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       # taz.de -- Brasilianische Literaturverfilmung: Liebe hält besser als Blut
       
       > In „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ wird ein Brasilien gezeichnet,
       > das sich mit marginalisierten Frauen solidarisiert.
       
   IMG Bild: Der Film rückt das oft unsichtbare Leben marginalisierter Frauen in den Fokus
       
       Schon die ersten Bilder setzen den Ton: feuchttropische Flora und Fauna, es
       zirpt, raschelt und rauscht im Regenwald, lange bevor die beiden Schwestern
       Gusmão zu sehen sind, die sich auf dem Rückweg vom Strand im grünen
       Dickicht aus den Augen verlieren. Ihr Rufen nacheinander ist wie ein
       Vorhall auf die bevorstehende Trennung und die jahrelange Sehnsucht, von
       der die beiden jungen Frauen in dem Moment noch nichts ahnen, in Karim
       Aïnouz’ klug konstruiertem, sinnlich-überbordenden Melodram.
       
       Aus den verzweifelten Rufen werden alsbald Briefe, die sich Guida und
       Eurídice ins Ungewisse schreiben, ohne zu ahnen, dass sie längst wieder in
       derselben Stadt leben, Rio de Janeiro, und ihr autoritärer Vater alles
       daransetzt, dass sich seine Töchter nie wieder begegnen.
       
       In der Ära, in der „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ spielt, den
       fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, galt das Genre des Melodrams, in
       dessen opulentem Gewand dieser Film nur scheinbar aus der Zeit gefallen
       wirkt, als „woman’s picture“, als Frauenfilm. Und das war nicht als
       Kompliment zu verstehen, allenfalls als vergiftetes. Diese auch als
       „women’s weepies“ oder „three-handkerchief movies“, also Schmonzetten
       verschrienen Filme handelten meist von Frauen in unglücklichen Ehen mit
       heimlichen Sehnsüchten und unerfüllten Lebensträumen und hatten keine Angst
       vor großen Gefühlen und Gesten.
       
       Und das damalige gesellschaftliche Klima mit seinen patriarchalen
       Strukturen, strikten Moralvorstellungen und felsenfesten sozialen und
       ethnischen Abgrenzungen bot diesen Geschichten reichlich Nährboden. Der vor
       den Nazis aus Deutschland nach Hollywood geflohene Regisseur Douglas Sirk
       war ein Meister darin.
       
       Angeeignete Genrekonventionen 
       
       Seine Filme wie „Was der Himmel erlaubt“ wurden aber erst sehr viel später
       gewürdigt durch Filmemacher wie Rainer Werner Fassbinder („Angst essen
       Seele auf“), Pedro Almodóvar („Alles über meine Mutter“) und Todd Haynes
       („Far from Heaven“), die sich Jahrzehnte danach auf ihn beriefen und mit
       den Mitteln des Melodrams komplexe, autarke Frauenfiguren etablierten und
       sie zur Kritik an Patriarchat, Politik und Sexualmoral nutzten.
       
       Nicht von ungefähr erzählen diese (größtenteils schwulen) Regisseure aus
       einer dezidiert queeren Perspektive mit weiblichen Figuren im Zentrum. Auch
       Aïnouz nutzt diese Genrekonventionen und macht etwas zutiefst
       Eigenständiges und trotz historischen Rückbezugs ganz Gegenwärtiges daraus,
       ein Melodram, wie es so nur im tropischen Brasilien verortet sein kann.
       
       Der Film beruht auf Martha Batalhas 2016 erschienenem Debütroman „Die
       vielen Talente der Schwestern Gusmão“ und erzählt voller Empathie vom Leben
       dieser beiden eigensinnigen Frauen, wie die unstete Guida (Julia Stocker)
       Anfang 20 mit einem griechischen Seemann durchbrennt und die eher
       schüchterne Eurídice (Carol Duarte) zum Musikstudium nach Wien will und
       ihrem Streben nach Glück, das der strenge Vater immer wieder verhindert.
       
       Guida wird nach ihrer Rückkehr, alleinstehend und schwanger, von der
       Familie verstoßen, Eurídice findet sich alsbald in einer Ehe wieder mit
       einem tumben, übergriffigen Mann, den sie nicht liebt und der ihre
       künstlerischen Ambitionen torpediert. Zwei Frauen, die sich jahrelang
       vermissen und versuchen, im Hyper-Machismo Brasiliens zu überleben, in
       verschiedenen Vierteln Rios, die Welten voneinander entfernt sind.
       
       Kein plumpes Empowerment 
       
       Der 1966 im brasilianischen Fortaleza geborene Aïnouz lebt seit Jahren in
       Berlin, wo er Teile von „Futuro Beach“ (2014 im Wettbewerb der Berlinale)
       und zuletzt auch den Dokumentarfilm „Zentralflughafen THF“ über die im
       ehemaligen Flughafen Tempelhof lebenden Geflüchteten gedreht hat.
       Aufgewachsen ist er im wirtschaftsschwachen Nordosten Brasiliens, als Sohn
       einer alleinerziehenden Mutter, der algerische Vater hatte die Familie früh
       verlassen. Erfahrungen, anders zu sein, nicht ganz dazuzugehören, hat er
       auch später als schwuler Mann in seiner erzkatholischen und patriarchal
       geprägten Heimat.
       
       Diese Differenz- und Diskriminierungserfahrungen motivierten und
       sensibilisierten ihn für diese Geschichte widerständiger und solidarischer
       Frauen, die ihn nach eigenem Bekunden auch an das Leben seiner Großmutter
       erinnerte. Die interessanteste Nebenfigur ist dabei Guidas Vermieterin und
       engste Freundin Filomena, eine abgeklärte und stolze Ex-Prostituierte, die
       für sie und deren kleinen Sohn zu einer Art Ersatzmutter und Wahlfamilie
       wird. „Stadtgeschichten“-Autor Armistead Maupin prägte in seinen Memoiren
       dafür einmal den schönen Begriff der „logischen Familie“. Guida drückt es
       im Film so aus: „Nicht Blut verbindet eine Familie, sondern Liebe“.
       
       „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ rückt damit, wie der Originaltitel „A
       vida invisível“ andeutet, das oft unsichtbare Leben marginalisierter Frauen
       in den Fokus, ohne plumpes Empowerment zu liefern wie jüngst die
       Hollywoodproduktion „Hustlers“. Und auch wenn Aïnouz’ Film nicht konkret
       auf die politische Lage im heutigen Brasilien Bezug nimmt, schwingt doch
       merklich mit, dass es eine gesellschaftliche Realität gibt, die sich gegen
       das [1][Weltbild des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro] behauptet.
       Er zeigt dies durch eine stille Wut, farbenfroh und ohne Angst vor
       sinnlicher Opulenz. Gerade durch die artifizielle Überhöhung schafft der
       Film eine zeitlose Reflexion und eine emotionale Authentizität, die zu
       Tränen rührt.
       
       22 Dec 2019
       
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