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       # taz.de -- Die erste Konsumgenossenschaft: Alles anders gemacht
       
       > Vor 175 Jahren gründeten britische Handweber die erste
       > Konsumgenossenschaft. Über Hamburg gelangte die Idee nach Deutschland.
       
   IMG Bild: Vorbild für alle: die ehrbaren Pioniere von Rochdale um 1870
       
       Hamburg taz | Die [1][Wurzeln der taz] reichen geografisch bis in den
       kleinen Ort Rochdale nahe Manchester. Vor genau 175 Jahren gründeten dort
       Handweber, deren Einkommen gering war und deren Familien in Armut lebten,
       die weltweit erste Konsumgenossenschaft. 28 Weber „helfen sich selbst“,
       sagt der Hamburger Publizist Armin Peter über die Gründung. Am 21. Dezember
       1844 eröffneten die Handweber der Rochdale Society of Equitable Pioneers
       ihren Shop.
       
       Am Anfang hatten sie nur Mehl, Zucker, Butter und Hafergrütze im Angebot.
       Dabei ging es ihnen vor allem um gute Qualität. Fälschung und Betrug waren
       im Lebensmittelhandel des 19. Jahrhunderts gang und gäbe. „Von den
       Rochdale-Pionieren haben alle Genossenschaftsformen gelernt“, sagt Peter,
       der im Genossenschaftsmuseum im Hamburger Besenbinderhof arbeitet und seine
       Erfahrungen mit den Konsumgenossenschaften literarisch in
       „Gemeinwirtschaft. Der Roman vom Soll und Ist“ verarbeitet hat.
       
       Von Hamburg aus verbreitete sich dann die Genossenschaftsbewegung in
       Deutschland. Den Anstoß gab der Streik von Hafenarbeitern und Seeleuten zum
       Jahreswechsel 1896/97. Elf Wochen lang bestreikten bis zu 17.000 Proleten
       den Hamburger Hafen. Gewerkschaftliche Streikfonds gab es im Kaiserreich
       nicht, der Hunger grassierte in den Arbeiterfamilien.
       
       Es entstand die Idee, den Arbeitern und ihren Familien mit einer
       Konsumgenossenschaft zu helfen: 700 Teilnehmer zählte die
       Gründerversammlung. Der Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion entwickelte
       sich rasant: In Hamburg und den Nachbarorten entstanden Hunderte Läden.
       Auch in Berlin, Hannover, Frankfurt und anderen Städten wurden bald erste
       Konsumgenossenschaften gegründet.
       
       ## Vorbildliche Arbeitsbedingungen
       
       Später entstanden unter anderem die Arbeiterwohlfahrt und die
       Versicherungsgesellschaft Volksfürsorge (heute Generali). Und bald wurden
       in den Läden eigene Produkte angeboten: Brötchen, Fahrräder und Zigarren.
       Während der Weimarer Republik unterhielt der Dachverband, die
       Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine (GEG) in Hamburg,
       deutschlandweit über 50 große Produktionsbetriebe.
       
       Die Arbeitsbedingungen galten als vorbildlich, modernste Maschinen
       ermöglichten produktive Arbeit. „Käufer und Verkäufer sind eins!“, lautete
       das Motto. Das zwischenzeitliche Aus des gemeinnützigen Großkonzerns GEG
       wurde 1933 eingeläutet. Die „Zerschlagungswut der Nazis“, sagt Peter,
       machte auch vor den Konsumgenossenschaften nicht halt.
       
       Die sowjetische Militäradministration ließ die Konsumgenossenschaften schon
       wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zu. Bereits
       Mitte 1946 gab es in Ostdeutschland wieder ein komplettes Netz an
       Genossenschaften. Im Westen verlief der Neubeginn zäher. Den
       Besatzungsmächten waren Genossenschaften eher fremd oder sie wurden, wie
       bei den Briten, als sozialistische Einrichtung eher kritisch beäugt. Der
       Ernährungskrise begegnete die neue GEG mit einer eigenen Fischfangflotte
       und einer Fischwarenfabrik in Altona.
       
       Doch der ersten Selbstbedienungsläden, später dann von Discountern wie
       Aldi, verschärften in den 1960er-Jahren die Konkurrenz. „Für die zwei
       Millionen Konsumgenossen wird später die Eigenproduktion zum Klotz am
       Bein“, so Peter. Die unterbliebenen Investitionen während der Nazi-Zeit
       rächten sich jetzt. Und die Banken misstrauten der ohnehin ungeliebten
       GEG-Kundschaft.
       
       In den 1970er-Jahren fusionierten viele Konsumgenossenschaften. Sie
       änderten ihre Rechtsform und mutierten zu einer Aktiengesellschaft (AG), um
       an frisches Kapital zu kommen. Die Experten im Hamburger
       Genossenschaftsmuseum am Besenbinderhof schimpfen noch heute über den
       „Irrweg Aktiengesellschaft“ – aus einer schwachen Genossenschaft wurde
       keine starke AG und die Mitglieder wurden ihrer Genossenschaft entfremdet.
       
       Die [2][Coop AG], bei der Armin Peter Direktor für Öffentlichkeitsarbeit
       war, in der die meisten westdeutschen Konsumgenossenschaften aufgegangen
       waren, endete denn auch im Desaster. Trotz 50.000 Beschäftigter und Umsatz
       von mehr als zehn Milliarden DM wurde Coop 1989 liquidiert. Der Vorstand um
       Bernd Otto hatte in einem undurchschaubaren Mix aus Gier, Bilanzbetrug und
       Dummheit den Konsumgenossenschaften den Todesstoß versetzt. Otto wurde
       später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
       
       ## Sehnsucht nach Idylle
       
       Doch die Genossenschaftsidee wirkte weiter. Und blieb nicht frei von
       (linker) Kritik. Dezentral, so lautete die genossenschaftliche Parole.
       „Dieser Populismus träumt von einer mittelständischen, auch
       genossenschaftlichen Wirtschaft“, kritisierte der 2016 verstorbene
       Buchholzer Ökonom Herbert Schui gerne. Dahinter stehe die Sehnsucht nach
       einer Idylle, so Schui, in der es keine machtvollen Großunternehmen und
       keine bedrohliche Globalisierung gibt.
       
       Armin Peter verweist auf Dutzende Neugründungen: alternative Wohnformen,
       Energie, Soziales, Landwirtschaft und Dorfversorger. Der Trend zeige weiter
       nach oben. Derzeit sind bundesweit 433 neue und alte Genossenschaften mit
       insgesamt mehr als 300.000 Einzelmitgliedern im Zentralverband deutscher
       Konsumgenossenschaften (ZdK) zusammengeschlossen. Der ZdK vertritt die
       Interessen der GenossInnen gegenüber Politik und Bundesregierung. Sitz des
       Verbandes ist der Hamburger Stadtteil St. Georg. Prominentes Mitglied des
       Unternehmensverbandes ist die taz Verlagsgenossenschaft in Berlin.
       
       19 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Das-Geschaeftsmodell-der-taz/!5646739
   DIR [2] https://www.coop.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hermannus Pfeiffer
       
       ## TAGS
       
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