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       # taz.de -- Armutsforscher zur SPD-Spitze: „Hysterische Reaktionen“
       
       > Christoph Butterwegge im Interview über die neue SPD, Ulf Poschardts
       > Kritik der hässlichen Bonner Republik und sein Buch „Die zerrissene
       > Republik“.
       
   IMG Bild: Als Deutschland für Poschardt Scheiße aussah, weil die SPD Egalität verordnete: Parteitag 1975
       
       taz: Herr Butterwegge, Sie wollten am Montag in Frankfurt mit Norbert
       Walter-Borjans Ihr neues Buch [1][„Die zerrissene Republik“] vorstellen. Am
       Ende mussten sie es aber ohne ihn machen, weil er jetzt SPD-Vorsitzender
       wird und keine Zeit mehr hatte. Wie nehmen Sie die Debatte um die neue
       SPD-Führung war? 
       
       Christoph Butterwegge: Sowohl innerhalb der SPD als auch von den
       Mainstream-Medien gibt es massiven Druck auf die neue Spitze – verbunden
       mit dem absurden Vorwurf, Linksradikale übernähmen die Partei. Vielleicht
       tragen aber gerade die hysterischen Reaktionen auf eine demokratische Wahl
       dazu bei, dass in der SPD eine Aufbruchstimmung entsteht, vom „Agenda“-Kurs
       abzurücken. Schließlich ist mit Olaf Scholz derjenige Minister gescheitert,
       der als letzter Spitzenrepräsentant für diesen Kurs steht.
       
       Mein Kollege Jörg Wimalasena von Zeit-Online hat getwittert: „Mir hat die
       Zeitungslektüre der vergangenen Tage noch einmal vor Augen geführt, in
       welcher intellektuellen und medialen Atmosphäre die Agenda 2010 gedeihen
       konnte.“ 
       
       Das gesamte Establishment ist durch die Entscheidung der SPD-Mitglieder
       merklich aufgeschreckt und verunsichert. Dabei macht eine Schwalbe ja noch
       keinen Sommer, auch wenn sie als Pärchen auftritt. Schließlich ist die SPD
       keine andere Partei, als sie es vor vier Wochen war, nur weil Norbert
       Walter-Borjans und Saskia Esken an der Spitze stehen. Die Befürworter der
       Schwarzen Null, der neoliberalen Reformen und des Sozialabbaus werden aber
       ungehalten, wenn ihr Kurs in Frage gestellt wird. Als Kritiker bekommt man
       sofort den Unmut jener zu spüren, die von der wachsenden Ungleichheit in
       Deutschland profitieren.
       
       Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt hat vor wenigen Tagen ein [2][„Lob der
       Ungleichheit“] geschrieben. Da kommen Sie auch drin vor … 
       
       … auf kuriose Weise.
       
       „In Medien“ – also auch jetzt von uns – „werden Leute als Experten hofiert,
       die schon als Bundespräsidenten-Kandidaten der Linkspartei gescheitert
       sind“, schreibt Poschardt und meint damit Sie. 2017 sind Sie gegen
       Frank-Walter Steinmeier angetreten.
       
       Es war kein Scheitern, weil ich zu den 94 Stimmen der Linken in der
       Bundesversammlung weitere 34 Stimmen auf mich vereint habe. Ich bin in
       diese Wahl ja nicht mit dem Ziel gegangen, mehr Stimmen als der gemeinsame
       Kandidat von SPD, CDU, CSU, FDP und Grünen zu bekommen, sondern wollte ein
       dreistelliges Ergebnis schaffen. Sämtliche Kommentatoren haben mein
       Abschneiden als persönlichen Achtungserfolg gewertet. Poschardts gehässiger
       Satz zeigt nur, wie verschnupft Konservative und Neoliberale reagieren,
       wenn sich jemand um das höchste Staatsamt bewirbt, der einen Finger in die
       Wunde der Armut und Ungleichheit legt.
       
       „Eine globale Oberschicht blickte schon damals entsetzt auf die
       bundesdeutsche Eleganzarmut, in der die Jacobs-Kaffee-Reklame und die
       Drombuschs die Speerspitzen bürgerlicher Arriviertheit repräsentierten“,
       schreibt Poschardt über das Nachkriegsdeutschland. Wenn ich das richtig
       verstehe, heißt das: Die Reichen hatten Geschmack, durften das aber wegen
       des Gleichheitsanspruchs in Deutschland nicht zeigen – und deshalb sah
       Deutschland einfach schrecklich aus.
       
       In den fünfziger Jahren hat sich das westdeutsche Bildungs- und
       Besitzbürgertum darüber aufgeregt, dass nun auch Proleten im Urlaub nach
       Italien oder Spanien fuhren. Beim Konsum gab es scheinbar eine soziale
       Nivellierung, was Helmut Schelsky mit seiner einflussreichen Formel der
       „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zum Ausdruck gebracht hat. Dabei
       handelte es sich nur um eine Pseudoegalität. Denn auf Angleichungen in der
       Konsumsphäre zu schauen, lenkte davon ab, dass sich bei Familien, denen
       große Unternehmen gehörten, ein enormer Reichtum anhäufte. Flick fuhr nicht
       nach Rimini, dem Sehnsuchtsort vieler Bundesbürger.
       
       Einen Punkt macht Poschardt, indem er auf den Gini-Koeffizienten bei
       Einkommen eingeht, der sich von 2005 an bis heute kaum verändert hat – es
       ist nicht alles ungleicher geworden. Hat er da denn nicht recht? 
       
       Es ist ein statistischer Taschenspielertrick, auf die Einkommen zu schauen.
       Entscheidend für die Reichtumskonzentration ist nämlich das Vermögen. Beim
       Einkommen beträgt der Gini-Koeffizient 0,29, beim Vermögen ist er auf 0,79
       gestiegen und belegt die größte Reichtumskonzentration in der Euro-Zone.
       Man kann von einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur in Deutschland
       sprechen. Denn weit sind wir von den Vereinigten Staaten mit 0,82 nicht
       mehr entfernt – allen ideologischen Verbrämungen der Bundesrepublik als
       „Soziale Marktwirtschaft“ zum Trotz. Bei einem Gini-Koeffizienten von 1,0
       würde einem Hyperreichen alles gehören.
       
       Wie passt die deutsche Sonderkonjunktur inmitten der Eurokrise zu Ihrer
       These? 
       
       Schon zuvor, etwa ab 2005, sank durch das Anziehen der Weltkonjunktur die
       hohe Arbeitslosigkeit. Dies bewirkte aber keinen Rückgang der Armut, weil
       infolge der „Agenda“-Reformen und der Hartz-Gesetze mehr prekäre
       Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Auch die Lohnquote stieg nicht. Laut
       DIW-Angaben sanken die Reallöhne von 40 Prozent der Beschäftigten im
       Vergleich zu den 90er Jahren sogar. Es gab mehr Armut trotz Arbeit, aber
       auch mehr Reichtum, denn niedrige Löhne bedeuten hohe Gewinne.
       
       Die SPD steuert seit 2013 in der GroKo dagegen. Mit dem Mindestlohn, jetzt
       mit der Grundrente. Reicht Ihnen das nicht? 
       
       Die Große Koalition macht keine Politik gegen Armut und Ungleichheit. Der
       deutsche Mindestlohn ist zwar ein Fortschritt, aber immer noch der
       niedrigste in ganz Westeuropa. Auch die Grundrente ist kein „riesiger Sieg“
       der SPD, wie Olaf Scholz behauptet, sondern nur ein sozialpolitisches
       Trostpflaster. 1,5 Millionen alte Menschen sollen mit höchstens 1,5
       Milliarden Euro jährlich bessergestellt werden. Das sind durchschnittlich
       80 Euro im Monat für jeden Grundrentner – kaum mehr als ein staatliches
       Almosen. Die Armutsrisikoschwelle der EU liegt bei 999 Euro für einen
       Alleinstehenden. Mit der Grundrente erreicht man im Bundesdurchschnitt
       gerade mal 890 Euro. Die Grundrentner sollten einen Lohn für ihre
       Lebensleistung erhalten, bleiben aber im Armutsbereich.
       
       Sie übernehmen das SPD-Wording einer „Lebensleistung“, für die die
       Grundrente ausgezahlt werden soll. Den Begriff verstehe ich so, dass
       diejenigen, die die 35 Jahre Beitragszeit als Voraussetzung für die
       Grundrente nicht erfüllen, also viele Hartz IV-Empfänger, keine
       Lebensleistung vollbracht haben. Sie sehen in der Grundrente nicht das
       Bedürfnis der SPD, erneut zwischen hart arbeitender Bevölkerung und
       angeblich faulen Arbeitslosen zu unterscheiden? 
       
       Wenn man Menschen nach 35 Jahren Arbeit, Kindererziehung oder Pflege von
       Angehörigen besserstellt, weil sie von ihrer Minirente nicht leben können,
       wertet man damit niemanden ab. Auch wer die Anspruchsvoraussetzungen für
       die Grundrente nicht erfüllt, hat eine Lebensleistung erbracht, die
       angemessen honoriert werden muss. In einem reichen Land wie dem unsrigen
       müssen alle Menschen in Würde leben können. Deshalb bin ich ja auch für die
       Überwindung von Hartz IV und für höhere Regelbedarfe der Grundsicherung.
       
       Zum Schluss noch einmal Poschardt: „Eine freie Gesellschaft produziert
       Ungleichheit. Eine erfolgreiche Gesellschaft toleriert soziale Unterschiede
       und besteht auf Chancengleichheit, die besonders vielen fleißigen Menschen
       den Aufstieg zu Wohlstand und Reichtum ermöglicht.“ Wie sehen Sie das? 
       
       Eine kapitalistische Gesellschaft erzeugt Ungleichheit, die – wie ich in
       meinem Buch belege – unter dem Einfluss des Neoliberalismus in
       unerträglicher Weise gewachsen ist. Es geht auch gar nicht um
       Gleichmacherei, sondern um die Verpflichtung des Staates, die Ungleichheit
       zu verringern und für einen sozialen Ausgleich zu sorgen.
       
       6 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/produkt_produktdetails/42606-die_zerrissene_republik.html
   DIR [2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus203716604/Soziale-Unterscheide-Eine-freie-Gesellschaft-produziert-Ungleichheit.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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