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       # taz.de -- Die Zehnerjahre in der Kultur: The music never stopped
       
       > Mit dem Streaming-Boom ist in den Zehnern eine neue Form des Musikhörens
       > entstanden. Auch die Ästhetik und Produktion haben sich gewandelt.
       
   IMG Bild: Gewinner des Modells Streaming sind bislang vor allem Superstars und große Musiklabels
       
       Als ich kürzlich aus einer Laune heraus [1][Kate Bushs] [2][„Wuthering
       Heights“] bei YouTube abspielte – wahrscheinlich, weil man den Song für die
       Seelenpflege einfach gelegentlich hören sollte –, da wurde mir eine
       beängstigend perfekt auf mich zurechtgeschnittene Playlist erstellt. Kurz
       nach der Eurythmie-Einheit mit der britischen Pop-Queen (im Video-Clip zu
       sehen) landete ich bei „Bela Lugosi’s Dead“ von Bauhaus, dann bei „Teenage
       Riot“ von [3][Sonic Youth], schließlich bei Television.
       
       Zuvor war ich bei Kate Bush noch ein bisschen im Kommentar-Thread hängen
       geblieben; jemand schrieb dort, er denke immer an seine verstorbene
       Schwester bei diesem Song. Leute aus aller Welt sendeten ihm daraufhin
       „hugs“ und „love“, tauschten sich darüber aus, wie ergreifend und
       einzigartig dieser Song ist.
       
       Die Zehnerjahre, das kann man so sagen, haben mit dem Boom des Streamings
       eine neue Form des Musikhörens hervorgebracht. Der algorithmen- und
       linkgeleitete Musikkonsum ist gängig geworden. Auch die Musikökonomie, die
       Ästhethik, und die Produktionsbedingungen haben sich dadurch verändert.
       [4][„The music never stopped“], diese alte [5][Grateful-Dead]-Zeile ist
       Realität geworden.
       
       Der Stream kennt zwar Unterbrechungen – das ständige Durch- und
       Weiterklicken –, aber er kennt keine Pausen. Wenn der eine Song endet,
       bringt der Algorithmus den nächsten hervor. Kulturpessimisten sorgen sich,
       diese Entwicklung sei gleichbedeutend mit dem Ende des selbstbestimmten
       Musikentdeckens – was in gewisser Weise stimmt. Aber wäre das so schlimm?
       
       ## Spotify startete mit niedlichen 7 Millionen Nutzern
       
       Zunächst einmal ein paar Zahlen, die belegen, wie sehr sich der Musikmarkt
       in nur einer Dekade gewandelt hat. Zum Beispiel Spotify: Der heutige
       Streamgigant hatte 2010 [6][niedliche 7 Millionen Nutzer] weltweit,
       gegenwärtig liegt allein die Zahl der zahlenden Nutzer bei rund 113
       Millionen.
       
       Bei einer [7][Analyse der global führenden Musikmärkte] durch die
       International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) im Jahr 2018
       gaben 86 Prozent aller Hörer:innen an, Musik über Streamingdienste
       abzurufen – die meiste Zeit wird bei YouTube verbracht (47 Prozent). Für
       den [8][deutschen Markt] sind zwei Zahlen interessant: Im Bereich der
       digitalen Verkäufe hatte das Streaming 2009 einen Marktanteil von gerade
       mal 8,6 Prozent – im Jahr 2018 lag er bei 81,7 Prozent.
       
       Gewinner dieser Entwicklung sind bislang neben dem Musikkonsumenten [9][die
       Superstars und die großen Labels], die durch Streaming nennenswerte
       Einnahmen erzielen. Einen fairen Streamingdienst zu etablieren ist nicht
       gelungen. Vergleichsweise künstlerfreundliche Angebote wie Deezer konnten
       sich nicht durchsetzen; grundsympathische Roots-Plattformen wie Bandcamp
       bieten zwar eine Alternative, haben aber keinen Streamingdienst mit den
       Funktionen von Spotify oder Apple entwickelt.
       
       Stattdessen ist Spotify zum alles dominierenden Pop-Discounter geworden,
       der [10][mit unseren Daten mehr handelt] als mit Musik. Wo das Geld landet,
       das die Musikindustrie nach dem vorherigen Krisenjahrzehnt inzwischen
       immerhin wieder einspielt, fragt sich wohl so mancher Künstler. Denn die
       Beträge, die pro Stream beim Künstler eingehen, sind eher Almosen.
       
       ## Ökonomisch ist Streaming fragwürdig
       
       Laut Digital Music News waren es zuletzt durchschnittlich gerundete 0,007
       Euro/Stream bei Apple Music, 0,004 Euro bei Spotify und 0,0006 Euro bei
       YouTube. Bei 50.000 Abrufen käme ein Künstler demnach auf 350 Euro (Apple),
       200 Euro (Spotify) bzw. 30 Euro (YouTube). Bei einem Download hingegen oder
       bei einer CD-Single kommen oder kamen vom Verkaufspreis etwa zwischen 13
       bis 20 Prozent beim Künstler an – 50.000 Downloads könnten demnach 6.500
       Euro aufwärts in die Kasse spülen. Diese Zahlen lassen sich zwar nicht eins
       zu eins gegenüberstellen (weil ja ein Track auch mehrfach von einer Person
       gestreamt werden kann), spiegeln aber trotzdem die Diskrepanz.
       
       Ökonomisch ist das Modell Streaming also fragwürdig (im Übrigen genauso wie
       die Einigung, die die Verwertungsgesellschaft Gema mit YouTube 2016
       erzielte und über deren Details die Öffentlichkeit so gut wie nichts weiß),
       aber auch ästhetisch hat sich durch die Klicktokratie im Musikbusiness
       einiges verschoben. Songs werden bereits auf Spotify-Standards hin
       komponiert.
       
       Spotify zählt einen angespielten Track erst nach Überschreiten der
       30-Sekunden-Marke als Abruf zählt. Die ersten 30 Sekunden müssen also
       knallen, zu Beginn des Stücks müssen entscheidende Motive schon auftauchen,
       der Kunde muss getriggert werden. Wobei sich die
       Mainstream-Massenproduktion vorher eben am Radio-Airplay orientiert hat –
       und nun an der Streambarkeit.
       
       Jenseits des Massenmarkts gibt es längst Gegenbewegungen. So wies zum
       Beispiel Popkritiker Simon Reynolds gerade im Guardian darauf hin, dass all
       die vielen Plattformen mit den schier unendlichen Möglichkeiten, sich
       Kultur anzueignen, zu neuen Subkulturen, zu einer Entstehung von
       Mikro-Szenen und Nischen geführt hätten. Und wenn einem Algorithmen dabei
       helfen, in diese Nischen vorzudringen – umso besser!
       
       ## Vinyl als Pendant zum Buch
       
       Auch „das Ende des Albums“, wie es angesichts des vermehrten „Droppens“ von
       einzelnen Tracks prophezeit wurde, ist nicht wirklich eingetreten. Es gibt
       immer noch viele Alben, die sich nur aus der Gesamtheit erschließen (man
       denke etwa an die jüngsten Alben von [11][Kendrick Lamar], [12][Solange]
       oder [13][Tocotronic]). Zudem kann man sich vorstellen, dass – analog zu
       Lesekreisen und zum Slow Reading in der Literatur – auch ein tieferes,
       aufmerksameres Hören wieder interessant wird.
       
       Dass die Vinylverkäufe in den Zehnerjahren insgesamt wieder deutlich
       angestiegen sind, könnte ein Indiz dafür sein. Insgesamt führt die ständige
       Online-Verfügbarkeit der halben Popgeschichte wohl dazu, dass noch mehr
       Musik gehört wird (laut IFPI-Erhebung verbringen Nutzer im Schnitt 17,8
       Stunden/Woche mit Musik). Auch wird vermutlich so viel Musik ausgetauscht
       wie nie zuvor – und sich darüber ausgetauscht. Siehe Kate Bush.
       
       Was die Zukunft bringt? Die Klimafrage wird wohl auch im Streaming
       ankommen, man wird sich Gedanken machen müssen über den Stromverbrauch,
       insbesondere der vielfressenden Videoformate. Ansonsten könnten die
       Algorithmen selbst in Zukunft noch mehr Musik machen als dies bereits der
       Fall ist.
       
       Auch hier wird sowohl für den Massenmarkt (zum Beispiel automatisch
       generierte Ambient-Musik) als auch im Underground (KI-Experimente) schon
       viel ausprobiert. Weitere Versuche, Fairtrade-Streaming-Plattformen zu
       entwickeln, wären wünschenswert – im kommenden Jahrzehnt hoffentlich mit
       einem zufrieden stellenderen Ergebnis.
       
       31 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kate-Bush-Flashmob-in-Kreuzberg/!5517753
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=-1pMMIe4hb4
   DIR [3] /Autobiografie-der-Sonic-Youth-Bassistin/!5015386
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=bQyci8_54gU
   DIR [5] /Tribute-Compilation-fuer-Grateful-Dead/!5319420
   DIR [6] https://www.musikindustrie.de/fileadmin/bvmi/upload/06_Publikationen/DMR/ifpi_digital-music-report-2010.pdf
   DIR [7] https://www.ifpi.org/news/IFPI-releases-2018-music-consumer-insight-report
   DIR [8] https://www.musikindustrie.de/publikationen/musikindustrie-in-zahlen-im-ueberblick
   DIR [9] https://www.derstandard.de/story/2000102046620/das-spotify-problem-der-musiker-untergehen-im-strom-des-erfolgs
   DIR [10] https://www.sueddeutsche.de/kultur/spotify-buch-forscher-nutzerdaten-1.4412193
   DIR [11] /Auszeichnung-geht-an-Rapper/!5499096
   DIR [12] /Solange-Konzert-in-Hamburg/!5622940
   DIR [13] /Tocotronic-Konzert-in-Berlin/!5496258
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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