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       # taz.de -- Sexualisierte Gewalt im Sport: Hilfloses Bemühen
       
       > Ein Judotrainer sitzt in U-Haft, weil er Kinder missbraucht haben soll.
       > Konzepte gegen sexualisierte Gewalt im Sport werden an der Basis häufig
       > nicht umgesetzt.
       
   IMG Bild: Massives Problem im Sport: Kinderschutz wird vielerorts nicht als relevantes Thema anerkannt
       
       Zwölf Jahre lang soll das Verbrechen möglich gewesen sein. Von 2006 bis in
       den November 2018. Mindestens sechs Jungen im Alter von zehn bis sechzehn
       Jahren sollen betroffen sein. Der 42-jährige Beschuldigte sitzt seit 18.
       November 2019 in Untersuchungshaft.
       
       Das sind die blanken Zahlen, welche die Berliner Polizei jüngst
       veröffentlichte. Sie beziffern den offenbar sehr begründeten Verdacht
       regelmäßiger sexueller Übergriffe eines Trainers in einem Judoverein im
       Stadtteil Tegel. Wobei die Zahlen möglicherweise noch nach oben korrigiert
       werden müssen. Thomas Jüttner, der Präsident des Judo-Verband Berlin, sagt:
       „Wir in der Berliner Judogemeinde sind erschüttert – vor allem von der
       Größenordnung der Vorwürfe, die im Raum stehen.“
       
       Der Verein, um den es geht, ist in der Szene bekannt. Als einziger Berliner
       Klub gewann dieser bei den Deutschen Meisterschaften 2018 in allen drei
       Altersklassen (Junioren, Jugend, Männer) eine Medaille. Gegründet hat ihn
       der Beschuldigte, bis vor Kurzem Trainer und Vorsitzender in Personalunion.
       Seine Frau übte das Amt der Schatzmeisterin aus, der Stiefsohn war auch als
       Trainer tätig. Eine Art Familienunternehmen wie so mancher kleinerer
       Verein. Zu Beginn des Jahres waren 28 Erwachsene und 71 Minderjährige als
       Mitglieder gemeldet.
       
       Die Geschichte aus Tegel erzählt so einiges über die Schwierigkeiten im
       Sport im Kampf gegen sexualisierte Gewalt, obwohl sich durchaus etwas getan
       hat. Jüttner sagt: „Wir haben unabhängig von dem Vorfall in Tegel im
       Verband dieses Jahr eine Kinderschutzkonzeption auf den Weg gebracht.“ Dazu
       angeregt sei man durch die Arbeit des Deutschen Judo-Bundes gewesen, der
       seit zwei Jahren sich intensiv mit dem Thema befasse. Dieser wiederum hat
       sich von der Deutschen Sportjugend inspirieren lassen, die
       Jugendorganisation des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die sich
       federführend bundesweit für Präventionskonzepte stark macht.
       
       ## Trägheit an der Basis
       
       Das wachsende Bewusstsein an der Spitze wird jedoch ausgebremst durch die
       Trägheit an der Basis. Bei den 90.000 Sportvereinen in Deutschland fehlt es
       oft an Verständnis für die Problematik. Bei einer repräsentativen Umfrage
       gaben [1][nur 50 Prozent der Vereine] an, dass das Thema Prävention gegen
       sexualisierte Gewalt für sie eine Relevanz hätte. Das berichtet die Studie
       Safe Sport im Jahr 2016.
       
       Auffällig geworden ist der gerade verhaftete Berliner Trainer, beim
       Deutschen Judo-Bund (DJB) bereits im Februar. Anika Walldorf, beim DJB für
       Kinderschutz zuständig, erinnert sich: „Im Februar hat mich eine Mutter aus
       diesem Verein erstmals kontaktiert. Sie ist durch unseren Newsletter auf
       unseren neuen Ehrenkodex zur Prävention sexualisierter Gewalt aufmerksam
       geworden und hat mich darauf hingewiesen, dass der Trainer bestimmte dort
       aufgelistete Verhaltensregeln nicht einhält.“ Bei Lehrgängen im Ausland
       hätten sich etwa Kinder auch über Nacht im Privatbereich des Trainers
       aufgehalten. Einen Missbrauchsfall hat diese Frau, berichtet Walldorf, bis
       heute nicht angezeigt, aber sie wollte erreichen, dass der Coach den neuen
       Ehrenkodex sofort unterschreibt.
       
       Zwei Wochen später rief der Beschuldigte in Frankfurt an und erklärte, dass
       er nicht unterschreiben wolle. Walldorf sagt: „Wir haben sehr lange und
       vergebliche Diskussionen darüber mit ihm geführt.“ Er argumentierte, der
       Verein sei klein, die Eltern wären mit seiner Arbeit einverstanden, es gäbe
       doch überall Ausnahmen. „Ein ungutes Bauchgefühl“, sagt Walldorf, habe sie
       damals schon gehabt, aber es gelte die Unschuldsvermutung, wenn es keine
       gegenteiligen Beweise gäbe.
       
       Sie habe daraufhin den damaligen Präsidenten des Judo-Verbandes Berlin
       (JVB), Johannes Meißner, informiert, der Ende März aus dem Amt ausschied.
       Von dem Austausch zwischen dem Verein und dem DJB im Februar wissen aber
       weder der neue Präsident Thomas Jüttner noch Knut Feyerabend, der damals
       bereits im Vorstand war, etwas.
       
       ## Schwieriges Dilemma
       
       Im Juli wandten sich dann zwei Elternpaare an die Kinderschutzbeauftragte
       des Landessportbunds Berlin (LSB). Dieses Mal ging es um den konkreten
       Vorwurf des sexuellen Missbrauchs. Davon weiß man beim Judo-Verband Berlin.
       LSB-Direktor Friedhard Teuffel sagt: „Eine wichtige Aufgabe war es für uns,
       die Eltern zu beraten, ihnen Informationen an die Hand zu geben, ihnen
       Fachberatungsstellen zu vermitteln.“
       
       Kinder trainiert hat der Beschuldigte allerdings bis zu seiner Festnahme
       Mitte November. Feyerabend, der seit Oktober auch Kinderschutzbeauftragter
       beim JVB ist, erzählt, einige Eltern aus dem Verein hätten sich darüber
       sehr beschwert. Als Präsidium könne man jedoch nicht in die inneren
       Angelegenheiten eines Vereins eingreifen.
       
       Teuffel sagt dazu: „Das Landeskriminalamt und der Landessportbund Berlin
       haben, um die laufenden Ermittlungen voranzutreiben, zu jeder Zeit eng
       miteinander kooperiert. Die laufenden Ermittlungen sollten nicht gefährdet
       werden. Auch Elternteile, die sich im Vertrauen an uns gewendet haben,
       waren über unsere Vorgehensweise informiert. Es gab Eltern, die uns gebeten
       haben, die uns anvertrauten Informationen erst mal nicht weiterzugeben.“
       Musste der akut nötige Kinderschutz in den letzten Monaten für
       Kinderschutzermittlungen aus der Vergangenheit zurückstehen? Ein
       schwieriges Dilemma.
       
       Doch was nun? Anika Walldorf vom DJB stellt fest: „Wir haben sehr wenig
       Instrumente, um gegen solche Leute vorzugehen. Die Frage ist jetzt vor
       allem auch, was passiert, wenn seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird
       und er wieder in einem Verein trainieren möchte. Was können wir im Sinne
       des Kinderschutzes tun?“ Wenn er sich bei einem kleinen Verein anmelden
       würde, bekäme man das nicht unbedingt mit. Auch Knut Feyerabend vom
       Judo-Verband Berlin stellt eine gewisse Machtlosigkeit fest: „Das Problem
       ist, dass wir zu dem Verein nur über den Vereinsvorsitzenden Kontakt
       aufnehmen können. Das war in diesem Fall der Beschuldigte. Andere Adressen
       von Vereinsmitgliedern haben wir schon aus Datenschutzgründen nicht. Es
       wäre hilfreich gewesen, wenn ich mich an einen Kinderschutzbeauftragten im
       Verein hätte wenden können.“
       
       ## Problem des Prinzips Freiwilligkeit
       
       Den Kinderschutz werde man detaillierter in die Satzung aufnehmen, kündigt
       JVB-Präsident Jüttner an. Man werde den Vereinen darin empfehlen,
       Kinderschutzbeauftragte zu benennen. Verpflichtend auferlegen könne man das
       aber nicht.
       
       Dort, wo der Sport vom Prinzip Freiwilligkeit lebt, wird auch der
       Kinderschutz zu einer freiwilligen Angelegenheit. Beim Landessportbund
       versucht man es deshalb mit dem Anreiz der Belohnung. Teuffel erklärt: „Wir
       sind unabhängig von dem aktuellen Fall dabei, unser seit 2011 bestehendes
       Konzept zu erweitern. Seit diesem Jahr arbeiten wir an der Ausarbeitung
       eines Schutzsiegels. Vereine sollen es ausgestellt bekommen, die freiwillig
       Maßnahmen zum Kinderschutz ergreifen.“
       
       Erforderlich für die Auszeichnung sind unter anderem das nachgewiesene
       erweiterte Führungszeugnis des Trainerpersonals, besuchte
       Kinderschutz-Schulungen, die Einsetzung einer Ansprechperson für
       sexualisierte Gewalt im Verein.
       
       Zudem plane man die Vereine zu entlasten, um ihnen Kapazitäten zu geben,
       sich um Themen wie Kinderschutz zu kümmern. „Wir wollen anbieten, dass die
       Klubs zum Selbstkostenpreis etwa die Mitgliederverwaltung und die
       Buchhaltung abgeben können. Wir wollen eine Gemeinschaftslösung schaffen.“
       
       ## Mehr Missbrauchsfälle als in der Katholischen Kirche
       
       Das Bemühen, an der Basis etwas zu bewegen, ist zu erkennen. Auch Teuffel
       nimmt positive Anzeichen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt wahr: „Es
       vollzieht sich gerade ein Bewusstseinswandel, dass Betroffene eher den Mut
       finden, sich Hilfe zu suchen.“ Das Engagement der Eltern, die den Fall in
       Tegel zur Anzeige gebracht haben, ist für ihn beispielgebend. Allerdings
       konnte der Trainer seine mutmaßlichen Verbrechen sehr lange unbehelligt
       ausüben in einer Zeit, in der mehr über sexualisierte Gewalt gesprochen
       wird als je zuvor.
       
       Vor wenigen Wochen erst wurde eine Studie der Uniklinik Ulm publiziert,
       deren vorab durchgesteckte Zahlen [2][im Sommer bereits] große
       Aufmerksamkeit erregt haben. Die Befragung von rund 2.500 Menschen ergab,
       dass die Anzahl sexueller Missbrauchsfälle im Kontext des Sports etwa
       genauso hoch war wie in dem der katholischen und evangelischen Kirche
       zusammen. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung kann man von 200.000
       Missbrauchsfällen im deutschen Sport ausgehen, heißt es in der Studie.
       
       Allein die Dimension zeigt, wie viele Fälle von sexueller Gewalt im
       deutschen Sport vergraben sein müssen. [3][Die Kommission] zur Aufarbeitung
       von sexuellem Kindesmissbrauch der Bundesregierung, die sich dieses Jahr
       bewusst dem Sport zuwendet, hat in dieser Woche Handlungsempfehlungen zur
       Aufarbeitung in Institutionen vorgestellt und betont, dass Prävention auf
       Ergebnisse von Aufarbeitung angewiesen ist.
       
       Dazu müssten mehr Finanzmittel bereitgestellt werden, um unabhängige
       Untersuchungen zu ermöglichen. Der Sport scheint mitunter überfordert. Vor
       drei Wochen berichtete die [4][Frankfurter Rundschau], dass im
       saarländischen Judoverband ein Missbrauchsverdacht einer Mutter ignoriert
       wurde. Anika Walldorf vom DJB sagt, sie werde der Geschichte nachgehen.
       Bislang sei sie nicht dazu gekommen.
       
       Und im Fall des Tegeler Judovereins wartet sie derzeit auf Antwort des
       neuen Vorsitzenden. Sie hat ihm eine Frist bis Montag gesetzt, auf den
       Vorschlag einer Mutter im Verein zu reagieren. Diese hatte angeregt, einen
       Elternabend zu organisieren, um mit Hilfe einer professionellen
       Organisation mögliche weitere Missbrauchsfälle aufzudecken. Bis zum
       Donnerstag hatte er nicht geantwortet.
       
       8 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.sueddeutsche.de/panorama/sexuelle-uebergriffe-im-jugendsport-bist-du-alleine-mit-dem-trainer-1.4136979
   DIR [2] https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-missbrauch-im-sport-doppelt-so-viele-faelle-wie.890.de.html?dram%3Aarticle_id=453723
   DIR [3] https://www.aufarbeitungskommission.de/
   DIR [4] https://www.fr.de/panorama/klinik-skandal-homburg-mutmasslich-hunderte-kinder-sexuell-missbraucht-zr-13211925.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Kopp
       
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