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       # taz.de -- Brasilianische Kultur unter Bolsonaro: Küssen verboten
       
       > Seit der Wahl des rechten Präsidenten stehen Künstler unter
       > Dauerbeschuss. Die Förderung wird eingeschränkt, es wird zensiert und
       > offen gedroht.
       
   IMG Bild: Chico Buarque bei einem Auftritt in Rio de Janeiro 2018
       
       Der Prémio Camões, benannt nach dem portugiesischen Nationalependichter
       Luís de Camões, ist der wichtigste portugiesischsprachige Literaturpreis.
       Er wird seit 1989 von Portugal und Brasilien gemeinsam vergeben. Es gibt
       eine von beiden Regierungen unterzeichnete Urkunde und 100.000 Euro
       Preisgeld. Im Mai 2019 wurde der brasilianische (Song-)Dichter und Autor
       [1][Chico Buarque] als diesjähriger Preisträger des Prémio Camões
       bekanntgegeben.
       
       Nun verkündete vor wenigen Wochen der brasilianische Präsident Jair
       Bolsonaro, der für Künstler*innen im Allgemeinen und Chico Buarque im
       Besonderen wenig übrig hat, er könne „nicht versprechen“, dass er besagte
       Urkunde auch unterzeichnen werde.
       
       Darauf ließ Chico Buarque trotzig verlauten, er betrachte die Weigerung
       [2][Bolsonaros], die Vergabe des prestigeträchtigen Preises mittels
       Unterschrift zu bestätigen, als eine persönliche Ehre. In dem Fall, so
       Bolsonaro, wolle er den Künstler „nicht traurig machen“, indem er jetzt
       doch unterschreibe.
       
       Derlei Äußerungen des ganz im Sinne seines Spitznamens „Tropen-Trump“
       agierenden Jair Bolsonaro ließen sich leicht als eitel-kindisches
       Aufplustern abtun, als Kratzfuß des Hahnes, der steifen Schrittes den
       vermeintlich Rangniederen umkreist. Letztlich ist Bolsonaros Unterschrift
       in diesem Fall nur eine Formalie. Der brasilianische Anteil des Preisgeldes
       wurde bereits ausgezahlt, und die portugiesische Regierung versichert, den
       Preis kommendes Jahr in einer offiziellen Zeremonie in Portugal überreichen
       zu wollen.
       
       ## Ministerium drängt Film aus Festivalprogramm
       
       Andere Angriffe der Regierung Bolsonaro auf die Kulturszene bereiten indes
       mehr Sorgen. Wieder ist auch [3][Chico Buarque] betroffen, der schon
       während der Militärdiktatur in Brasilien 1964 bis 1985 zu den
       meistzensierten Künstlern gehörte. Anfang Oktober sollte der Film „Chico:
       Artista Brasileiro“ des Regisseurs Miguel Faria Junior beim Festival Cine
       de Brasil in Uruguay laufen.
       
       Dann aber mischt sich das brasilianische Außenministerium über seine
       Botschaft in Montevideo ein und verlangt von der veranstaltenden
       Produktionsfirma das Streichen des Films aus dem Programm. Der Aufforderung
       wird tatsächlich Folge geleistet und Miguel Faria darüber informiert, dass
       seine biografische Doku „zensiert“ wurde. Im Interview mit dem Magazin
       Fórum zeigt sich der Regisseur „schockiert, aber nicht überrascht“. Der
       Aufschrei im In- und Ausland ist groß.
       
       Am Ende beschwichtigt die brasilianische Botschaft: Man habe schließlich
       nur helfen und Empfehlungen aussprechen wollen. Der Veranstalter nimmt den
       Film wieder ins Programm. Dennoch darf man den Vorgang nicht kleinreden,
       ist der Fall doch symptomatisch für die oftmals schleichende, aber immer
       sichtbarere Bedrohung, der sich die kulturellen Szenen in Brasilien
       ausgesetzt sehen. Noch ist nicht im Detail klar, wohin die Reise geht, aber
       die Luft wird deutlich dünner.
       
       Die Situation der Kulturschaffenden und Intellektuellen in Brasilien hat
       sich schon vor Bolsonaros Amtsantritt verschlechtert. Sein Vorgänger
       [4][Michel Temer] hatte versucht, das Kulturministerium abzuschaffen, sich
       dann aber dem allgemeinen Protest beugen müssen. Anders als sein
       Nachfolger, der die Auflösung des unerwünschten Ministeriums als eine
       seiner ersten Amtshandlungen vollzog.
       
       Mehrfach wurde das Goethe-Institut in Brasilien seit 2016 verklagt – es
       habe sich in von ihm gezeigten Ausstellungen und Performances der
       Blasphemie und Pädophilie schuldig gemacht. Schon in diesen
       Prä-Bolsonaro-Jahren spürt man das Erstarken der Evangelikalen, die für
       Bolsonaro so wichtig werden und fortan den pseudomoralischen Kurs im Land
       bestimmen sollen.
       
       ## Unter Dauerbeschuss
       
       Seit Bolsonaros Wahl zum Präsidenten aber befinden sich Kultur und Bildung
       unter Dauerbeschuss. Die Regierung Bolsonaro verfolgt offensichtlich eine
       Agenda, und diese stellt sich – man kann das so zugespitzt formulieren –
       zunehmend antizivilisatorisch dar. Ein erster großer Schlag erfolgte zu
       Anfang 2019, als das sogenannte Lei Rouanet – seit 1991 zur Förderung
       kultureller Investitionen in Kraft – einer wesentlichen Gesetzesänderung
       unterzogen wurde.
       
       Das Rouanet-Gesetz stellt die wichtigste Fördermöglichkeit für
       Kulturschaffende in Brasilien dar. Es sieht vor, dass Unternehmen und
       Privatpersonen einen Teil ihrer Steuerschuld in Kulturprojekte stecken
       können.
       
       Nun aber wurden sowohl Förderdeckelungen für Einzelprojekte als auch
       erhebliche Begrenzungen der möglichen Gesamtfördersummen pro Organisation
       eingeführt. [5][Theater, Museen, Orchester, Musicalproduktionen,
       Performancegruppen, die lebendige Tanzszene des Landes sowie Sambaschulen]
       und damit die für die kulturelle Identität Brasiliens so wichtige Vielfalt
       der Karnevalsumzüge – alle sind von den Kürzungen betroffen, viele in ihrer
       Existenz bedroht.
       
       Auch bestimmte Personengruppen sollen nun von der Förderung ausgenommen
       sein: „Diese Art von ‚Künstlern‘ wird sich nicht mehr am Rouanet-Gesetz
       bereichern“, droht Bolsonaro im März 2019 auf Twitter, und er meint damit
       gerade jene Künstler*innen, die die Entwicklungen seit seinem Amtsantritt
       kritisch kommentieren und die er gern als „kulturmarxistisch indoktrinierte
       Kriminelle“ stigmatisiert.
       
       Ebenfalls seit Monaten heftigen Angriffen ausgesetzt sieht sich die
       Filmförderagentur Ancine (Agência Nacional do Cinema). Um fast die Hälfte
       soll die Fördersumme im Jahr 2020 im audiovisuellen Bereich gekürzt werden.
       Der brasilianische Film hat in den letzten Jahren an Innovation und
       Internationalisierung enorm gewonnen, dem brasilianischen Kino geht es
       eigentlich gut. Doch die bereits erfolgten und angekündigten Kürzungen und
       zunehmenden inhaltlichen Kontrollen bedrohen die [6][Filmschaffenden], die
       in besonderem Maße abhängig von öffentlichen Geldern sind.
       
       So klagte der Regisseur und Autor Kleber Mendonça Filho, dessen Film
       „Bacurau“ dieses Jahr in Cannes den Preis der Jury gewann, gegenüber Le
       Monde: „Alles, was mit der Welt der Ideen zu tun hat, wird lächerlich und
       klein gemacht und zerstört […]. Das Geld, das für die Kultur vorgesehen
       war, wurde gekürzt, Künstler werden kriminalisiert.“
       
       ## Krude Fördervergabe
       
       Im Juli 2019 kündigt Bolsonaro eine „Neuformulierung oder Auflösung“ der
       Ancine an und fordert ideologische „Filter“, die künftig bei der Vergabe
       von Förderungen zum Einsatz kommen sollen. Wenig überraschend sind es
       insbesondere Filme, die thematisch den Bereichen und Bewegungen LGBTQ,
       Feminismus und Negritude zugehörig sind, die unter Restriktionen zu leiden
       haben. So wie im Fall der Produzentin Anna Zepa, der die Ancine die bereits
       zugesagten Unterkunfts- und Reisekosten zum BFI London Film Festival, auf
       dem ihr Film über einen lesbischen Flirt gezeigt werden sollte, kurzfristig
       strich.
       
       Dazu passt auch der „Skandal“, den der harmlose Superheldencomic
       „Vingadores: Cruzada das Crianças“ (Rächer: Der Kreuzzug der Kinder) Anfang
       September auf der Buchmesse in Rio auslöste. Hier wurden die Organisatoren
       der Messe aufgefordert, den Comic zu entfernen, da er Kindern
       pornografische Inhalte zugänglich mache. Stein des Anstoßes war ein
       einziges Panel, das [7][den Kuss zwischen zwei Männern] zeigt.
       
       Ein Klima, in dem der Hass gegen Kulturschaffende als „Parasiten des
       Systems“ geschürt wird, befördert nicht nur die Selbstzensur, sondern führt
       auch dazu, dass einige aufgrund von konkreten Angriffen bereits das Land
       verlassen haben. Lautstarker Widerstand gegen Bolsonaro hält sich trotzdem
       bisher in Grenzen. Zwar gibt es Proteste und vereinzelte Aktionen, aber
       insgesamt herrsche, so der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato, eher
       eine Art „lähmende Fassungslosigkeit“.
       
       Nur allmählich scheint die Zurückhaltung aufzubrechen. Mitte Oktober wurde
       in São Paulo ein Theaterfestival mit dem Titel „Verão Sem Censura“ („Sommer
       ohne Zensur“) angekündigt, welches sich als Reaktion gegen die
       „Kriminalisierung der Künstler“ und als „Akt des Widerstands“ sieht.
       
       Anfang 2020 sollen mehrere Stücke gezeigt werden, die im vergangenen Jahr
       zensiert wurden oder laut Ankündigung noch zensiert werden, darunter
       mehrere mit politischem und LGBTQ-Inhalt. Die Durchführung dieses Festivals
       sollte besonders aufmerksam verfolgt werden.
       
       12 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.fischerverlage.de/autor/chico_buarque/17848
   DIR [2] /Brasilien-unter-Praesident-Bolsonaro/!5643443
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=1MPebkuuEjo
   DIR [4] /Architektin-und-Linguist-ueber-Brasilien/!5039380
   DIR [5] /Tanz-in-Brasilien/!5606723
   DIR [6] /Neuer-Horrorfilm-aus-Brasilien/!5519819
   DIR [7] https://www.bbc.com/portuguese/brasil-49614002
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ebba Durstewitz
       
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