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       # taz.de -- Von der Kunst des Schenkens: Oh, du schöner Nagelhautschieber
       
       > Alle predigen Minimalismus, aber an Weihnachten scheint das vergessen.
       > Und wehe dem, der es wagt, Geschenke zu benörgeln, wie es unsere Autorin
       > tat.
       
   IMG Bild: Beschenkt zu werden, gerade wider Willen, kann sehr erschöpfend wirken
       
       Bremen taz | Als ich 14 war, schenkte mir meine Mutter zu Weihnachten einen
       Nagelhautschieber mit integriertem Pflegeöl. Ich erkannte dieses eher
       unnötige Utensil erst auf den zweiten Blick, also hielt ich es zunächst
       verwirrt in die Runde. Dann überlegte ich kurz, ob meine Nagelbetten
       hässlich sind. Klar, manchmal knabberte ich an abstehenden Hautzipfeln –
       aber sicher nicht, weil mir so ein Gerät fehlte. Oder war das Geschenk eine
       eher zufällige Wahl, und ich interpretierte zu viel hinein? Jedenfalls
       sagte ich damals recht pampig: „Das brauche ich nicht.“
       
       Später sagte mir meine Mutter, dass sie das sehr getroffen habe und dass
       auch eine Freundin, die den Heiligabend mit uns verbracht hatte, sehr
       erschüttert über meine vermeintliche Undankbarkeit gewesen sei. Darüber war
       ich erschrocken – und vor allem verwirrt. Lügen war ja eigentlich tabu.
       Mich in diesem Fall zum Schein zu freuen aber anscheinend nicht.
       
       Woher kommt dieser absurde Zwang zur Dankbarkeit? Und was soll Schenken
       überhaupt sein? Sofern vom Schenkenden gleichfalls Materielles oder
       mindestens Dankbarkeit erwartet werden, ist es doch eigentlich nur ein
       Tausch in einer wechselseitigen Beziehung.
       
       Dieser Tausch ist erst einmal rituell, da mit einer Leistung zu einem
       anderen Zeitpunkt oder in einer anderen Wertigkeit zurückgezahlt werden
       kann. Aber er ist da. Oder warum sonst muss Kindern beigebracht werden, wie
       sie sich anständig für Geschenke bedanken? Warum kann man sie nicht
       reagieren lassen, wie sie wollen, und daraus dann schließen, was zu viel
       ist?
       
       ## Ich finde Schenken nicht komplett daneben
       
       Reines Schenken kann nur gelingen, wenn sich Schenkende allein auf ihre
       intrinsische Motivation, ihrem Gegenüber etwas Gutes zu tun, berufen. Wem
       so eine Haltung gelingt, der kann auch mit einem „Das brauche ich nicht“
       problemlos zurechtkommen. Wer dann beleidigt ist, schenkt wohl eher für
       eine Selbstbefriedigung, Profilierung gegenüber anderen – oder „weil man
       das so macht“.
       
       Noch schlimmer ist das Argument „Ich möchte dir mal etwas gönnen.“ Wer so
       argumentiert, kann sich fragen, für welche Beziehungsdefizite diese
       Kompensation nötig ist. Dass Kaufen und materieller Besitz – wenn überhaupt
       – nur kurzfristig glücklich machen, brauche ich hier nicht zu diskutieren.
       Auch nicht die Frage nach den [1][katastrophalen Auswirkungen für Umwelt
       und Menschen bei der Produktion] vor allem von Kleidung und Technik.
       
       Ich finde Schenken nicht komplett daneben. Es kann auf beiden Seiten auch
       Freude bereiten, sofern es eine gute Idee gibt. Wer wohlüberlegt und
       liebevoll schenkte, gäbe aber – darauf verwette ich alle meine
       Weihnachtsgaben – weitaus weniger. Und gewonnen hätten damit alle außer dem
       Kapitalismus. Trotzdem macht die Mehrheit weiter wie bisher.
       
       So oft höre ich vor Weihnachten die Sätze: „Ich habe noch kein Geschenk für
       meine Schwester“, „Was soll ich meiner Mutter bloß besorgen?“ oder: „Ich
       schaffe das alles nicht“. Backen muss man schließlich auch noch. Wer so
       redet, ist offensichtlich extrinsisch gestresst und würde sich nie
       freiwillig am Black Friday in die Innenstadt oder das Internet stürzen.
       
       Noch ein Indikator fürs Schenken innerhalb der Tauschlogik ist die Antwort
       auf die Frage: Respektiere ich den Wunsch einer Person, nichts haben zu
       wollen? Ich kämpfe bis heute für die Akzeptanz dieser Bitte in meiner
       Familie.
       
       Und auch an Weihnachtsfesten mit den Familien meiner Partner war es oft
       dasselbe, obwohl ich mich im Vorfeld bemüht hatte, diesen Wunsch zu
       kommunizieren. Verbunden mit der Nachricht: Ich selbst werde nichts
       Materielles beisteuern.
       
       Dennoch saß ich oft da, zurückversetzt in meine Vergangenheit und öffnete
       leicht beschämt Geschenke. Nach kurzem Abwägen siegte bisher, zum Wohle der
       allgemeinen Harmonie, immer der Weg der Lüge. Kein Wunder, dass ich
       Weihnachten in den letzten Jahren lieber mit Freund*innen, leckerem Essen
       und Spielen am Kamin verbracht habe.
       
       Ich wurde nie mit Geschenken überhäuft, aber auch nicht von ihnen verschont
       – als Einzel- und Einzelenkelkind ist das wahrscheinlich normal. Früher
       habe ich mir auch Sachen gewünscht, die ich wirklich gebrauchen konnte:
       einen Playmobil-Reiterhof beispielsweise und unzähliges Zubehör. Klar, über
       diese Plastikfigürchen und ihre Produktion kann man streiten, aber mit
       ihnen spielte ich über Jahre hinweg oft tagelang. Auch ihretwegen
       entfaltete sich meine Fantasie, meine Leidenschaft für Tiere und für
       ästhetische Arrangements.
       
       Diese konkreten Wünsche wichen dem Wunsch nach Geld, als ich irgendwann
       selbst entscheiden wollte, was ich wann brauche und als ich zu reisen
       begann. Und irgendwas musste ich mir ja schließlich wünschen, wie mir die
       ständigen Nachfragen vor diversen Festlichkeiten suggerierten.
       
       Das Argument der Kampfschenker*innen „Freue dich doch einfach, ich
       investiere hier die Mühe“, zieht nicht. Ich habe das Zeug nämlich hinterher
       an der Backe. Bis heute liegt ein Sattelschoner der Familie meines
       Ex-Freundes bei mir im Zimmer und staubt ein.
       
       Klar, ich könnte die Dinge weiter verschenken, Sattelüberzüge sind ja an
       sich eine tolle Sache. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass mich Besitz
       lähmt: Je mehr Kram rumliegt, desto weniger Energie habe ich, ihn zu
       beseitigen. Ich blende ihn einfach aus – meine WG kennt das schon.
       
       Und je weniger Kram ich besitze, desto freier fühle ich mich. Ich kann an
       einer Hand abzählen, wie oft es mir hinterher leid tat, Dinge entsorgt zu
       haben. Sehr oft habe ich dagegen bedauert, unfreiwillig in den Besitzerin
       von allerlei gekommen zu sein.
       
       Inzwischen schenke ich zu Weihnachten nichts mehr; zu Geburtstagen nur,
       wenn mir etwas wirklich Passendes einfällt – und ich den Geburtstag nicht
       vergesse. Neben der moralischen Erleichterung, weil ich das mir
       nahestehenden Menschen auch genauso sage, gewinne ich auch Zeit. So schaffe
       ich es inzwischen zu fast jeder dritten Jahresendzeitfeier im Dezember.
       
       ## Ich empfehle Musik, Liebe und Essen
       
       Aber all diejenigen, die schenken wollen, müssen deshalb nicht betrübt
       sein: Es gibt Alternativen! So wie Liebe und Zeit – klingt abgedroschen,
       ist aber wirklich wichtig. Leute, kuschelt einfach mehr! Gutscheine,
       bestenfalls vom lokalen Einzelhandel, eignen sich hervorragend, um der*dem
       Beschenkten die Entscheidung darüber zu überlassen, was gebraucht wird.
       Essen – natürlich vegan – ist auch gut, denn das verschwindet wenigstens
       mit der Zeit wieder. So wie Alkohol, mit dem – je nach Gesellschaft – die
       Winterferien manchmal leichter zu ertragen sind.
       
       Mein Favorit aber sind Konzertkarten. Konzerte sind nicht nur gemeinsam
       verbrachte Zeit, gute Konzerte sind auch Erlebnisse, die bleiben.
       (Live-)Musik geht eben ans Herz – im Gegensatz zu Sattelschonern und
       Nagelhautschiebern.
       
       24 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Götz
       
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