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       # taz.de -- Umschwung im US-Justizsystem: Ende eines Dogmas
       
       > Das US-Strafrechtssystem ist extrem ungerecht. Gut, dass mehr progressive
       > Staatsanwälte ins Amt kommen.
       
   IMG Bild: Findet gerade eine leichte Öffnung der rigiden Strafjustiz der USA statt?
       
       Dass das amerikanische Strafrechtssystem marode ist, ist kein Geheimnis. Es
       zeigt sich an der Spitze, wo die Republikaner Gerichte mit ihnen gewogenen
       Richtern besetzen und wohlhabende Pädophile Deals mit Staatsanwälten
       abschließen, und noch mehr ganz unten, wo die Schwachen betrogen und ihnen
       grundlegende Rechte verweigert werden.
       
       Die deprimierenden Fakten rund um die Masseninhaftierung können viele
       Liberale sie wie eine Liturgie aufsagen: Obwohl dort nur fünf Prozent der
       Weltbevölkerung leben, beherbergen die USA ein Fünftel der Gefangenen
       weltweit. Seit 1980 ist die Zahl der bundesstaatlichen Gefangenen um 800
       Prozent gestiegen. Afroamerikaner werden fast sechsmal so häufig inhaftiert
       wie Weiße; Hispanoamerikaner mehr als dreimal so häufig. Natürlich ist das
       kein Zufall. Sondern, wie Michelle Alexander in ihrem 2010 erschienenen
       Buch „The New Jim Crow“ argumentiert, ein „verblüffend umfassendes und gut
       getarntes System der rassistischen Sozialkontrolle“.
       
       Der öffentliche Aufschrei gegen diesen Zustand verschmolz 2013 mit der
       „Black Lives Matter“-Bewegung, als die Menschen auf die Straße gingen, um
       gegen die Kriminalisierung des Schwarzseins in den USA zu demonstrieren.
       Mitangestoßen von BLM kandidierten eine Reihe von Menschen für die
       Kandidatur als „District Attorney“, also des Bezirksstaatsanwalts; diese
       Ämter werden in den Vereinigten Staaten durch Wahlen besetzt. 2016 gewannen
       so viele von ihnen, dass seitdem von einer basisdemokratischen,
       progressiven „DA-Bewegung“ die Rede ist. Und sie ist bitter nötig, um ein
       Gegengewicht zum zunehmenden Konservatismus der obersten Gerichte zu setzen
       – und auch zur mangelnden Vielfalt des Justizsystems: Von den 2.400
       gewählten Staatsanwälten in den USA sind etwa 95 Prozent weiß.
       
       In den vergangenen drei Jahren sind die amerikanischen Wähler dem Dogma
       „Härte zeigen gegen Kriminelle“ zunehmend mit Ablehnung begegnet. Sie haben
       in Großstädten wie Chicago, Philadelphia, Jacksonville, Houston und Denver
       liberale Strafverfolger*innen gewählt, aber auch in kleineren Bezirken. Im
       vergangenen Monat erst wurde in San Francisco Chesea Boudin gewählt, der
       Sohn zweier linksradikaler Aktivisten, die Jahrzehnte im Gefängnis
       verbracht haben. Viele Progressive sind also nun im Amt. Die Frage ist: Was
       können sie tatsächlich verändern?
       
       Bezirksstaatsanwälte sind in den USA unglaublich mächtig, sei es auf
       lokaler Ebene oder auf Ebene der Bundesstaaten. 88 Prozent der Inhaftierten
       in den Vereinigten Staaten haben sie hinter Gitter gebracht; der Rest sitzt
       in Bundesgefängnissen. Sie entscheiden, welche Fälle verfolgt werden, wegen
       welches Straftatbestands ermittelt und welches Strafmaß empfohlen wird.
       Angesichts der Tatsache, dass 90 Prozent der Fälle gar nicht erst vor
       Gericht landen, weil die Beschuldigten sich schuldig bekennen und einen
       Deal mit den Behörden machen, kann so ein Bezirksstaatsanwalt für Tausende
       den Ausschlag geben, ob sie wegen geringer Vergehen mit einer Vorstrafe
       durchs Leben gehen oder nicht.
       
       ## George Soros fördert progressive Staatsanwälte
       
       Es gibt keine offizielle Agenda oder dieser neuen, progressiven Generation
       von Strafverfolgern. Aber sie alle haben grob dieselben Ziele, die in die
       richtige Richtung gehen: Abschaffung von Barkautionen, Umkehrung
       unrechtmäßiger Verurteilungen, weniger Strafverfolgung von Prostitution und
       Drogengebrauch sowie Stärkung von Präventions- und
       Rehabilitationsmaßnahmen, um die Anzahl der Inhaftierten zu senken.
       
       Und genau deshalb werden sie auch gewählt. In Harris County, [1][Texas, der
       „Hauptstadt der Todesstrafe“], gewann Kim Ogg den Wahlkampf, indem sie
       versprach, die Zahl der Hinrichtungen zu reduzieren. In St. Louis entschied
       sich Wesley Bell, zu kandidieren, nachdem die örtliche Polizei einen
       unbewaffneten schwarzen Mann getötet hatte. In Philadelphia brachte Larry
       Krasner – der die Polizei der Stadt 75-mal verklagt hatte, bevor er ins Amt
       gewählt wurde – einen Großteil Stadt hinter sich, als er gelobte, das
       System der Barkaution zu beenden.
       
       Während die progressiven Strafverfolger einen wichtigen Verbündeten in
       [2][dem Unternehmer George Soros] haben, der zig Millionen Dollar für die
       Unterstützung reformorientierter Staatsanwälte ausgegeben hat, finden sich
       auch mächtige Feinde in Polizeigewerkschaften und -verbänden und in vielen
       Fällen in den lokalen Medien. Die National Police Association nannte den
       Vorschlag der Bostoner Staatsanwältin Rachael Rollins, kleinere Delikte
       nicht zu verfolgen, eine „klare und unmittelbare Gefahr“, und der Boston
       Globe veröffentlichte eine dreiteilige Serie, in der gefragt wurde, ob
       Rollins „die öffentliche Sicherheit gefährdet“, indem sie „Kriminelle vom
       Haken lässt“.
       
       Es gibt keine Beweise dafür, dass die Reform des Justizsystems die
       Kriminalität erhöht (und tatsächlich haben viele Studien das Gegenteil
       festgestellt), aber Daten über diese neue Generation von Strafverfolgern
       werden gerade erst erhoben. Es gibt allerdings erste politische Erfolge: In
       Philadelphia hat es Larry Krasner trotz der Blockade durch den Gesetzgeber
       geschafft, ein Programm einzuführen, das es jedem, der wegen Drogenbesitzes
       verhaftet wurde, erlaubt, die Anklage fallen zu lassen, wenn er beweisen
       kann, dass er sich in Behandlung befindet. In St. Louis schuf Wesley Bell
       eine unabhängige Staatsanwaltschaft, um polizeiliches Fehlverhalten zu
       untersuchen.
       
       Wenn die DA-Bewegung eines klarmacht, dann, dass die Unterstützung für die
       Reform des Strafverfolgungssystems über die Parteigrenzen hinweggeht. Eine
       kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 90 Prozent der Amerikaner der
       Meinung sind, dass das System geändert werden müsse, und 71 Prozent wollen
       die Zahl der Gefängnisinsassen reduzieren. Jahrzehntelang wurden Politiker
       belohnt, wenn sie sich für schärfere Gesetze und längere Strafen
       einsetzten. Jetzt scheint es so, als sei der Damm endlich gebrochen.
       
       3 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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