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       # taz.de -- Das große Vergnügen im Vaterland
       
       > KRIMI Volker Kutscher schickt seinen Kommissar wieder ins Berlin kurz vor
       > der Nazi-Zeit. Auch andere Autoren porträtieren diese Übergangszeit
       
       Hitler. Der darf nicht fehlen in einem Kriminalroman, der im Berlin des
       Jahres 1932 spielt. Erst recht nicht, wenn es sich um den vierten Band
       einer Reihe handelt, die sich genau das vorgenommen hat: den Übergang vom
       Ende der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus zu erzählen. Und doch
       bleibt der spätere Reichskanzler in „Die Akte Vaterland“ von Volker
       Kutscher nur Staffage. Einmal lässt der Autor den Polizeivizepräsidenten
       über „diesen Hitler“ schimpfen. Und das war es dann auch schon.
       
       Kutscher braucht den Gröfaz nicht, um über das Böse zu schreiben. Er spielt
       vielmehr mit den Brüchen im Alltag. Das beginnt gleich mit dem Titel. „Die
       Akte Vaterland“ steht keineswegs für den überhandnehmenden Nationalismus.
       Vielmehr beginnt die Geschichte mit einem Mord im „Haus Vaterland“, einem
       Vergnügungspalast am Potsdamer Platz für die zahlreichen Touristen aus
       aller Welt.
       
       Daraus entwickelt Kutscher den Plot, in dem es um Alkoholschmuggel,
       exotische Tötungsarten, einen schwarzen Kellner, antiemanzipatorisches
       Männergehabe im Polizeipräsidium, Eifersucht und eine lange Jahre
       zurückliegende Liebesgeschichte geht. Um die zu ermitteln, muss Kommissar
       Gereon Rath die Metropole verlassen und in die ostpreußische Provinz
       reisen. Und dort bei den Sümpfen Masurens schildert Kutscher fast
       beiläufig, wie rechtsextreme Nationalisten Ressentiments gegenüber
       Andersgläubigen schüren. Und nein, es geht nicht um Antisemitismus, sondern
       um den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken.
       
       Kutscher nutzt Perspektivwechsel und Zeitsprünge, um dem Leser einen
       scheinbaren Wissensvorsprung zu geben – und erzeugt so die für das
       Lesevergnügen nötige Spannung. Vor allem aber erzählt er konsequent aus der
       Perspektive seiner Protagonisten, die noch nicht wissen konnten, wie der
       Nationalsozialismus die kommenden Jahre prägen würde. Zugleich spielt er
       mit dem Wissen des heutigen Lesers. Das macht die auf insgesamt mindestens
       acht Bände angelegte Reihe so interessant.
       
       In „Der nasse Fisch“, dem ersten und immer noch schwärzesten Band, schickte
       Volker Kutscher seinen jungen Kommissar Gereon Rath von Köln ins wilde
       Berlin des Jahres 1929. Dort ermittelte er im kriminellen Milieu der
       Ringvereine und Waffenschmuggler. Der zweite Band erzählte vom Wandel der
       Filmindustrie nach Aufkommen des Tonfilms im Jahr 1930. Der dritte lieferte
       die thematisch bisher komplexeste Story: Ein US-Ganove reist von New York
       1931 nach Berlin – er ist Jude. Leider hatte sich Kutscher gerade in diesem
       Band mit zu vielen Seitensträngen und Protagonisten aus den Vorgängerbänden
       etwas verzettelt. Der nun vorliegende vierte Fall ist deutlich besser
       gelungen. Dennoch empfiehlt es sich Neueinsteigern, die Bände in
       chronologischer Reihenfolge zu lesen.
       
       Mittlerweile gibt es gleich mehrere Autoren, die wie Kutscher Krimis in der
       Umbruchszeit Anfang der 1930er Jahre ansiedeln. Bernward Schneider lässt in
       „Spittelmarkt“ Ende 1932 einen Anwalt die Geschichte eines obskuren
       Menschenzuchtvereins ermitteln. Anders als der Titel verspricht, liefert
       Schneider statt Berliner Lokalkolorit eine verquast klingende Story. Das
       literarisch überzeugendste Detail ist noch das Ende, in dem der
       Ich-Erzähler seinen Gegenspielern in die Hände fällt und offensichtlich
       stirbt.
       
       ## Schatten des Todes
       
       Wesentlich gelungener sind die Klara-Schindler-Romane von Robert Brack. Der
       lässt die fiktive kommunistische Journalistin tatsächliche Fälle ermitteln.
       In „Unter dem Schatten des Todes“, dem jüngsten Band, soll sie im Auftrag
       der Kommunistischen Internationale die Hintergründe des Reichstagsbrands
       1933 recherchieren. Er beschreibt anschaulich, wenn auch dialoglastig, wie
       sich linke Splittergruppen im gerade von Nazis übernommenen Berlin vor
       allem gegenseitig auf die Füße treten.
       
       Auch Volker Kutscher baut historische Ereignisse in seine Geschichten ein.
       Doch sie bilden stets nur das Beiwerk, nicht das Zentrum. Wichtiger sind
       alltägliche Details. „Die Akte Vaterland“ hat nur eine kleine Schwäche: Dem
       Leser drängt sich nach nicht einmal der Hälfte des Buchs auf, wer der
       Mörder sein muss. Aber das ist Konzept. Denn bei Kutscher ist selbst ein
       Serienkiller am Ende nicht der Böseste.
       
       GEREON ASMUTH 
       
       ■ Volker Kutscher: „Die Akte Vaterland“. Kiepenheuer & Witsch, 2012, 564
       Seiten, 19,99 Euro ■ Bernward Schneider: „Spittelmarkt“. Gmeiner-Verlag,
       2010, 372 Seiten, 11,90 Euro ■ Robert Brack: „Unter den Schatten des
       Todes“. Nautilus, 2012, 223 Seiten, 13,90 Euro
       
       25 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR GEREON ASMUTH
       
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