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       # taz.de -- Diskussion um Sterbehilfe: Das Recht auf einen Notausgang
       
       > Im Februar entscheidet das Verfassungsgericht über eine Beschwerde zur
       > Sterbehilfe. Sollen Schwerkranke ein Recht auf professionelle Hilfe
       > haben?
       
       Die Berge leuchteten rot in der untergehenden Sonne Norwegens, die Hunde
       zogen Schlitten durch die schneebedeckte Landschaft. In einem saß Anja
       Clement warm eingepackt, zugedeckt, ein Begleiter hielt sie von hinten
       fest. „Wir waren überglücklich“, sagt Anja Clement, 55, heute. „Ich reise
       gerne. Ich suche immer neue Wege, wie ich mit der Krankheit umgehen kann.“
       
       Während sie erzählt, sitzt sie in ihrem Rollstuhl in ihrem Wohnzimmer in
       Dessau-Roßlau. Durch die Fenster fallen Sonnenstrahlen. An der Wand hängen
       Fotos: ein blühender Garten, Abendlichter in der Stadt, ein lachender
       Junge, ihr Sohn. „Ich lebe ganz gut“, sagt Clement. „Und ich würde länger
       durchhalten, wenn ich wüsste, ich kann selbst entscheiden, wann ich gehe.“
       
       Wenn Clement spricht, dolmetscht eine Freundin, eine Assistentin oder der
       Ehemann. Die Lähmung hat einen Teil der Zungenmuskulatur erfasst. Clement
       leidet seit 17 Jahren unter amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer
       degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der der Körper
       nach und nach gelähmt wird. Die studierte Architektin kann nur noch die
       rechte Hand ein wenig bewegen und steuert damit den Rollstuhl und eine Maus
       am Computer. „Die Selbstbestimmung zu behalten“, sagt Clement, „das ist das
       Wichtigste“.
       
       Wenn sie nicht mehr sprechen, aber immer noch klar denken kann, wenn die
       Krankheit weiter fortgeschritten ist, dann wäre es gut, eine Wahl zu haben,
       sagt Clement. Eine Wahl, am Computer nur noch über Augenbewegungen ein „Ja“
       anklicken zu können und damit einen Prozess der Sterbehilfe einzuleiten,
       vielleicht eine Infusion fließen zu lassen mit einem vom Arzt
       verschriebenen todbringenden Medikament. „Diese Möglichkeit zu haben, das
       wäre eine Beruhigung“, sagt Clement.
       
       Doch das Gesetz erlaubt das nicht. Clement hat derzeit nur die Wahl, dann,
       wenn sie künstlich ernährt oder beatmet werden muss, die Behandlung
       abzulehnen und dadurch zu sterben. Ein vom Patienten gewollter
       „Behandlungsabbruch“ ist legal.
       
       [1][Eine ärztliche Beihilfe zum Suizid hingegen ist es nicht.] Der
       [2][Paragraf 217] im Strafrecht, der seit Ende 2015 in Kraft ist, macht
       jede Beihilfe zum Suizid strafbar, wenn sie „geschäftsmäßig“ erfolgt. Gegen
       den Paragrafen haben Schwerkranke, Palliativmediziner, Sterbehilfevereine,
       vertreten durch ihre RechtsanwältInnen, mehrere Beschwerden vor dem
       Bundesverfassungsgericht eingelegt. Die Beschwerdeführer wollen, dass der
       Paragraf 217 gekippt oder zumindest verändert wird, weil er gegen das
       Grundgesetz verstoße: gegen die Menschenwürde, das Selbstbestimmungsrecht,
       die Gewissensfreiheit und die Berufsfreiheit.
       
       Verfechter des Sterbehilfeverbots befürchten, dass nach einer Legalisierung
       ein Damm brechen könnte: Wären die Wartezimmer voller hilfesuchender
       depressiver Schwerkranker? Das Urteil soll am 26. Februar verkündet werden.
       
       Wenn das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen kippt, landet der Ball
       wieder beim Gesetzgeber. Die Bundesregierung bekäme den Auftrag, ein neues
       Gesetz zur Sterbehilfe zu schaffen. Eines, das die Sterbehilfe der Ärzte
       nicht kriminalisiert, aber vielleicht doch Grenzen zieht.
       
       Wo sollen diese Grenzen liegen? Wer soll die Möglichkeit der ärztlichen
       Hilfe zum Suizid bekommen und wer nicht? Oder ist diese Frage ethisch
       vermessen, weil Außenstehende niemals das Leid eines Schwerstkranken
       wirklich nachvollziehen können?
       
       Diverse Gesetzesvorschläge und unlängst auch ein Eckpunktepapier einer
       FDP-Gesundheitsexpertin nannten als Voraussetzungen einer ärztlichen
       Beihilfe zum Suizid immer eine tödliche, unheilbare Erkrankung, das
       „freiverantwortliche Handeln“ der Betroffenen und deren
       „Einwilligungsfähigkeit“. Es gibt aber schwerste Leiden, die nicht zum Tod
       führen, es gibt todbringende Krankheiten, die lange im Voraus
       diagnostiziert werden können und mit zunehmender Einschränkung und Demenz
       einhergehen.
       
       Jörg Littmann-Stöwer, 63, Informatiker, weiß seit sechs Jahren, dass er die
       Huntington-Krankheit hat. „Früher bin ich dauernd herumgereist als
       Informatiker, habe viel kommuniziert. Jetzt geht alles viel langsamer, auch
       das Sprechen“, erzählt Littmann. Er sitzt auf dem Sofa zu Hause in
       Berlin-Lichtenrade. Durch die schwarzgeränderte Brille blicken seine Augen
       wach und etwas melancholisch. Hager ist er, das komme von der Krankheit,
       sagt er. Der Arzt habe ihm geraten, am Tag 4.000 Kalorien zu sich zu
       nehmen, um nicht abzumagern, „das ist kaum zu schaffen“.
       
       Die [3][Huntington-Krankheit], auch Chorea Huntington, im Volksmund früher
       „Veitstanz“ genannt, ist eine Hirnerkrankung. Nervenzellen werden in
       bestimmten Hirngebieten abgebaut, die Störung ist genetisch bedingt. Man
       kann durch einen Test schon sehr früh feststellen, ob ein Mensch das fatale
       Gen in sich trägt und später daran erkranken wird. PatientInnen im
       fortgeschrittenen Stadium erkennt man an unkontrollierten Bewegungen von
       Armen und Beinen, Gesicht, Hals und Rumpf. Wenn das Ende naht, können die
       Kranken oft nicht mehr sprechen, sind verwirrt, manche haben
       Wahnvorstellungen.
       
       Littmann ist nicht in diesem Stadium. „Ich bewege mich viel, das hilft“,
       erzählt er, „die Hunde sind meine Lebensfreude.“ Die beiden Mischlinge
       toben durch das Wohnzimmer. Auf seinem Klapprad fährt Littmann jeden Tag
       durch die Parks in der Nachbarschaft, begleitet von den Hunden. Das
       Radfahren geht besser als das Laufen. „Wir genießen jeden Tag“, sagt seine
       Frau.
       
       Das Problem ist die Zukunft, die unaufhaltbare. Littmanns Mutter starb im
       hohen Alter an der Krankheit, schwerst pflegebedürftig, verwirrt, am Ende
       warf sie Lebensmittel aus dem Fenster. Ein Sterbehilfegesetz, laut dem man
       sich ein todbringendes, schmerzlos wirkendes Medikament verschreiben lassen
       könnte, das würde Littmann begrüßen. Es wäre „eine Form der Sicherheit zu
       wissen, dass man könnte, wenn man wollte“, sagt er. Zu wissen, dass es
       einen Notausgang gibt, würde ihn freier machen für das Leben. „Sterbehilfe
       ist Lebenshilfe.“
       
       Doch da gibt es einen Widerspruch: Solange er noch fit genug ist, auch für
       eine klare Entscheidung, wolle er leben, sagt Littmann. Erst wenn er stark
       abgebaut haben wird, auch geistig, kommt die Phase, die aus heutiger Sicht
       so schrecklich ist. Doch dann würde ihm ein Arzt möglicherweise keine
       „freiverantwortliche“ Entscheidungsfähigkeit mehr zugestehen. Eine solche
       Entscheidungsfähigkeit wäre aber auch nach einer Gesetzesänderung
       Voraussetzung für jede Gewährung von Sterbehilfe.
       
       Zudem: „Der Überlebenswunsch kann sich ändern“, sagt Littmann nachdenklich.
       Bei einer Freundin hat das Ehepaar genau dies erlebt. Die krebskranke Frau
       erklärte unmittelbar nach der Diagnose, weder Chemotherapie noch sonst eine
       invasive Behandlung zu wollen. Doch als es dem Ende zuging, habe sie alles,
       was es gab, in Anspruch genommen, erzählt Littmann.
       
       Der Informatiker hat eine Patientenverfügung verfasst. Darin steht, dass er
       nicht künstlich über eine Magensonde ernährt werden möchte, sollte es zu
       Schluckstörungen kommen, was irgendwann passiert bei Huntington. Ein
       solches „Sterbefasten“ kann ärztlich begleitet und dadurch möglichst
       beschwerdefrei gestaltet werden. Wie lange es jeweils dauert, kann niemand
       vorhersagen.
       
       Die Suizidrate unter Huntington-Kranken sei relativ hoch, sagt Littmann. In
       seiner Selbsthilfegruppe gab es einen Betroffenen, der drei Suizidversuche
       unternommen hatte. Der vierte endete tödlich.
       
       Wenn man eingesperrt ist in einen Körper, in eine Krankheit, ist es
       wichtig, noch eine letzte Handlungsmöglichkeit zu haben. Das Gefühl, in
       einem Tunnel zu stecken, der immer enger und dunkler wird, treibt auch
       viele Schwerkranke um, die sich vor dem Alter und der Pflegebedürftigkeit
       fürchten.
       
       Amy Fiocca, 67, zum Beispiel hat keine Krankheit, an der sie schon im
       nächsten halben Jahr sterben wird, aber ein schweres Leiden und Angst vor
       der Zukunft. „Wenn ich ins Pflegeheim müsste, dann möchte ich zuvor
       entscheiden können, ob ich nicht lieber schmerzlos durch ein Medikament
       sterben will“, sagt die ehemalige Sozialpädagogin aus Berlin.
       
       Fiocca klingt wie eine Roboterstimme aus „Star Wars“. Wer sie im Restaurant
       trifft, stellt fest, dass manche Tischnachbarn befremdet herüberschauen.
       Der Klang ihrer Stimme kommt vom Sprechgerät, das wie eine Art Mikrofon die
       Schwingungen des Mundbodens überträgt. Fiocca, die anonym bleiben möchte
       und deshalb in diesem Text einen anderen Namen hat, verlor vor vier Jahren
       durch eine Krebsoperation ihren Kehlkopf. Hinzu kommt die Lungenerkrankung
       COPD, neuerdings noch schmerzhaftes Rheuma.
       
       Der Kreis der Freundinnen ist arg geschrumpft, Familie hat sie nicht.
       Fiocca atmet durch ein Loch im Hals. Sie muss ständig durch dieses Loch
       abhusten. Oft hat sie Angst zu ersticken. Ein Pflegefall im Heim zu sein,
       vielleicht dauerhaft intubiert, ans Bett gefesselt wie ihre Mutter, die sie
       jahrelang pflegte, „dieser Gedanke macht mir große Angst“, sagt sie. „Es
       würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, ich könnte selbst bestimmen, ob und
       wann ich gehe.“
       
       Es gibt Ärzte, die dafür Verständnis haben. „In der Situation dieser Frau
       nicht noch jahrelang mit diesem extremen Leiden leben zu müssen, ob zu
       Hause oder in einem Pflegeheim, ist ein berechtigtes Anliegen“, sagt der
       Berliner Arzt Michael de Ridder (großes Foto oben). [4][De Ridder] ist
       einer der ärztlichen Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht. Er
       findet, der Paragraf 217 verstoße gegen die Berufs- und Gewissensfreiheit.
       
       De Ridder ist Intensivmediziner im Ruhestand, Gründer eines Hospizes und
       hat mehrere Bücher über Sterbebegleitung und Sterbehilfe geschrieben. Er
       hat in mehreren Fällen auch Sterbehilfe geleistet, bis 2015 war dies unter
       bestimmten Bedingungen straffrei.
       
       De Ridder, eloquent, gern gesehener Talkshowgast, befürwortet die
       Abschaffung des Paragrafen 217 und den ärztlich assistierten Suizid unter
       bestimmten Voraussetzungen. „Die Ausgestaltung der Sterbehilfe hängt von
       den Rahmenbedingungen ab“, sagt er, „man könnte es vielleicht ähnlich
       machen wie beim Paragrafen 218, wo man vor einer Abtreibung eine Beratung
       akzeptieren muss“.
       
       Die Beratung sei ganz wichtig, betont er. De Ridder kennt viele
       Schwerstkranke, die von ihrem Sterbewunsch wieder abkamen, „nachdem sie in
       der Beratung von den Möglichkeiten der palliativen Medizin erfuhren“.
       Schmerzdämpfende Medikamente, insbesondere Opiate, werden heute bei
       Schwerstkranken passgenau eingesetzt. Morphium, angstlösende Medikamente,
       Antidepressiva und vieles andere stehen zur Verfügung.
       
       Psychisch Kranke würde de Ridder grundsätzlich von der Sterbehilfe
       ausschließen. „Psychisch Kranke und suizidale Menschen brauchen Hilfe zum
       Leben, keine Sterbehilfe“, sagt er. Er leitete jahrzehntelang die
       Notaufnahme im Berliner Urban-Krankenhaus in Kreuzberg, eine Anlaufstelle
       auch für Menschen in psychischen Krisen.
       
       Dass sich PatientInnen bei klarem Verstand entscheiden können, ist auch für
       de Ridder die Voraussetzung für einen ärztlich assistierten Suizid. Leute
       mit einer fortschreitenden Hirnerkrankung, denen am Ende eine Demenz droht,
       müssten sich dann gewissermaßen präventiv selbst umbringen, solange sie
       noch klar denken können.
       
       De Ridder berichtet von einer 71-jährigen Ärztin, die bei sich selbst die
       ersten Symptome der Alzheimer-Erkrankung bemerkte, sich diagnostizieren
       ließ und dann im Beisein ihrer Kinder bei klarem Bewusstsein und in relativ
       guter Gesundheit einen tödlichen Medikamentenmix zu sich nahm und
       einschlief. „Sie wollte nicht erleben, was sonst in den folgenden Jahren
       auf sie zugekommen wäre“, sagt de Ridder.
       
       Bei [5][Dignitas] hätte die Ärztin auch Hilfe bekommen. Der Verein hat
       einen Sitz in Deutschland und den Hauptsitz in der Schweiz.
       
       Laut Statut von Dignitas werden Menschen für den ärztlich begleiteten
       Suizid in der Schweiz akzeptiert, die an einer „unheilbaren, zum Tode
       führenden Krankheit“ oder an einer „unzumutbaren Behinderung“ oder an
       „nicht beherrschbaren Schmerzen“ leiden.
       
       Diese Sterbehilfe muss man sich leisten können: Inklusive
       Vereinsmitgliedschaft, Vorgesprächen, Gutachten, Verschreibung des Mittels,
       Sterbebegleitung und Einäscherung werden für Deutsche rund 9.000 Euro
       fällig.
       
       Bei Dignitas sprechen auch Altersleidende vor. Eine 85-Jährige zum Beispiel
       mit stark nachlassendem Augenlicht, rheumatischen Schmerzen,
       Kontinenzproblemen, Angst vor dem Umzug ins Pflegeheim – „solchen schwer
       leidenden Menschen kann Dignitas eine Freitodbegleitung gewähren“, erklärt
       Dieter Graefe. Er ist Rechtsanwalt und Justitiar bei Dignitas und vertritt
       den Verein in seiner Beschwerde gegen den Paragrafen 217 vor dem
       Bundesverfassungsgericht.
       
       Auch wenn die Statuten bei Dignitas mit dem Kriterium der „unzumutbaren
       Behinderung“ einen breiten Spielraum lassen, gibt es Grenzen: Gesunde
       Hochaltrige, die mit ihrem todkranken Partner gemeinsam aus dem Leben
       scheiden wollen, „können leider von Dignitas keine Sterbehilfe erhalten“,
       sagt Graefe.
       
       Der Vizepräsident des Sterbehilfevereins Exit Schweiz Romandie wurde
       kürzlich zu einer Geldbuße verurteilt, weil er einer gesunden 86-Jährigen
       geholfen hatte, gemeinsam mit ihrem todkranken Ehemann durch die Einnahme
       eines tödlichen Medikaments zu sterben. Die Frau hatte angekündigt, sonst
       durch eine „Brutalmethode“ freiwillig aus dem Leben zu scheiden.
       
       Solche Fälle mit suizidwilligen alten Menschen versetzen ÄrztInnen in
       Deutschland in Alarmbereitschaft. Was, wenn der Sterbehilfeparagraf in
       Deutschland reformiert wird und lebensmüde Hochaltrige mit schweren
       Altersleiden bei ihren Hausärzten vorsprechen und diese anflehen, ihnen ein
       tödliches Medikament zu verschaffen? Was, wenn ein Suizid als Lösung
       erscheint, weil man Angst hat vor dem Pflegeheim und der schlechten
       Versorgung dort? Oder weil man seiner Familie nicht zur Last fallen will?
       Was, wenn Hausärzte und Zweitgutachter über die Entscheidungsfähigkeit, die
       Prognose, das Schmerzerleben, das Ausmaß der Verzweiflung von Tausenden
       schwerkranken alten PatientInnen entscheiden müssten?
       
       Die [6][Musterberufsordnung der Bundesärztekammer] sieht vor, dass Ärzte
       keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Diese Berufsordnung ist nur
       eine Empfehlung an die Landesärztekammern. Zehn Landesärztekammern,
       darunter Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Thüringen und Brandenburg, haben
       diese Empfehlung in ein standesrechtliches Verbot verwandelt, das heißt:
       Zuwiderhandelnde ÄrztInnen können schlimmstenfalls ihre Approbation
       verlieren. Andere Kammern haben dazu keine oder liberale Regelungen
       erlassen, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin.
       
       „Eine Gesetzesänderung als mögliche Folge einer Entscheidung des
       Bundesverfassungsgerichts zum Paragrafen 217 könnte Verpflichtungen für
       Ärzte und Ärztinnen mit sich bringen, die wir nicht wollen und mit einer
       Selbstverständlichkeit Hintertüren öffnen, die wir menschlich nicht haben
       wollen und über die wir uns bisher noch gar keine Gedanken gemacht haben“,
       sagt Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer, er räumt aber auch
       ein: „So oder so werden wir uns als Ärzteschaft gesellschaftlichen
       Entwicklungen stellen und über unsere Rolle in diesem Kontext diskutieren.“
       
       Die BefürworterInnen einer kontrollierten Sterbehilfe in der Ärzteschaft
       sind vor allen Dingen durch den Begriff der „geschäftsmäßigen“ Beihilfe zum
       Suizid im Paragrafen 217 verunsichert. Damit wollte die Große Koalition
       2015 eigentlich das Geschäft der Sterbehilfevereine in Deutschland stoppen.
       Doch es wuchs auch die Verunsicherung bei den ÄrztInnen, denn laut
       Rechtsprechung handelt schon „geschäftsmäßig“, wer eine Handlung
       „wiederholt“ begeht, eine Profitabsicht muss gar nicht erkennbar sein.
       
       Der Münchner Medizinrechtsanwalt Wolfgang Putz, der de Ridder vor dem
       Bundesverfassungsgericht vertritt, befürwortet die schlichte Abschaffung
       des Paragrafen 217 ohne die Einführung neuer Kriterien für die Ärzte. Damit
       wäre wie bis 2015 jegliche Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid wieder
       straffrei.
       
       „Die Entscheidung, das Leben selbst zu beenden, ist ein Grundrecht“, sagt
       Putz, „und weil die Wahrnehmung eines Rechts keine Rechte anderer tangiert,
       kann es keine Einschränkungen geben.“ Das Argument, dass Ärzte von manchen
       PatientInnen vor kaum lösbare Probleme gestellt werden, lässt Putz nicht
       gelten. „Suizidhilfe ist keine ärztliche Pflicht“, betont er, „wer von den
       Ärzten keine Sterbehilfe machen will, muss sie nicht machen, so ist es auch
       bei Abtreibungen, es gibt keine ärztliche Verpflichtung.“
       
       Ungeklärt wäre allerdings immer noch, wer unter welchen Voraussetzungen
       welche Medikamente verschreiben darf. Die wenigen Ärzte in Deutschland, die
       bis 2015 Sterbehilfe leisteten, setzten jeweils eigene Mischungen ein, die
       in bestimmten Dosierungen tödlich wirken.
       
       In der Schweiz wird Pentobarbital-Natrium als Medikament in der Sterbehilfe
       verwendet. In Deutschland ist dieses Präparat bezeichnenderweise nur für
       die Einschläferung von Tieren zugelassen.
       
       Das [7][Bundesverwaltungsgericht] hat allerdings 2017 in einem
       aufsehenerregenden Urteil entschieden, dass Pentobarbital-Natrium in
       Ausnahmefällen auch in Deutschland Schwerstkranken in „extremer Notlage“
       gegeben werden müsse. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU
       blockiert jedoch bislang die Abgabe des Medikaments.
       
       Alle Beteiligten schauen jetzt nach Karlsruhe und erhoffen sich vom
       Bundesverfassungsgericht eine Lösung. Der Urteilsentwurf soll 100 Seiten
       dick sein, ist aus Rechtsanwaltskreisen zu hören.
       
       Im April 2019 gab es eine [8][mündliche Anhörung] vor dem
       Verfassungsgericht mit PalliativmedizinerInnen, Psychiatern und
       HospizhelferInnen. Die Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten
       Andreas Voßkuhle ließen erahnen, dass der Paragraf 217 vom
       Bundesverfassungsgericht zumindest in Teilen als nicht grundgesetzkonform
       bemängelt wird.
       
       Die Sorge, dass die Schwelle zum Suizid niedriger wird, haben die
       BefürworterInnen der Sterbehilfe nicht. „Niemand wird sich zu einem Suizid
       drängen oder überreden lassen und niemand wird sich leichtfertig
       suizidieren wollen“, sagt de Ridder. „Der Lebenswille im Menschen ist viel
       zu stark.“
       
       Anja Clement, die ehrenamtlich als zweite Vorsitzende des Vereins
       „ALS-Mobil“ tätig ist, hielt neulich einen Vortrag zur Pflegepolitik,
       genauer gesagt las jemand das Manuskript vor und sie saß als Autorin dabei.
       Am Ende donnerte der Applaus. Clement rollte heraus in den Abend, die
       Herbstluft duftete und umhüllte sie. „Es war ein glücklicher Moment“, sagt
       Clement, „wir wollen ja leben. Und nur wir wissen, wann es nicht mehr
       geht“.
       
       12 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sterbehilfe/!t5009775/
   DIR [2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__217.html
   DIR [3] /Seltene-Krankheiten/!5500545
   DIR [4] /Debatte-Sterbehilfe/!5050354
   DIR [5] /Der-Entschluss-zu-sterben/!5205697
   DIR [6] https://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-aerzte/muster-berufsordnung/
   DIR [7] https://www.bverwg.de/020317U3C19.15.0
   DIR [8] https://www.aerztezeitung.de/Politik/Moeglichkeiten-der-Sterbehilfe-ausgelotet-254391.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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       Der Bundesgerichtshof hat zwei Ärzte freigesprochen, die Sterbewillige
       nicht aufhielten. Gut so. Denn die Rolle der Ärzte muss gestärkt werden.
       
   DIR Karlsruhe prüft Suizidhilfe-Verbot: Sterben im Verfassungsgericht
       
       Das Verfassungsgericht verhandelt über das Verbot organisierter
       Suizidhilfe. Befürworter und Gegner berufen sich auf Selbstbestimmung.
       
   DIR Palliativmediziner zur Sterbehilfe: „Tötung brauchen wir nicht“
       
       Der Arzt Thomas Sitte hat viele Menschen in den Tod begleitet. Er ist gegen
       organisierten Suizid. Es stirbt sich, sagt er, besser ohne Termin.