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       # taz.de -- Hörbuch „Agentterrorist“: 14 Stunden Yücel
       
       > Die Geschichte seiner Haftzeit und zugleich der politischen Entwicklungen
       > in der Türkei: Deniz Yücels „Agentterrorist“ lohnt auch als Hörbuch.
       
   IMG Bild: Ein neuer Ton ist hinzugekommen in Deniz Yücels Buch. Foto von der Buchpremiere, Oktober 2019
       
       Bist du verrückt? Du kommst in ein Land, aus dem alle abhauen wollen?“
       Diese Frage stellt eine Freundin Deniz Yücel, als sie hört, dass er als
       Welt-Korrespondent nach Istanbul wechselt. Er entgegnet: „Genau deshalb
       komme ich ja!“
       
       Denn die Stadt am Bosporus ist nicht nur Sehnsuchtsort des als Kind
       türkischer Einwanderer im hessischen Flörsheim geborenen Yücel, auch die
       aktuellen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei bereiten
       ihm Unwohlsein. Er will sie vor Ort beobachten, dokumentieren,
       kommentieren.
       
       Bereits diese Antwort zeigt Yücels journalistisches Ethos: unkorrumpierbar,
       direkt, präzise, bissig, aber humorvoll. In seinen Artikeln ist er nie um
       eine Pointe verlegen, als taz-Redakteur ging er keiner Stänkerei aus dem
       Weg und zeigte Haltung.
       
       So fragt er sich [1][vor Antritt seiner neuen Stelle] am 1. Mai 2015, wie
       er „mit einem traditionell eher konservativen Haus wie Springer
       zurechtkommen“ wird, und ob er den Korrespondentenjob überhaupt bewältigen
       könne, sei er doch bisher eher Kolumnist und Allrounder gewesen.
       Bekanntlich stellte sich dies als das geringere Problem heraus.
       
       Ein Interview mit dem PKK-Anführer Cemil Bayik, die Berichterstattung über
       den Putschversuch gegen Erdoğan am 15. Juli 2016 und der schlichte Zugang
       zum Mailverteiler der Gruppe RedHack führen nach einem Intermezzo in der
       deutschen Botschaft in Istanbul am 14. Februar 2017 schließlich zu seiner
       Festnahme. Begründung: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation (RedHack)
       und Datenmissbrauch.
       
       ## Der Humor ist geblieben
       
       Yücel beginnt „Agentterrorist“ – so hatte Erdoğan ihn bezeichnet – mit der
       Schilderung seiner Freilassung, bei der deutlich wird, dass auch ein Jahr
       Haft ihn nicht kleinkriegen konnte.
       
       Aber ein neuer Ton ist hinzugekommen, die der Istanbuler Schauspieler und
       Übersetzer Racai Hallaç in seiner Lesung des Texts gut herausstreicht:
       Yücel klingt verletzlich, die Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat für
       das Engagement, das zu seiner Freilassung geführt hat, lässt eine Milde
       hören, die vor seiner Haft undenkbar gewesen wäre.
       
       Sein Humor aber bleibt: als er sich öfters Sätze wie „Bei uns in
       Deutschland ist das jetzt so“ sagen hört, findet er das „angesichts meines
       politischen Werdegangs gewöhnungsbedürftig“.
       
       Yücel befasst sich nicht nur mit seiner eigenen Geschichte, er erzählt dazu
       Schicksale anderer inhaftierter Journalisten und Mithäftlinge, schildert
       die politischen Entwicklungen in der Türkei und schlägt immer wieder den
       Bogen zur türkischen Historie. Yücels Ton verstrahlt große Herzenswärme und
       Liebe (nicht nur zu seiner Frau Dilek), bleibt aber stets sachlich.
       
       ## Kleiner Prinz im Wäschekorb
       
       Und doch behält er die eigenen Befindlichkeiten im Blick: „[2][Gefängnis]
       ist für mich weniger ein Ort, aus dem ich nicht raus kann, wann ich will,
       als ein Ort, an dem die Macht zu mir rein kann, wann sie will. Aber müsste
       ich die Frage, wie ich die Zeit im Gefängnis verbracht habe, mit einem
       einzigen Wort beantworten, es würde ‚kämpfen‘ lauten.“
       
       Hallaç liest so, dass man fast vergisst, dass es nicht der Autor selbst
       ist, dem man zuhört, und beinah erschrickt, wenn Yücel selbst zu Wort kommt
       – als er fast trotzig den Text verliest, den er in einer Ausgabe des
       „Kleinen Prinzen“ im Wäschekorb aus der Haft schmuggelte. Ein Plus für alle
       des Türkischen nicht mächtigen Hörer*innen ist zweifelsohne, dass sie sich
       um die korrekte Aussprache der Namen keine Sorgen machen müssen.
       
       26 Dec 2019
       
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