dem Bild von der Grenadine im
       Wasserglas eine Form von Klassismus: „Dass die bürgerliche Presse
       Sachbeschädigung oder Sabotage vehement kritisiert, heißt nicht
       zwangsläufig, dass alle Medienkonsumenten diese Sicht der Dinge teilen.“
       
       Wer sich auf das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit zurückzieht, negiert unter
       Umständen, dass es eine von den Herrschenden verschleierte Gewalt,
       institutionelle Gewalt oder Polizeigewalt gibt, unter der vor allem die
       benachteiligten Klassen zu leiden haben. Die schweren Körperverletzungen
       bei Einsätzen gegen die Gelbwesten riefen im Vergleich zu anderen Zeiten –
       etwa im Vergleich zum Tod von Malik Oussekine während der
       Studentenprotesten im Dezember 1986 – nur verhältnismäßig wenig Empörung
       hervor.
       
       Heute propagiert keine Ökoaktivistengruppe den Einsatz physischer Gewalt.
       Für Léna ist klar: „Wir haben einfach keine Lust auf Gewalt gegen
       Lebewesen, aber was Sachschäden angeht, gibt es eigentlich kein Limit.“ Bei
       radikaleren Gruppierungen wie dem Comité invisible (Das unsichtbare
       Komitee) geht es sogar in erster Linie um Sachbeschädigung und Sabotage.
       „Wer Allianzen schmieden will, muss lernen, mit Leuten zusammenzuarbeiten,
       die andere Vorstellungen haben“, findet Chansigaud.
       
       Wer stur auf der eigenen Position beharrt, sich dogmatisch an seine
       Strategie klammert, riskiert klägliche Misserfolge wie die G7-Gipfel-Gegner
       im Baskenland im August 2019. Damals wollten sich über 50 Organisationen
       zur Plattform „G7 EZ“ (Baskisch für: „Nein zum G7“) zusammenschließen,
       zerstritten sich aber dermaßen, dass keine einzige der geplanten Aktionen
       stattfinden konnte.
       
       Andere konzertierte Aktionen waren erfolgreicher. Im April 2019 folgten
       etwa 2000 Menschen dem Aufruf von Greenpeace, ANV-COP21 und Amis de la
       Terre und blockierten Unternehmen und das französische Umweltministerium im
       Geschäftsviertel La Défense. Das ganze Viertel wurde lahmgelegt, doch
       niemand wurde in Gewahrsam genommen. Nach Aussage vieler Beteiligter hätten
       die Organisatoren eine längere Blockade nicht gebilligt. Das weitere
       Vorgehen musste vor Ort ausdiskutiert werden.
       
       Ähnlich lief es auch bei der Aktion vom 21. September 2019. Désobéissance
       Écolo Paris, Youth for Climate und Extinction Rebellion verständigten sich
       darauf, die Gelbwestenproteste im Pariser Westen zu unterstützen und „Orte
       der Macht“ zu blockieren. Etwa zeitgleich organisierten ANV-COP21, Amis de
       la Terre und Greenpeace einen gewaltlosen Protestmarsch zwischen dem Jardin
       du Luxembourg und dem Parc de Bercy.
       
       ## Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen
       
       „Wir wollten keine Neuauflage des 16. März“, erzählt Léna von Youth for
       Climate. „Die Gelbwesten gingen auf die anderen Organisationen zu. Ihnen
       war wichtig, an den Orten der Macht zu demonstrieren, waren aber ansonsten
       offen. Alternatiba und ANV-COP21 schienen einverstanden, wollten aber die
       Zusicherung, dass die Aktion gewaltfrei abläuft. So funktioniert das
       natürlich nicht.“
       
       „Man hat von uns verlangt, auf den Aktionskonsens zu verzichten“, hält
       Txetx Etcheverry entgegen, der die Organisation Bizi! (Baskisch für:
       „Leben“) und später auch Alternatiba mitgründete. „Das ist eine Frage der
       Strategie. Ich wünsche mir eine Zusammenarbeit aller Kräfte, um den
       Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen. Dafür braucht es
       eine Massenbewegung und eine Radikalisierung. Gewalt ist für uns
       langfristig keine erfolgversprechende Strategie gegen einen so
       übermächtigen Feind. Wir mischen uns nicht in die strategischen
       Entscheidungen anderer ein. Im Gegenzug verlangen wir dasselbe.“
       
       Viele Gelbwesten, die nicht zur ihrer Demo auf den Champs-Élysées
       durchkamen, schlossen sich kurzerhand der Klimademo an. Die Ordnungskräfte
       folgten ihnen, gingen brutal und bedenkenlos gegen Familien mit Kindern und
       friedliche Demonstranten vor und setzten auch Tränengas ein.
       
       ## Das Anti-Randalierer-Gesetz
       
       Die Besetzung des Einkaufszentrums Italie 2 in Paris am Samstag, den 5.
       Oktober 2019, wird dagegen als Erfolg gefeiert. Dort fand sich eine bunte
       Mischung von Klimaaktivisten, Gelbwesten und Jugendlichen aus den Banlieues
       zusammen. 18 Stunden hielten sie die Blockade des Shoppingcenters aufrecht,
       bis sie gegen vier Uhr morgens auf einer Vollversammlung für den Abzug
       stimmten.
       
       Die Aktion war von langer Hand geplant, wobei jede Gruppe ihre eigene
       Aufgabe hatte. Als am frühen Abend Sondereinheiten der Polizei versuchten,
       die Blockade aufzulösen, wurde gemeinschaftlich beschlossen, die besonders
       aktionserfahrenen Gruppen Barrikaden errichten zu lassen. Sie sorgten
       dafür, dass die Ordnungskräfte nicht durchkamen und die Aktivisten nicht
       geräumt werden konnten.
       
       Wenn die Gruppen allzu viel Zeit auf interne Streitereien verwenden, leidet
       der Gesamteindruck. Sind sie in der Gewaltfrage gespalten, spielt die
       Medienmaschinerie kurzerhand die „guten“ gegen die „schlechten“ Aktivisten
       aus, und die Sicherheitskräfte gehen mit immer härteren Bandagen gegen die
       „schlechten“ vor. In einem Bericht über die Radikalisierung
       rechtsextremer Splittergruppen, der im Juni 2019 erschien, forderte eine
       Enquetekommission der Nationalversammlung ein erweitertes Instrumentarium
       im Kampf gegen die Radikalisierung von Veganern und Anarchisten.4
       
       Adrien Morenas, LRM-Abgeordneter und Berichterstatter der
       Enquetekommission, erklärte: „Die Kommission zielte auf die extreme Rechte,
       aber wir wollen den Fokus auf alle extremistischen Gruppierungen erweitern.
       Deshalb gelten unsere Empfehlungen für sämtliche Extremisten, am rechten
       wie am linken Rand – also für alle Organisationen, die an den Grundfesten
       der Republik rütteln.“
       
       Es stünde außer Frage, dass es in Frankreich eine gewaltbereite
       linksextreme Bewegung gibt. „Bei den Ökoaktivisten zählen dazu die
       Tierrechtsaktivisten und Fleischgegner.“ Morenas nimmt zwar, wie er
       sogleich klarstellt, nicht alle Veganer ins Visier, stuft aber bereits
       sogenannte Name-and-Shame-Aktionen, bei denen öffentlich auf die
       Verfehlungen von Unternehmen und Privatleute hingewiesen wird, als Gewalt
       ein.
       
       „Die Spielräume für politisches Handeln und Aktivismus werden immer
       kleiner“, stellt Vanessa Codaccioni fest. „Man hält es nicht mehr aus, wenn
       Menschen ihre Forderungen nicht nur friedlich und nach Vorschrift äußern
       wie bei einer Wahl. Bestimmte Formen der Auseinandersetzung werden sofort
       als radikal und gewaltsam eingestuft. Alle illegalen Aktionsformen werden
       heutzutage mit Terrorismus gleichgesetzt. Die Macht nutzt ihr rechtliches
       Instrumentarium, um Bewegungen zu unterdrücken, denen sie keine Antwort
       geben will. So entstand das Anti-Randalierer-Gesetz (Loi sur les casseurs).
       Das Repressionsarsenal kam in der Vergangenheit zunächst gegen die
       Rechtsextremen zum Einsatz, wurde dann aber im Nu auch gegen die extreme
       Linke genutzt. Der Staat gibt keine politischen Antworten mehr, sondern
       reagiert mit Repressionen.“
       
       ## Effektive Schwächung von Aktivisten
       
       Erst spalten, dann zerschlagen: Mit dieser Methode wurden schon etliche
       Umweltbewegungen kaputtgemacht. So geschah es im Juli 1977, als die
       Anti-AKW-Proteste gegen den Bau des „schnellen Brüters“ Superphénix in
       Creys-Malville (Département Isère) ihren Höhepunkt erreichten. Während die
       Presse sich vor allem über die scharenweise angereisten Radikalen aus
       Deutschland ausließ, wurde gegen mehrere zehntausend Umweltschützer aus
       ganz Europa ein Demonstrationsverbot verhängt.
       
       Die Polizei ging mit äußerster Brutalität vor und setzte sogar
       Blendgranaten ein. Die Bilanz: zahlreiche Verletzte, ein Toter und eine
       deutliche Schwächung der französischen Anti-AKW-Bewegung. Superphénix wurde
       gebaut und produzierte eine ganze Reihe technischer Fehlschläge. Nach einem
       juristischen Dauerkrieg erreichten die Grünen 1997, dass die Stilllegung
       des Reaktors im Regierungsvertrag mit Lionel Jospin festgeschrieben wurde.
       
       Der Politologe Fabien Carrié erinnert daran, dass es in Großbritannien die
       2001 verabschiedeten Antiterrorgesetze waren, die die Animal Liberation
       Front und andere Tierrechtsgruppen ihrer führenden Köpfe beraubten: „Ihre
       Wortführer wanderten ins Gefängnis. Die Aktivisten durften sich den Laboren
       nur noch bis zu einem bestimmten Abstand nähern.“
       
       Das Scheitern der G7-Proteste stimmt die Aktivisten nachdenklich. „Es ist
       wichtig, dass wir zu Bündnissen bereit sind“, sagt die ZAD-Aktivistin
       Isabelle F. „Wir brauchen eine breite Mobilisierung, wobei nicht alle
       unbedingt an vorderster Front dabei sein müssen.“ Sie warnt davor, schnelle
       Erfolge zu erwarten. „Die Straßenbaugegner in England verloren jede
       Schlacht, aber ihre Bewegung wurde so stark, dass es dem Staat einfach zu
       teuer wurde, jedes Mal kostspielige Räumungsaktionen anzuleiern. Die
       Regierung legte ein Paket mit 300 Straßenbauprojekten schließlich entnervt
       ad acta.“
       
       „Die Lehre von Ursache und Wirkung geht davon aus, dass die Geschichte
       vorwärts marschiert, doch die Geschichte ist keine Armee. Sie ist ein
       seitwärts krabbelnder Krebs, ein Tropfen weiches Wasser, das einen Stein
       aushöhlt, ein Erdbeben, das jahrhundertelang aufgestaute Spannungen löst“,
       schrieb die Schriftstellerin Rebecca Solnit. Die Annäherung zwischen
       Extinction Rebellion, verschiedenen Gruppen der Gelbwesten und Youth for
       Climate scheint Teil des breiten Bündnisses zu sein, das viele Aktivisten
       fordern. Könnte es also sein, dass der Krebs bald kräftiger zukneift?
       
       (Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld)
       
       17 Nov 2019
       
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