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       # taz.de -- Angriffe auf Lokalpolitiker: Es bleibt nicht bei Drohungen
       
       > 2019 war für viele Kommunalpolitiker und -politikerinnen in Deutschland
       > die Hölle. Wir haben mit vier von ihnen gesprochen.
       
   IMG Bild: Lokalpolitik wird zu einer gefährlichen Angelegenheit
       
       Das politische Jahr 2019 hat blutig begonnen: Am 7. Januar wurde [1][der
       Bremer AfD-Politiker Frank Magnitz attackiert] und landete mit
       geschwollenem Auge und einer Platzwunde am Kopf im Krankenhaus. Die
       zuständigen Behörden gingen von einer politisch motivierten Straftat aus,
       konnten jedoch bis heute keinen Täter ermitteln. Insgesamt 1241 politisch
       motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger wurden im Jahr 2019 bis
       zum 11. Dezember erfasst.
       
       Dazu zählen allerdings nicht nur Politiker, sondern unter anderem auch
       Beamte und Richter. Die meisten Angriffe (440) wurden laut einer Antwort
       des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der FDP durch Rechtsextreme
       verübt, 246 durch Linksextreme.
       
       Laut einer Umfrage der Zeitschrift „Kommunal“ für das ARD-Magazin „report
       München“ haben 40 Prozent aller Rathäuser schon einmal mit Stalking,
       Drohungen und Beschimpfungen zu tun gehabt. Der Soziologe Holger Lengfeld
       von der Universität Leipzig glaubt, dass es immer „kulturelle
       Modernisierungsverlierer“ geben wird, solange sich eine Gesellschaft auf
       dem Weg der kosmopolitischen Öffnung befindet.
       
       ## Lokalpolitiker als Eliten
       
       „Manche Bürger teilen die liberalen Vorstellungen nicht“, sagt er gegenüber
       der taz am wochenende. Bei diesem Bevölkerungsteil würde dann der Wunsch
       entstehen, gegen die staatlichen „Eliten“ aufzubegehren.
       
       Aber Moment: Seit wann gehören Lokalpolitiker zu den „Eliten“ dieses
       Landes? Wer ein populistisches Weltbild habe, nehme das so wahr, sagt
       Lengfeld. „Die Differenzierung geht komplett verloren.“ Eine [2][Umfrage
       unter Bürgermeisterinnen im Sommer] ergab, dass die Zahl der Attacken gegen
       Amtsträger und ihre Mitarbeiter innerhalb von zwei Jahren um 25 Prozent
       gestiegen ist.
       
       Schwärzester Tag mit Blick auf die politisch motivierten Kriminalität im
       Jahr 2019: [3][Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke
       im Juni]. Zum ersten Mal wurde in der Bundesrepublik ein Politiker von
       einem mutmaßlichen Rechtsterroristen umgebracht.
       
       Seit diesem Ereignis fühlen sich Lokalpolitiker zunehmend verunsichert:
       Deswegen lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) wenige Wochen
       nach der erschreckenden Tat 15 von ihnen ins Schloss Bellevue ein, um über
       das Thema „Bedrohung von politisch Verantwortlichen“ zu diskutieren.
       
       Was lässt sich gegen die Gewalt machen? Soziologe Lengfeld lobt die
       „wehrhafte Demokratie“ und den Plan von Innenminister Horst Seehofer (CSU),
       [4][den Verfassungsschutz mit hunderten neuen Stellen für die Arbeit gegen
       Rechtsextremismus aufzustocken]. Die taz am wochenende hat mit vier
       Lokalpolitikern gesprochen: Da ist der AfD-Mann, der nur knapp einem
       Brandanschlag entgangen ist.
       
       In das „Kiezmobil“ eines Berliner Christdemokraten wurde ätzende Säure
       gekippt. Die parteilose Pulsnitzer Bürgermeisterin muss drei Mal die Woche
       rohe Eier von ihren Sandsteinwänden kratzen. Und der ehemalige Hockenheimer
       OB, ein Sozialdemokrat, leidet noch heute an den Folgeschäden einer
       Prügelattacke.
       
       ## Alexander Herrmann, CDU
       
       Es ging alles so lustig los: 2015 schenkten Unterstützerinnen dem
       Lokalpolitiker Alexander Herrmann einen Trabi. „Mit einem Augenzwinkern“,
       wie er sagt: Immerhin wohnt er im Osten Berlins, in Marzahn-Hellersdorf, wo
       er mittlerweile Chef der CDU-Fraktion ist. Das „Kiezmobil“ sollte ihn im
       Wahlkampf unterstützen; auf den Seiten prangen Name und Bild des Juristen.
       
       Als mögliche Zielscheibe eines politischen Anschlags sah er sich nie. Er
       macht ja nur Kommunalpolitik: kaputte Straßen, Fußgängerüberwege,
       Schulessen. Nichts, weswegen man ihm „nach dem Leben trachten“ müsste, wie
       der 44-Jährige sagt. Im Januar ändert sich sein Blickwinkel. Zu dieser Zeit
       stand der Trabi auf einem Werkstattgelände in Kaulsdorf – und sah ziemlich
       demoliert aus: kaputte Außenspiegel, abgetretene Türgriffe, „da hatte sich
       einer ausgetobt“.
       
       Der Werkstattleiter will den Wagen wieder zum Laufen bringen, setzt sich
       hinein, repariert einiges. Am nächsten Morgen haben sich große Teile seiner
       Shorts aufgelöst. Außerdem klagt er über Schmerzen am Gesäß.
       
       Herrmann sagt, jemand habe „literweise“ ätzende Säure in die Sitze des
       Fahrzeugs gekippt. Er glaubt an eine gezielte Attacke: Sein Kiezmobil sei
       der einzige Politikerwagen auf dem Hof gewesen. Und wer klettert schon
       über die Mauer einer Werkstatt, um ein x-beliebiges Auto zu attackieren?
       Mit dem neu aufgebauten Trabi ist Herrmann noch immer unterwegs. Wo er ihn
       nachts parkt, will er aber lieber nicht verraten.
       
       ## Barbara Lüke, parteilos
       
       Die Bürgermeisterin von Pulsnitz hatte noch gar kein politisches Amt inne,
       [5][da wurde sie schon angefeindet.] Barbara Lüke war bei der Sächsischen
       Aufbaubank tätig, bevor sie 2016 Stadtoberhaupt in der Kleinstadt nahe
       Dresden wurde. Dort war sie für Insolvenzrecht verantwortlich, „die Böse
       von der Bank, die das Haus wegnimmt“, wie sie sagt. Sie war so gewaltigen
       Anfeindungen ausgesetzt, dass sie Polizeischutz benötigte. Streng genommen
       habe sie damals einen „viel gefährlicheren Job“ gehabt als heute, erzählt
       sie.
       
       Sie zählt zu den 15 Kommunalpolitikerinnen, die ins Schloss Bellevue
       eingeladen waren, um von ihren Bedrohungserfahrungen im Amt zu berichten.
       Bei ihr in Pulsnitz gehe es zwar nicht um das „Messer am Hals“, wie die
       parteilose Lüke berichtet, aber es gebe eine Art „Zermürbungstaktik“ gegen
       sie. Ein Beispiel sind die rohen Eier, die mittlerweile dreimal wöchentlich
       gegen ihr Haus geworfen werden. Das Problem: Sie wohnt in einer alten Villa
       mit Sandsteinwänden, die sich nur schwer säubern lassen. Manchmal ist sie
       bis spätnachts damit beschäftigt.
       
       Angefangen haben die Anfeindungen im letzten Herbst. Da hatte Lüke der
       rechtswidrigen Untervermietung von Garagen ein Ende gesetzt. „Das führte
       dazu, dass meine Tochter bedrängt wurde.“
       
       Am 11. Dezember war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Pulsnitz zu
       Gast. Thema: Gewalt gegen kommunale Amtsträgerinnen. Lüke wurde dann von
       Bewohnern „Profilierungssucht“ vorgeworfen.
       
       ## Dieter Gummer, SPD
       
       Ein Montagabend im Juli: Es klingelt an der Tür des Hockenheimer
       Oberbürgermeisters Dieter Gummer. Jemand bittet um ein Gespräch mit dem
       67-Jährigen. Was sich auf dessen Privatgrundstück in Böhl-Iggelheim in den
       kommenden Minuten abspielen würde, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht
       ahnen. Als der OB draußen in seinem Hof ankommt, schreitet ein Unbekannter
       durch das offen stehende Tor und schlägt dem Sozialdemokraten mit voller
       Wucht ins Gesicht.
       
       Gummer verliert das Gleichgewicht und kracht mit dem Kopf auf dem Boden.
       Eine Hirnblutung sowie ein Kieferbruch sind die Folge.
       
       Er verbringt knapp einen Monat im Krankenhaus, davon mehrere Tage auf der
       Intensivstation. Wegen der Hirnblutung müsse „der Schädel geöffnet und das
       Hämatom entfernt werden“, gibt er noch während der Zeit im Hospital in
       einem per E-Mail geführten Interview bekannt. Danach geht die Reha los. Mit
       der taz am Wochenende wollte Gummer nicht über seine Erfahrungen in diesem
       Jahr sprechen.
       
       Aus Kreisen der Hockenheimer SPD erfährt man aber, dass er noch heute unter
       den Folgeschäden der Hirnblutung zu leiden habe.
       
       Mehrere Monate nach der Tat musste der Genosse erneut operiert werden: Zwei
       Titanplatten wurden aus einer Bruchstelle entfernt. Ende August hat Gummer
       sein Amt nach 15 Jahren niedergelegt. Ein Täter konnte bis heute nicht
       ermittelt werden. Und das, obwohl die Staatsanwaltschaft eine Belohnung von
       5.000 Euro ausgesetzt hatte.
       
       ## Sebastian Koch, AfD
       
       Seine Freundin sei nachts durch Geräusche geweckt worden und habe einen
       Vermummten ins Innere der Gartenlaube blicken sehen, sagt Sebastian Koch.
       Das sei gegen 3.45 Uhr gewesen. Dann habe sie das Feuer bemerkt. „Es
       brennt, es brennt!“ So schildert der Vorsitzende des AfD-Kreisverbands
       Altmark-West in Sachsen-Anhalt den Fall, der im Juli Aufsehen erregte.
       
       Nach einem parteiinternen Sommerfest auf dem Gelände hatten seine Partnerin
       und er sich zur Nachtruhe in die Laube zurückgezogen.
       
       Der 32-Jährige wurde durch den Schrei der Freundin geweckt, blickte durch
       das Fenster und sah eine Stichflamme direkt neben dem Häuschen lodern.
       Ursache: ein brennender Benzinkanister. Er habe dann den Behälter von dem
       Gebäude weggetragen, erzählt er, „wenn ich gestolpert wäre, wäre ich mit 5
       Litern brennendem Benzin übergossen worden.“
       
       Doch alle blieben unverletzt. War das ein versuchter Brandanschlag auf ihn
       als AfD-Kreischef? Koch sagt, er sei „kein Freund von Mutmaßungen“. Das
       habe er damals auch der Polizei gesagt. Diese nahm Ermittlungen wegen
       versuchten Mordes auf.
       
       Der taz am Wochenende sagte er, ein Täter sei bis heute nicht ermittelt
       worden. An einen Zufall will der AfD-Mann nicht glauben: „Der Anschlag galt
       nicht der Laube.“ Sebastian Koch wäre es sogar lieber, wenn der Anschlag
       seiner Partei gegolten haben sollte. „Ich hoffe, dass es nicht gezielt
       gegen mich war, denn dann schläft man zu Hause auch nicht mehr gut.“
       
       27 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ueberfall-auf-Bremer-AfD-Chef-Magnitz/!5617668
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/buergermeister-drohungen-101.html
   DIR [3] /Mord-an-Walter-Luebcke/!5645244
   DIR [4] /Kampf-gegen-Rechtsextremismus/!5650896
   DIR [5] /Angefeindete-Buergermeisterin-in-Sachsen/!5645968
       
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