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       # taz.de -- Die Wahrheit: Saison der Krisen
       
       > Schon wieder steht ein neues Jahr vor der Tür. Und damit müssen neue
       > Vorsätze her: Wie wäre es denn mit weniger Fluchen? Aber: Was soll der
       > Scheiß?
       
       Weil wir zu viel Muslime im Land haben, darf ich nicht mehr
       Weihnachtsscheiße oder Christfestbockmist sagen. Das ist ein Ergebnis
       unseres linken Meinungskartells, wissen die wohlmeinenden,
       traditionsbewussten Patrioten für ein extrem durchgeknalltes Deutschland.
       
       Noch dazu habe ich einen Kollegen, der immer, wenn ich „Scheiße!“ schreie,
       sagt, er bewundere meine differenzierte Ausdrucksweise, wir sollten doch in
       der Scheiß-Zukunft scheiß-alle so reden, scheiße.
       
       Und schon wieder zwei Vorsätze für das neue Jahr. Erstens: Weniger
       Kraftausdrücke benutzen, weil es mich unsympathisch macht. Das drastische
       Gefluche passt auch gar nicht zu einer gebildeten Dame mit Abitur.
       Zweitens: Sich verdammt nochmal endlich einen Scheiß darum scheren, was die
       anderen finden, was ich mal tun oder lassen solle. Wozu bin ich so alt
       geworden? Um mich erziehen zu lassen? Schließlich habe ich ein
       Scheiß-Abitur!
       
       Na gut, also dann eben nix Weihnachtskacke, sondern ambivalente
       Jahresendzeitherausforderung. Warum ist im Sommer alles in Ordnung
       (Badeteich-Buch-Bier), während ich ab Mitte November
       (Nebel-Nölen-Notaufnahme) anfange zu überlegen, ob ich mein
       mittelgemütliches Leben noch rasch ändern müsste, vor dem gewiss baldigen
       Tod?
       
       ## „Grübeln für Anfänger“
       
       Plötzlich streiche ich in der Buchhandlung am Ratgeberregal vorbei, während
       ich sonst nur zu den Klassikern gehe. Denn seit die einschlägige
       Buchhandlung von einem Konzern übernommen wurde, sortiert man in diesem
       ehemals schönen Ort Literatur in „Klassiker“ und „Unterhaltung“, also
       eigentlich in „Seriös, aber kauft ihr sowieso nicht“ und „Scheiße“. Und in
       „Ratgeber“.
       
       Wenn ich ihnen folgte, müsste ich mein Leben entschleunigen, mich
       fokussieren, irgendwas beachtsamen und mir Pausen gönnen, aber dabei
       andererseits effizienter werden und schneller. Ich sollte außerdem mehr
       Dinge gleichzeitig im Blick behalten und alle Pausen künftig sinnvoll
       füllen.
       
       Mein Trost bisher war, dass mein Lebensänderungsanfall jedes Mal gemeinsam
       mit dem Silvesterkater aus der Tür schlich, und dass außerdem alle anderen
       das auch haben. Doch eine Freundin, die im Gegensatz zu mir viele Menschen
       kennt, verblüffte mich mit der Mitteilung, ich sei die einzige ihr bekannte
       Person, die immer wieder versuche, irgendwas neu anzufangen. Sie hatte es
       als Kompliment gemeint, aber seither grüble ich, was mit mir eigentlich
       verkehrt ist und ob ich das eventuell im nächsten Jahr ändern kann.
       
       Den Ratgeber „Grübeln für Anfänger“ könnte ich übrigens sofort schreiben,
       aber das hieße ja, etwas neu anzufangen, was ich mir jedenfalls bis
       Jahresende streng verboten habe. Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob ich
       nicht lieber mit „Zweifeln für Fortgeschrittene“ starten sollte, diesem
       unterhaltsamen Klassiker einer gebildeten, langjährigen Flucherin. Ich
       werde unter dem bekackten Tannenbaum darüber achtsam nachdenken.
       
       11 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Fischer
       
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