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       # taz.de -- Stefanie de Velascos „Kein Teil der Welt“: Eine Überlebende des Harmagedon
       
       > Vom Rheinland in die Ex-DDR – Velasco erzählt von einer Jugend bei den
       > Zeugen Jehovas. Aktuell streikt die junge Autorin wegen der Klimapolitik.
       
   IMG Bild: Im Klimastreik: Die Schriftstellerin Stefanie de Velasco vor der Akademie der Künste in Berlin
       
       „Es war kalt, der Wind pfiff über den Pariser Platz und meine Füße froren
       wie von unten aus. Ich musste lachen, weil es sich plötzlich alles anfühlte
       wie früher bei den Zeugen Jehovas. Ich in Mission und diese Kälte, die von
       unten nach oben stieg.“ Das schreibt Stefanie de Velasco in ihrem
       Klimastreiklogbuch, das sie seit dem 11. November auf der Seite des Verlags
       Kiepenheuer & Witsch führt.
       
       Die Autorin, die bei KiWi gerade ihren zweiten Roman „Kein Teil der Welt“
       (432 Seiten, 19 Euro) veröffentlichte, befindet sich aktuell im
       Klimastreik. Werktags zwischen 9 Uhr und 13 Uhr sitzt sie nun für
       unbestimmte Zeit vor der Akademie der Künste in Berlin, sofern sie nicht
       gerade in einer anderen Stadt eine Lesung hat. Sie ist dort mit Hund,
       Diddl-Decke und einem Schild „German Writer on Climate Strike“ anzutreffen.
       
       Dabei saß die 41-Jährige gerade noch an ihrem neuen Roman. Doch das habe
       sich etwa so „sinnvoll angefühlt wie Glückskekse zu betexten“, sagt sie.
       Denn in Zeiten, in denen die Realität durch den Klimanotfall so
       überwältigend sei, ergebe es für sie keinen Sinn, einfach weiter Romane zu
       schreiben.
       
       ## Die Zeugen Jehovas sprechen von „Harmagedon“
       
       Mit dem Thema Weltuntergang kennt de Velasco sich aus, ist sie doch die
       ersten 15 Jahre ihres Lebens bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen.
       „Harmagedon“ nennt die Glaubensgemeinschaft die Apokalypse, die alle
       Ungläubigen auslöschen und nur denjenigen, die in der „Wahrheit“ leben, ein
       paradiesisches Dasein auf Erden beschert. In ihrem Roman „Kein Teil der
       Welt“ beschreibt die Autorin das Leben in dieser Parallelwelt.
       
       Anhand der Protagonistinnen Esther und Sulamith, erhalten die Leser*innen
       einen Einblick in den Alltag dieses in sich geschlossenen und doch mitten
       unter uns existierenden Kosmos der Zeugen Jehovas.
       
       Esther, deren Perspektive den Roman leitet, zieht über Nacht mit ihren
       Eltern aus dem rheinländischen Geisrath nach Ostdeutschland. Peterswalde
       heißt der fiktive Ort, an dem der Vater der Protagonistin aufgewachsen ist
       und wo die Familie jetzt, kurz nach der Wende, eine neue Gemeinde aufbauen
       möchte. „Es ist ja so, dass die Zeugen Jehovas in der DDR verfolgt wurden
       und es sehr viele gab, die nach dem Mauerfall in den Osten gegangen sind
       und dort Gemeinden aufgebaut haben mit den Glaubensbrüdern vor Ort, die bis
       dahin im Untergrund tätig waren“, sagt Stefanie de Velasco im Gespräch mit
       der taz.
       
       ## Lehnen den nicht von Gott regierten Staat ab
       
       Genau dieser weltliche Aspekt habe sie gereizt, denn er erzähle viel über
       die Zeugen Jehovas und deren Verbindung mit der deutschen Geschichte.
       Literatur zur Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR, aber auch während
       des Nationalsozialismus gebe es kaum. Die Opfergruppe sei ziemlich
       unterrepräsentiert. „Wenn ich mit Leuten darüber rede, habe ich das Gefühl,
       die hören davon zum ersten Mal. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass
       die Zeugen Jehovas einen nicht von Gott regierten Staat ablehnen.“
       
       Diesen Gottesstaat, in dem Esther und ihre Eltern leben, gilt es nun in der
       neuen Heimat auszuweiten. Der Roman beschreibt eine bedrückende
       Nachwendestimmung – die Luft riecht nach Kohle, der Supermarkt ist noch
       nicht eröffnet. Es ist konstant kalt, die Menschen wirken zwar freundlich,
       aber auch sehr skeptisch.
       
       Dennoch gibt es einige, denen das Versprechen auf eine neue Gemeinschaft –
       ein System, das ihr Denken reguliert – gerade recht zu kommen scheint.
       „Darüber zu erzählen, wie die Familie in dieses ostdeutsche Dorf geht und
       dort auf eine traumatisierte und sich gleichzeitig im Aufbruch befindende
       Gesellschaft trifft, das hat mich wahnsinnig interessiert“, sagt die
       Autorin.
       
       Ihre Erzählerin, die bisher brav und folgsam war, die Lehre der Zeugen
       Jehovas nicht hinterfragt hat, sondern ihr stets gefolgt ist, bekommt hier
       im neuen Deutschland sukzessive Zweifel an ihrem Glauben. Die eisernen
       Regeln, die ihr Verhalten, ihren Umgang, sogar ihre Kleidung bestimmen,
       beginnen sie zunehmend zu belasten. Das Warten auf eine paradiesische Welt
       fühlt sich immer sinnloser an für die Jugendliche. Und doch scheint sie
       nicht loszukommen von dem, was ihr bisheriges Leben bestimmt.
       
       ## Es war die Wahrheit, weil sie nichts anderes kannte
       
       „Ich hatte mir, ehrlich gesagt, über nichts, was in der Bibel stand,
       Gedanken gemacht. Ich nahm es hin und hielt es für die Wahrheit, weil ich
       es nicht anders kannte, und selbst wenn ich mir so viele Fragen gestellt
       hätte wie Sulamith, ich hätte mich nie getraut, sie auszusprechen“, heißt
       es an einer Stelle in dem Buch. Sulamith ist Teil von Esthers altem Leben
       in Westdeutschland und diejenige, die zuerst beginnt, das Glaubenssystem
       der Zeugen Jehovas in Frage zu stellen.
       
       Sie möchte nicht mehr eingesperrt sein in dieser Parallelwelt, in der die
       einzige Hoffnung ein Leben nach dem eigentlichen ist. In der man keine
       Geburtstage feiert und kaum Kontakt zu Menschen außerhalb der eigenen
       Wahrheit pflegt. „Wir fuhren nicht auf Klassenfahrten, nahmen auch an
       keinen Krippenspielen, Karnevalspartys oder Martinsumzügen teil. […] Unser
       Platz war nicht in dieser Welt.“
       
       Als Sulamith sich in einen Jungen aus ebendieser Welt verliebt, wächst die
       Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der Gemeinschaft. Die Zweifel
       verdichten sich zu einer Glaubenskrise, aus der selbst die Freundschaft zu
       Esther sie nicht mehr herauszuholen vermag. „Sulamith hatte recht. Es hatte
       sich nie angefühlt, als seien wir etwas wert. Unsere Träume, unsere Wünsche
       und Zweifel interessierten niemanden, im Gegenteil. Sie wurden als
       Bedrohung für die Gemeinschaft gesehen.“
       
       ## Das Universum der Zeugen Jehovas
       
       Ob die Autorin Stefanie de Velasco bei ihrem Ausstieg vor 25 Jahren
       ähnliche Gedanken umgetrieben haben, lässt sich nur mutmaßen.
       Autobiografisch ist der Roman jedenfalls nicht, betont sie. Ihr sei es
       wichtig gewesen das Universum der Zeugen Jehovas zu schildern, nicht ihre
       eigene Geschichte zu fiktionalisieren.
       
       Dennoch gelingt es ihr außergewöhnlich gut, sowohl die Zerrissenheit
       Sulamiths als auch die schleichenden Zweifel Esthers literarisch
       abzubilden. Denn erst fernab von ihrem gewohnten Umfeld, in der tristen
       Einsamkeit, die sie in diesem Peterswalde überfällt, ist es Esther möglich,
       sich differenzierter mit ihrer Religion auseinanderzusetzen.
       
       Hier begegnen sich die beiden Erzählstränge und werden eins. Mit Sulamiths
       Weggang aus der Gemeinschaft, endet auch Esthers Zeit im (ebenfalls
       fiktiven Ort) Geisrath – beginnt die eigene Reise aus der paradiesischen
       Vorstellung hinein in die reale Welt.
       
       „Viele glauben, man geht bei den Zeugen Jehovas weg und ist danach frei und
       es gehe einem gut. Aber oft fangen die Probleme dann erst an, wenn man
       diese Gemeinschaft verlässt – weil man ja gar nicht weiß, wie es ist, in
       dieser Welt zu leben.“ Wie es ist, hier zu leben und darüber zu schreiben,
       hat de Velasco gelernt.
       
       ## Sie führt ein Klimalogbuch
       
       Auch, dass wir an der Lebensweise, wie wir sie kennen, etwas ändern müssen.
       Denn zu hoffen, irgendeine Übermacht – ob spirituell oder staatlich – werde
       es schon richten, komme ihr mittlerweile ebenso verrückt vor wie die Lehre
       der Zeugen Jehovas, schreibt sie in ihrem Klimalogbuch: „Ich bin von
       Menschen umgeben, die den bevorstehenden Klimakollaps zwar nicht leugnen,
       aber zumindest nicht so interpretieren, als sei er eine tatsächliche
       Bedrohung.“
       
       Als Imaginationskrise bezeichnet sie diese Blockade, die omnipräsenter
       werde. Und die, wenn wir sie denn auflösen, ernsthafte Zukunftsängste mit
       sich bringe. Genau diesen setzt sich de Velasco nun auf unbestimmte Zeit
       aus, will ihre Privilegien runterfahren, verzichtet auf einen neuen
       Buchvertrag und bangt dabei um ihre Existenz – auch die literarische: „Denn
       wenn ich mich weigere, mir vorzustellen, welch unermessliches Leid auf uns
       zukommt, macht meine ganze Arbeit überhaupt keinen Sinn mehr.“
       
       Das sei dann wie Warten auf das Harmagedon.
       
       10 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophia Zessnik
       
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