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       # taz.de -- Aktuelle Musik aus Brasilien: Songs voller Wut und Liebe
       
       > Alte Heldinnen und die junge Generation Brasiliens: Die neuen Alben von
       > Elza Soares, Liniker e os Caramelows, Bia Ferreira, Duda Beat und Dona
       > Onete.
       
   IMG Bild: Hat mit 89 Jahren noch so einiges zu sagen: Elza Soares
       
       „Worauf hast Du Hunger?“, fragt Elza Soares am Ende ihres neuen Albums. Es
       ist eine Anspielung auf ihre eigene Geschichte – und den Titel der Platte:
       [1][„Planeta fome“]. Von welchem Planeten sie denn komme, hatte der
       Moderator die junge Elza beim Gesangswettbewerb im Jahr 1953 gefragt, weil
       sie so ärmlich gekleidet auf die Bühne trat. Vom „Planeta fome“, dem
       „Planeten Hunger“, antwortete Elza. Damals war sie schon sechsfache Mutter
       – zwei ihrer Kinder waren allerdings an Unterernährung verstorben.
       
       66 Jahre später ist Elza Soares eine Ikone. Und gerade hat die inzwischen
       ungefähr 89-Jährige ihr 34. (!) Album vorgelegt. Um es vorwegzunehmen: Es
       ist eine tolle Platte. Schon ihr Vorgänger [2][„Deus é mulher“] („Gott ist
       eine Frau“, 2018) wurde zurecht gelobt. Für „Planeta Fome“ ist Soares aus
       der Alternativszene São Paulos in ihre Heimat Rio de Janeiro zurückgekehrt,
       um mit Lokalgrößen wie dem Rapper BNegão und Bands wie BaianaSystem und
       Orkestra Rumpilezz von außerhalb Rios zu kooperieren.
       
       Gleich zum Einstieg wird mit dem Song [3][„Libertação“] klar gestellt,
       worum es ihr geht: um Befreiung. Es folgen elf Songs, zum Teil härterer
       Crossover, zwischendurch gibt es aber auch einen Accapella, Reggae oder
       funky Stücke wie [4][„Não tá mais de graça“]. Ihrer Reibeisen-Stimme merkt
       man das Alter durchaus an. Elza gibt die zornige Punk-Oma, die die Hosen
       anhat und noch so einiges zu sagen, bevor sie sich verabschiedet.
       
       ## Hunger auf anderes
       
       Es geht um die notorischen sozialen Ungerechtigkeiten Brasiliens, um
       Rassismus, Straßenkinder und „Chega!“, dass „Es reicht!“ und sich endlich
       etwas ändern müsse. Gleichzeitig spendet [5][Elza Soares] Hoffnung: „Ich
       habe das ganze Leben gegen den Hunger gekämpft“, trotzdem habe sie heute
       noch unermesslichen Appetit. Nur auf anderes: „auf Gesundheit, Respekt,
       Würde oder darauf, dass unsere Lehrer anständig behandelt werden.“
       
       Beim „Rock in Rio“-Festival hat Elza vor Kurzem wieder ihren Song
       [6][„Maria da Vila Matilde“] angestimmt: „Wo ist mein Telefon? Ich ruf´ die
       Nummer 180 an.“ Das ist die neue Hotline, an die sich Frauen bei häuslicher
       Gewalt wenden können. Denn Brasilien gehört zu den Ländern mit einer der
       weltweit höchsten Mordrate an Frauen – wie auch an LGBTQ-Personen und
       schwarzen Jugendlichen –, und die menschenverachtende Rhetorik [7][des
       rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro] verschärft das
       gesellschaftliche Klima nur.
       
       Doch hat die Linke nach der Haftentlassung von Brasiliens Ex-Präsidenten
       Lula immerhin wieder Auftrieb. Ohnehin gibt es in Brasilien eine wachsende
       Zivilgesellschaft und Minderheiten, die ihre Rechte einfordern – von der
       Landlosenbewegung MST über die Afrobrasilianer und die LGBTQ-Community bis
       zu Medieninitiativen in Favelas und freigeistigen Künstler:innen in den
       Metropolen und Subzentren des riesigen Landes. Darunter sind zunehmend
       Frauen. Und manchen ist Elza Soares ein Vorbild, etwa der transsexuellen
       Sängerin Liniker.
       
       ## Anleihen an psychedelischen Tropicália
       
       Statt auf Wut und Empörung setzt Liniker mit ihrer siebenköpfigen Band Os
       Caramelows („Die Bonbons“) aber auf Zuneigung und Liebe. Für ihr zweites
       Album [8][„Goela Abaixo“] („Die Kehle hinunter“) – eine Mischung aus
       sanften Soul, R&B, Jazz und Anleihen an psychedelischen Tropicália – wurde
       die 24jährige aus Araraquara im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo
       für den Latin Grammy nominiert. Veröffentlicht wurde das feine Album ohne
       Label im Eigenvertrieb, wie es in Brasilien mittlerweile verbreitet ist.
       
       Statt Parolen zu proklamieren, singt Liniker auf „Goela Abaixo“, mit einer
       vornehmlich tiefen und samtenen Stimme, lieber über innige Umarmungen,
       prasselnden Regen, zwei verliebte Frauen oder über Küsse, die man sich
       aufgespart hat. Doch Liniker weiß, dass schon der Akt, als transsexuelle
       Afrobrasilianerin auf einer Bühne zu stehen, politisch ist. Allein fühlt
       sie sich allerdings nicht – sie werde von [9][„vielen Stimmen“]
       unterstützt.
       
       Bia Ferreira gibt sich da kämpferischer: Die schmale 26jährige Sängerin
       nennt sich „Artivista“ – eine Mischung aus Künstlerin und Aktivistin – und
       ihre Musik „MMP“ („Música de Mulher Preta“, „Musik der Schwarzen Frau“).
       Wenn Ferreira mit ihrer Akustikgitarre auf einem Barhocker thront, ihr Haar
       kunstvoll in ein Tuch gebunden, mag man an Tracy Chapman oder Joan Baez
       denken. Doch es sind keine lieblichen Töne, sondern so wütende wie
       poetische Wortkaskaden, mit denen sich Ferreira einen Namen gemacht hat.
       
       Als Jugendliche schrieb sie bereits den Song „Cota não é Esmola“ – „Die
       Quote ist kein Almosen“. Gemeint sind die Quoten für dunkelhäutige,
       indigene und einkommensschwache Brasilianer im öffentlichen Hochschulwesen.
       Als die Regierung Bolsonaro im Vorjahr nicht nur sozialwissenschaftliche
       Studienfächer abschaffen wollte, sondern auch das Quotensystem, ging ein
       Video von Ferreiras [10][„Cota não é Esmola“] viral.
       
       Auf ihrer ersten Platte [11][„Igreja Lesbiteriana: um Chamado“] hat Bia
       Ferreira jetzt ihre Spoken-Word-Raps mit einer sparsamen Instrumentierung
       unterlegt. Das lässt ihrer klaren Stimme Raum, doch ist das Album insgesamt
       zu glatt produziert. Als Anhängerin eines intersektionalen Feminismus lädt
       Bia auf der Platte alle, ungeachtet ihrer Religion, Hautfarbe oder
       sexuellen Orientierung, unter das Dach ihrer „lesbetarianischen Kirche“
       ein. „Ich bete dafür, dass eine Frau zur nächsten Präsidentin Brasiliens
       wird.“ Sich als Künstlerin gesellschaftlich einzumischen, empfindet
       [12][Bia] als Pflicht: „Wer schweigt, macht keine Kunst, sondern bei Brot
       und Spiele mit.“
       
       Schweigen konnte auch Duda Beat nicht mehr. Der blonden Sängerin aus Recife
       ging es nach mehreren unglücklichen Beziehungen aber um verletzte Gefühle,
       vergebliche Liebesmühen und die kurzen Momente des Glücks. Im Vorjahr
       veröffentlichte Duda Beat ihr Debüt [13][„Sinto muito“] („Tut mir leid“).
       Seither gilt sie mit ihrem Reggae-Dream-Pop als Königin der „Sofrência“ –
       ein Genre, das sich dem Leiden („sofr-imento“) und den Entbehrungen
       („car-ência“) der nach Liebe dürstenden Menschen verschrieben hat.
       
       ## Zwischenmenschliche Wärme
       
       Herzerweichende Musik einer Sängerin, die sich nach zwischenmenschlicher
       Wärme sehnt: „Sich nicht binden zu wollen, ist ein Symptom unserer Zeit“,
       sagt die 29jährige [14][Duda Beat]. „Ich bin Romantikerin und mag es,
       Beziehungen mit anderen einzugehen.“ Sie respektiere alle Formen von Liebe,
       „wichtig ist es allein, zu lieben“ – ohne sich dabei selber zu vergessen:
       Zur Hymne für Frauen, die ihre sie malträtierenden Männer verlassen haben,
       wurde ihr Song [15][„Bolo de Rolo“] mit der Zeile „Ich werde das Glück in
       keinem anderen mehr suchen“.
       
       Duda sieht sich als Feministin als auch in der Tradition des Mangue Beat –
       darum der Zusatz „Beat“ in ihrem Namen. Die von [16][Chico Science] und
       seiner Band Nacão Zumbí angeführte Bewegung kreuzte Anfang der 1990er Jahre
       im Nordosten Brasiliens Metal mit Rap, griff globale Trends auf und verwob
       sie mit lokalen Stilen Pernambucos, etwa den tiefen Trommeln des Maracatú.
       Wenn man sich das kurze Mangue-Beat-Manifest mehr als 25 Jahre nach dem
       Erscheinen anschaut, fällt auf, wie aktuell es ist: Es beschreibt die Stadt
       Recife als einen lebendigen Organismus, der auf dem ausgeklügelten wie
       fragilen Ökosystem der Mangrovenwälder beruht.
       
       Dona Onete hat ein anderes – ebenfalls gefährdetes – Naturwunder fast
       zweitausend Kilometer weiter nördlich von Recife inspiriert: die Wasserwelt
       am Amazonas-Delta, wo sie auf der anderen Seite der Stadt Belém geboren
       wurde und schon als Kind für die Flussdelphine gesungen hat. Mit einer
       ähnlich knarzigen Stimme wie Elza Soares singt die meist farbenprächtig
       kostümierte Diva nun auf ihrem neuem Album [17][„Rebujo“] mit ihrer Band
       unter der Leitung des Gitarristen Pio Lobato – ein Meister des
       Guitarrada-Stils – über Piranhas und Haie („Festa do Tubarão“),
       afrikanische Gottheiten („Tambor do Norte“) oder ein Kräuterbad, das böse
       Geister vertreibt („Mistura Pai d´Égua“).
       
       Unterlegt ist das mal mit Cumbia, Samba und kitschigen Brega, aber
       überwiegend mit lokalen Tanzrhythmen wie Carimbó und Bengúe, die so schön
       nach vorne rumpeln wie Ska oder Polka. Dona Onete war eigentlich
       Professorin für Geschichte und Amazonas-Studien und hat den größten Teil
       ihres Lebens die musikalische Vielfalt der Region erforscht. Als Sängerin
       entdeckt wurde sie so spät wie zufällig – sie war bereits 73 Jahre, als sie
       ihre erste Platte aufnahm. Dann tourte sie um die Welt. Nun steht sie als
       80jährige in den Weltmusikcharts ganz oben.
       
       Das Album ist eine Verneigung vor Mutter Erde und der großen Lebensquelle
       der Region, dem Amazonas. Das ist umso wichtiger, als zuerst im Sommer der
       Wald – oft durch absichtlich gelegte Brände – in Flammen aufging und
       aktuell die Küste des Nordostens auf tausenden von Kilometern von einer
       mysteriösen Ölpest heimgesucht wird. Dabei sei die Natur ein heiliger Ort,
       sagt [18][Dona Onete]. „Meine Energie, die kommt vom Fluss.“
       
       18 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=rdchSLoMOuo
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=Kw9ke8zt7XA
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=sreEWWmb0vE
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=BLttXUp8xyQ
   DIR [5] https://www.correio24horas.com.br/noticia/nid/a-fome-te-faz-forte-diz-elza-soares/
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=-09qfhVdzz8
   DIR [7] /Aktivistin-ueber-Brasilien-und-Bolsonaro/!5635033
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=HbBZcwqpGY0&list=PLog0RZe2REOT1eDE2CrVg1avuL-kVZ88S
   DIR [9] https://www.nzz.ch/feuilleton/liniker-die-transsexuelle-saengerin-lehrt-brasilien-den-soul-ld.1481916
   DIR [10] https://www.youtube.com/watch?v=QcQIaoHajoM
   DIR [11] https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_nCaJbOVCG5tPjzyGP7QrBiRkanGYICA1o
   DIR [12] https://www.brasildefato.com.br/2019/09/08/cota-nao-e-esmola-or-cantora-bia-ferreira-fala-sobre-musica-como-artivismo/
   DIR [13] https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_lcZqO-7Fd1FI8WbuXNRgJTT16jHRR3efw
   DIR [14] https://www.otempo.com.br/diversao/magazine/duda-beat-toda-mulher-tem-a-obrigacao-de-ser-feminista-1.2174986
   DIR [15] https://www.youtube.com/watch?v=-Laf-wVD9Ao
   DIR [16] https://www.youtube.com/watch?v=n8QJrkIghaY
   DIR [17] https://www.youtube.com/playlist?list=PLog0RZe2REORHqm9VWyeYu2PFD6n7cyFt
   DIR [18] https://worldmusiccentral.org/2019/08/23/artist-profiles-dona-onete/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
       ## TAGS
       
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