# taz.de -- Feministischer Protest aus Chile: Von Valparaiso in die Welt
> Die chilenischen Initiatorinnen der inzwischen global bekannten
> Performance sind überrascht. Mit so einer Verbreitung hätten sie nicht
> gerechnet.
IMG Bild: Eine vermummte Frau zeigt den dritten Finger bei der performance einer feministischen Gruppe
Santiago de Chile taz | „El Violador Eres Tu“ – der Vergewaltiger bist du –
rufen mehr als 10.000 schwarzgekleidete Frauen vor dem Estadio Nacional in
Chiles Hauptstadt Santiago und zeigen mit ausgestrecktem Arm und
Zeigefinger auf ihre Zuschauer. Es ist die bisher größte Aufführung der
Performance von „Un Violador En Tu Camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem
Weg), die sich innerhalb der letzten Wochen [1][in der ganzen Welt
verbreitet] hat.
[2][Buenos Aires], [3][Mexiko-Stadt], [4][Berlin], [5][Paris,] [6][Madrid]
und [7][New York] sind nur einige der Städte, in denen Frauen mit der
feministischen Performance aus Chile auf Vergewaltigungen, Frauenmorde und
Machtmissbrauch durch den Staat aufmerksam machen wollen.
In Santiago haben sich am Mittwoch Frauen jeden Alters zusammengefunden.
Die 79-jährige Nirma Cruz ist mit ihrer Tochter zum Estadio Nacional
gekommen. Sie hat die Pinochet-Diktatur (1973-1990) miterlebt und erinnert
sich noch daran, dass in dem Fußballstadion Regimegegner gefoltert und
getötet wurden.
„Hier heute so viele Frauen zu sehen, macht mich froh und gibt mir Kraft.
Als ich das Lied der Performance zum ersten Mal gehört habe, habe ich
geweint, weil es mich so berührt hat“, sagt sie. „Die Leute dachten, Chile
sei eine Oase, aber wir waren unterdrückt. Jetzt ist die Bombe geplatzt und
niemand hält uns mehr auf.“
In Chile lehnen die Menschen sich seit über sechs Wochen gegen die soziale
Ungleichheit und das [8][neoliberale Wirtschaftssystem] auf. Die Regierung
hat mit [9][Gewalt und Repression] auf die Proteste reagiert.
„Diese Performance und der Feminismus hat unserer Bewegung neue Kraft
gegeben, sagt die 41-jährige Karen Duarte. Auch sie ist mit ihrer Mutter
hier. „Wir Frauen müssen dieses Land verändern. Wir wollen nicht mehr unter
der Ordnung der Männer leben. Währen der Diktatur wurden Frauen gefoltert
und vergewaltigt und heute immer noch. Hier geht die Diktatur weiter“, sagt
die 61-jährige Norma Villaroel.
„El Estado opresor es un macho violador“ heißt es in der Performance – der
Unterdrückungsstaat ist ein Macho, der vergewaltigt. Die Initiatorinnen der
mittlerweile weltweit bekannten Aktion sind Dafne Valdés, Paula Cometa,
Sibila Sotomayor und Lea Cáceres vom [10][Kollektiv LASTESIS].
Alle vier sind 31 Jahre alt und leben in der Hafenstadt Valparaíso. Dort
haben sie die Performance am 20. November zum ersten Mal aufgeführt. „Un
Violador En Tu Camino“ ist eigentlich Teil eines längeren Theaterstücks, an
dem die vier Frauen seit Beginn dieses Jahres arbeiten.
„Das Ziel unseres Kollektivs ist es, die Thesen feministische Theorie durch
visuelle und performative Formate in die Praxis zu übertragen“, sagt Paula
Cometa. Alles was sie sagt, stehe stellvertretend für das Kollektiv, darauf
besteht sie.
## Vergewaltigung als Strafe
Sie ist Designerin und studiert gerade Geschichte auf Lehramt. Valdés und
Sotomayor haben Schauspiel studiert und Cáceres ist Kostümdesignerin. „El
Violador En Tu Camino“ sei inspiriert von der argentinischen Anthropologin
[11][Rita Segato] und von der italienischen Feministin [12][Silvia
Federici]. „Federici zeigt auf, dass der Kapitalismus auf der Versklavung
der Frauen basiert. Segato demystifizert den Vergewaltiger und stellt klar,
dass er aufgrund einer sozialen Machtstruktur vergewaltigt und nicht um
seine sexuelle Lust zu befriedigen. Die Vergewaltigung ist eine Strafe für
die Frauen und sexuellen Minderheiten, die nicht der Norm entsprechen.
Deshalb wird eine Frau vergewaltigt, die einen Minirock trägt, aber auch
ein homosexueller Mann“, sagt sie.
„Es war nicht meine Schuld, egal wo ich war, egal wie ich angezogen war“,
rufen die Frauen bei der Performance am Estadio Nacional. „Der
Vergewaltiger bist du! Die Bullen! Die Richter! Der Staat! Der Präsident!“
Bei jedem Wort gehen sie in die Knie und nehmen die Hände hinter den Kopf.
„Dieser Teil der Choreographie ist daran angelehnt, dass die Frauen auf der
Polizeiwache gezwungen werden, sich auszuziehen und Kniebeugen zu machen“,
sagt die 29-jährige Francisca Echeverría, die mit ihren Freundinnen an der
Performance teilnimmt.
Das [13][Nationale Institut für Menschenrechte] hat seit dem Beginn des
Aufstands in Chile am 18. Oktober 106 Fälle von sexueller Gewalt und
Missbrauch durch staatliche Akteure registriert. „Die Frauen, die sich an
uns gewendet haben, wurden auf der Polizeiwache gezwungen, sich zu
entkleiden, sie wurden mit Waffen missbraucht und einige wurden
vergewaltigt“, sagt Natalia Bravo, Mitglied des Verbands Feministischer
Anwältinnen ABOFEM. „Wir hätten nie gedacht, dass wir in Zeiten der
Demokratie solche Fälle registrieren würden.“
## Versteckte Bezüge in der Choreografie
„Das Patriarchat ist ein Richter, der uns bei der Geburt verurteilt. Und
unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst: Die Straflosigkeit des
Mörders, das Verschwindenlassen, die Vergewaltigung“, heißt in der
Performance. „Wir haben die Choreographie und den Text an die aktuelle
Situation in Chile, die Menschenrechtsverletzungen und die Gewalt
angepasst,“ sagt Cometa. „Die Choreographie zeigt die verschiedenen
Momente, die wir als Frauen in unseren Körpern erleben von dem Zeitpunkt,
zu dem wir sexuelle Gewalt erleben bis wir Anzeige erstatten.“
In der letzten Strophe der Performance wird ein Teil der Hymne der
chilenischen Polizei zitiert: „Duerme tranquila niña inocente, sin
preocuparte del bandolero, que por tus sueños dulce y sonriente vela tu
amante carabinero“ – Schlafe ruhig unschuldiges Mädchen, ohne dich vor dem
Banditen zu fürchten, dein geliebter Polizist sorgt sich um deinen süßen
Schlaf. „Dieser Teil soll ironisch sein und zeigen, dass die Polizisten
keine Opfer beschützen, sondern sie stattdessen fragen, welche Kleidung sie
trugen und ihre Aussagen anzweifeln. Das ist eine doppelte Viktimisierung,
sagt Cometa. „Es gibt keine Gerechtigkeit für Opfer sexueller Gewalt.“
Dass die Performance so viral gehen und auf der ganzen Welt aufgeführt
werden würde, hat die Frauen aus dem Kollektiv LASTESIS überrascht. „Wir
glauben, dass sie viral gegangen ist, weil die Gewalt global ist“, meint
Cometa.
„Wir haben ursprünglich nur eine Performance gestaltet, kein Protestlied.
Die Frauen haben es dazu gemacht. Was passiert ist, geht weit über unser
Kollektiv hinaus. Es ist ein globales Kollektiv entstanden, das für die
Veränderungen kämpft, die wir verdienen.“
Darüber sind sich auch die Frauen am Estadio Nacional einig. „Die
Revolution, die wir in Chile erleben, stellt die Machtstrukturen in Frage
und eine davon ist das Patriarchat. Es gibt eine globale Krise und das hier
ist erst der Anfang“, sagt Francisca Echeverría. Ihre Freundin Ignacia
Navarrete fügt hinzu: „Kapitalismus und Patriarchat gibt es überall. Alle
Staaten sind Machos, die vergewaltigen. Das vereint uns Frauen auf der
ganzen Welt.“
7 Dec 2019
## LINKS
DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=CLHTAymEYzs
DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=re1cvxJt94U
DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=mX4Vq0BbV10
DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=JB8-2XWN1NY
DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=v3nXttm_OoU
DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=5ENxnTDFuig
DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=a7_VPvfvMBs
DIR [8] /Wissenschaftler-ueber-Proteste-in-Chile/!5635718
DIR [9] /Proteste-in-Chile/!5642451
DIR [10] https://www.instagram.com/lastesis/
DIR [11] https://missy-magazine.de/blog/2018/04/11/wir-muessen-unordnung-schaffen/
DIR [12] /Kommentar-Schaeubles-Europapolitik/!5216410
DIR [13] https://www.indh.cl/
## AUTOREN
DIR Sophia Boddenberg
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