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       # taz.de -- Aus Le Monde Diplomatique: Schutzlos in Russland
       
       > Gewalt gegen Frauen wird in Russland nach wie vor als Privatangelegenheit
       > betrachtet. Die Justiz wankt dabei vor und zurück.
       
   IMG Bild: September 2018: Kristina, eine der drei Chatschaturyan-Schwestern, sitzt im Bezirksgericht Basmanny
       
       Der Fall der Chatschaturyan-Schwestern Krestina, Angelina und Maria
       beschäftigt ganz Russland. Am 27. Juli 2018 hatten die drei jungen Frauen,
       damals 19, 18 und 17 Jahre alt, [1][ihren Vater getötet], der sie jahrelang
       sexuell missbraucht und misshandelt hatte. Als bekannt wurde, dass den drei
       Schwestern eine Haftstrafe von 20 Jahren droht, startete die bekannte
       Bloggerin und Aktivistin Alena Popova eine Kampagne gegen sexuelle Gewalt,
       der sich Millionen Russinnen anschlossen. Sie schminkten ihre Gesichter mit
       Wunden und blauen Flecken und posteten die Fotos auf Instagram, Twitter und
       Vkontakte (Russlands „Facebook“).
       
       Laut der letzten [2][amtlichen Erhebung] sind in Russland 16 Millionen
       Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt. Bei dieser repräsentativen Umfrage
       unter 10 000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren gab eine von fünf Befragten
       an, mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt seitens ihres
       Partners erfahren zu haben. Dem Frauenzentrum Anna zufolge, der ersten,
       1993 gegründeten Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt, stirbt alle 63
       Minuten eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Das sind
       über 8300 Tote pro Jahr.
       
       Russland ist eines der wenigen Länder, in dem es kein adäquates Gesetz zum
       Schutz vor häuslicher Gewalt gibt. Von den 47 Mitgliedstaaten des
       Europarats haben allein Russland und Aserbaidschan 2011 nicht die
       Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
       und häuslicher Gewalt ratifiziert.
       
       Im Juli 2019 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
       diesbezüglich zum ersten Mal eine Strafe gegen Russland verhängt. Es soll
       20 000 Euro Entschädigung an Waleria Wolodina zahlen, die sich an den EGMR
       gewandt hatte, weil sie sich von ihrem Staat nicht ausreichend vor
       häuslicher Gewalt geschützt sah. In der Urteilsbegründung hieß es, die
       russische Regierung würde sich weigern, die Schwere des Problems
       anzuerkennen. Vier ähnlich gelagerte Fälle sind noch beim Europäischen
       Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.
       
       ## Hinterlassenschaft der Sowjetära
       
       Dieser blinde Fleck in der russischen Gesetzgebung gehört zu den
       Hinterlassenschaften der Sowjetära. Dabei hatte sich die UdSSR bei ihrer
       Gründung 1922 noch zur Avantgarde im Kampf um die Frauenrechte erklärt; die
       Bolschewisten führten schon 1917 das Frauenwahlrecht ein und legalisierten
       die Scheidung. Und 1920 war die Russische Sowjetrepublik der erste Staat,
       in dem Schwangerschaftsabbrüche offiziell erlaubt waren – eine
       Errungenschaft, die auf Alexandra Kollontai (1872–1952) zurückgeht, die
       1917 das Volkskommissariat für Sozialfürsorge leitete und sich – sie war
       damals selbst alleinerziehende Mutter – für die Einrichtung von
       Kindergärten, Volksküchen und Wäschereien einsetzte.
       
       In den 1930er Jahren nahm [3][Josef Stalin] (1878–1953) all diese
       Errungenschaften jedoch wieder zurück. „Die Frauenfrage und die sexuelle
       Frage galten offiziell als gelöst“, erklärt die Soziologin Mona Claro. „Die
       sowjetische Familie hatte von nun an stabil und fruchtbar zu sein.“ 1936
       wurden Schwangerschaftsabbrüche verboten und Scheidungen erheblich
       erschwert. Erst nach Stalins Tod wurden die Zügel wieder gelockert. Seit
       1955 waren Abtreibungen wieder legal, und zehn Jahre später wurden auch die
       Scheidungsverfahren erleichtert.
       
       Dennoch blieben die jeweiligen Machthaber besessen von der demografischen
       Frage. „Die sozialistische Gesellschaft legt großen Wert darauf, die
       Mutterschaft zu schützen und zu fördern sowie eine glückliche Kindheit zu
       garantieren“, heißt es in den 1968 verabschiedeten Grundlagen der Ehe- und
       Familiengesetzgebung. Kinderlose Paare konnten sich per amtlicher Erklärung
       einfach scheiden lassen. Doch sobald es Nachkommen gab, war die Ehe keine
       reine Privatangelegenheit mehr, aus der sich der Staat herauszuhalten
       hatte.
       
       Männer, die ihre Frauen schlugen, waren keine sexistischen Machos, sondern
       nur „ ‚schlechte Sowjets‘, die sich dem Alkohol hingeben oder die
       vorrevolutionäre Familientraditionen fortsetzen“, schreiben die
       Soziologinnen Françoise Daucé et Amandine Regamey. Und so ist es bis heute
       geblieben: „Für die Polizei ist Gewalt unter Partnern entweder ein Verstoß
       gegen die öffentliche Ordnung oder ein ‚Familienskandal‘, bei dem die
       Intervention der Ordnungskräfte in erster Linie eine Versöhnung
       herbeiführen soll.“ Vor allem, wenn Kinder da sind.
       
       ## Schutz der Familie, nicht der Frauen
       
       Nach der Wende kämpften die in den 1990er Jahren neu gegründeten
       Frauenorganisationen darum, Präventionsmaßnahmen gegen eheliche Gewalt
       westlichen Standards anzupassen. Unter internationalem Druck gab es in den
       1990er Jahren, 2012 und 2014 mehrere Anläufe zur Verabschiedung eines
       Gewaltschutzgesetzes. Im Juli 2016 machte die Regierungsmehrheit
       schließlich einen zaghaften Schritt nach vorn: Einen „Angehörigen“
       (Partner, Kind, Bruder oder Schwester) zu schlagen, stellte fortan einen
       erschwerenden Umstand dar (Artikel 116, Strafgesetzbuch).
       
       Allerdings zeigt die Verwendung des Begriffs „Angehöriger“ deutlich, wen
       der Gesetzgeber vor Gewalt schützen wollte: die Familie, nicht die Frauen.
       Gleichzeitig senkte das Gesetz die Strafen für Gewalttaten Unbekannter im
       öffentlichen Raum (außer im Wiederholungsfall) – was angesichts der
       überfüllten Gefängnisse in dem für sein strenges Strafrecht berüchtigten
       Land eine mehr aus der Not geborene Maßnahme war.
       
       Die entsetzte Reaktion der Kirche ließ nicht lange auf sich warten: Ein
       Unbekannter, der auf der Straße einen Passanten anfällt, soll keine
       Gefängnisstrafe fürchten müssen, während ein Vater, der sein Kind züchtigt,
       hinter Gittern landen kann? „Pflichtbewussten Eltern wird mit einer
       Haftstrafe von bis zu zwei Jahren gedroht, wenn sie in der Kindererziehung
       irgendeine Form von körperlicher Gewalt anwenden, und sei diese noch so
       maß- und sinnvoll“, empörte sich der Ausschuss für Familienangelegenheiten
       des russischen Patriarchats auf seiner Internetseite.
       
       Die Duma-Abgeordnete Jelena Misulina („Gerechtes Russland“) kämpfte an
       vorderster Front dafür, dass der Begriff des „Angehörigen“ aus dem
       „Ohrfeigengesetz“, wie sie es nannte, gestrichen wurde. Sie wollte lieber
       den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen beschränken oder Gebühren für
       Scheidungen erheben. Häusliche Gewalt, erklärte sie, sei „nicht das größte
       Problem in den Familien, sondern im Gegensatz fehlende Zärtlichkeit und
       mangelnder Respekt seitens der Frau. Wir Frauen sind schwache Wesen, wir
       sind nicht beleidigt, wenn man uns schlägt. Wenn ein Mann seine Frau
       schlägt, ist das nicht dieselbe Kränkung, als wenn ein Mann gedemütigt
       wird.“
       
       ## „Der gleiche Betrag wie für Falschparken“
       
       Der reaktionäre Widerstand erreichte sein Ziel: Jede Erwähnung eines
       „Angehörigen“ ist seit 2017 aus dem Strafrecht verschwunden. Der Kreml ließ
       durch seinen Sprecher verkünden, dass „bestimmte Handlungen innerhalb der
       Familie als ‚häusliche Gewalt‘ zu qualifizieren, letztlich bedeute, die
       Dinge in rechtlicher Hinsicht zu dramatisieren“. Weil die familiäre
       Verbindung zwischen Täter und Opfer nun keinen erschwerenden Umstand mehr
       darstellt, werden die Schläge der Ehemänner (außer sie ziehen einen
       Krankenhausaufenthalt nach sich) lediglich mit einer einfachen Geldstrafe
       von 5000 Rubel (umgerechnet etwa 70 Euro) geahndet.
       
       „Der gleiche Betrag wie für Falschparken oder Verstoß gegen das Rauchverbot
       an öffentlichen Orten“, empört sich Julia Gorbunowa, Verfasserin des
       [4][Human-Rights-Watch-Berichts] „ ‚Ich könnte dich töten und niemand würde
       mich aufhalten‘ “. Im Wiederholungsfall kann die Strafe – die meistens vom
       Familienkonto der Paare überwiesen wird – auf 30 000 Rubel (410 Euro)
       ansteigen, einschließlich zwei Wochen Haft.
       
       In Russland wird nicht wirklich etwas getan, um Frauen vor einem
       gewalttätigen Partner zu schützen. Die Anlaufstelle Kitesch für Opfer
       häuslicher Gewalt liegt etwa zwei Autostunden von Moskau entfernt. Seit
       ihrer Eröffnung 2013 beherbergt die private Einrichtung 30 bis 40 Frauen
       und deren Kinder – doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
       
       Nach offiziellen Angaben gab es in ganz Russland 2010 lediglich 22
       Wohnheime. Hinzu kommt, dass die Frauen in der Stadt, in der sie leben,
       untergebracht werden sollen, was für die Mehrheit von ihnen schlicht
       unmöglich ist. „Ich muss ständig Zufluchtsuchende abweisen“, klagt die
       Leiterin von Kitesch, Aliona Sadikowa. „Ich schicke sie ungern in kirchlich
       oder auch staatlich geführte Einrichtungen, weil die auf Versöhnung,
       Vergebung und Verständnis zwischen den Partnern setzen, was der komplett
       falsche Weg ist.“
       
       ## Die Polizei reagiert mit Spott und Nichtstun
       
       Die Reaktionen der russischen Polizisten bewegen sich dabei zwischen
       Leugnung und Verhöhnung, Spott und Nichtstun. Waleria Wolodina, die erste
       Russin, die sich deswegen an den Europäischen Gerichtshof für
       Menschenrechte gewandt hat, musste sich, als sie bei der Polizei die
       brutalen Übergriffe ihres Partners angezeigt hat, immer wieder anhören, es
       handele sich um einen „Streit unter Liebenden“.
       
       Außer dem Abgeordneten der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation
       Juri Sineltschikow, der während der Duma-Debatte um Artikel 116 daran
       erinnerte, dass „die russischen Traditionen nicht darin bestehen, die
       Frauen mit der Peitsche zu erziehen, wovon einige uns zu überzeugen
       versuchen“, protestierten nur wenige Parlamentarier. Andrei Issajew von der
       Regierungspartei Einiges Russland machte im Gegenteil klar, seine
       Parteifreunde und er würden „die Exzesse, die wir in Westeuropa beobachten,
       nicht kopieren“.
       
       Die traditionellen russischen Werte gegen den dekadenten Westen
       auszuspielen, der angeblich versucht, über ausländische Agenten seine
       Weltanschauung durchzusetzen, ist schon seit Jahren ein beliebter Topos in
       Russland. Die Elternaktivistin Wera Nikolajewna ist sich beispielsweise
       ganz sicher: Wäre der Begriff „Angehöriger“ nicht aus Artikel 116
       gestrichen worden, würden „Eltern wegen eines Klapses auf den Po ins
       Gefängnis geschickt, wie es in Europa der Fall ist. Dann wären unsere
       Kinder von schwulen europäischen Paaren adoptiert worden.“
       
       Keine Rolle spielt, dass Frauen weiterhin ungeschützt ihren brutalen
       Ehemännern ausgeliefert sind. Oder dass selbst der Innenminister Wladimir
       Kolokolzew im Dezember 2017 eingestand, dass eine Geldstrafe wohl keine
       wirksame Prävention gegen häusliche Gewalt sei.
       
       Inzwischen wurden die Chatschaturyan-Schwestern bis zum 28. Dezember aus
       der Untersuchungshaft in den verschärften Hausarrest – ohne Zugang zu
       Telefon und Internet – entlassen. Vielleicht wird dieser Fall am Ende dazu
       beitragen, dass sich die Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt in Russland
       ändert.
       
       (Aus dem Französischen von Uta Rüenauver)
       
       23 Nov 2019
       
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   DIR [1] /Russische-Schwestern-toeteten-Vater/!5612782
   DIR [2] https://www.gks.ru/
   DIR [3] /Stalin/!t5043621/
   DIR [4] https://www.hrw.org/report/2018/10/25/i-could-kill-you-and-no-one-would-stop-me/weak-state-response-domestic-violence
       
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   DIR Audrey Lebel
       
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