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       # taz.de -- Krieg in Nordsyrien: Auf der Flucht vor Assads Bomben
       
       > Im letzten Rebellengebiet hat eine Offensive der syrischen Regierung fast
       > eine Viertelmillion Menschen vertrieben. Hilfe gibt es für die wenigsten.
       
   IMG Bild: Viele Zivilisten fliehen Richtung türkischer Grenze, so wie bei Hazano am 24. Dezember
       
       BERLIN taz | Es ist eine Völkerwanderung, angeschoben von Angst. Während im
       Südosten des letzten syrischen Rebellengebiets Idlib die Regierungsarmee
       auf die Großstädte Ma’arat an-Nu’Man und Saraqab vorrückt, begleitet von
       Luftangriffen, entvölkert sich diese dicht besiedelte Gegend.
       
       Über 235.000 Menschen – genau gezählt: 46.184 Haushalte – sind dort nach
       neuesten Angaben der humanitären Koordinationsstelle der Vereinten Nationen
       (Ocha) vom 26. Dezember seit dem 12. Dezember in die Flucht getrieben
       worden – in bereits überlastete Gebiete weiter nördlich nahe der türkischen
       Grenze, wo die Versorgung jetzt schon nicht ausreicht.
       
       Es ist erst der Anfang. Die UN-Helfer rechnen mit insgesamt 350.000 neuen
       Vertriebenen in allernächster Zeit. 400.000 wurden bereits seit Beginn der
       Kämpfe um Idlib Ende April in die Flucht getrieben. Ohnehin sind die Hälfte
       der drei Millionen Einwohner des Rebellengebiets um Idlib, mit rund 9.000
       Quadratkilometern etwa so groß wie Korsika oder Zypern, Flüchtlinge aus
       anderen Teilen Syriens.
       
       Sie wurden in den vergangenen Jahren beispielsweise aus Aleppo oder der
       Ost-Ghouta bei Damaskus nach Idlib gebracht, als die Regierung ihre Städte
       und Dörfer eroberte, meist nach monatelangem Aushungern und wochenlangen
       Luftangriffen.
       
       Jetzt sind sie erneut auf der Flucht. Die Grenze zur Türkei ist dicht –
       [1][mit dem Segen Europas]. Die Beobachtungsposten der türkischen Armee in
       Syrien schützen die Menschen nicht. Über 5.000 Zivilisten sind den
       Luftangriffen seit April nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für
       Menschenrechte zum Opfer gefallen. Die zerstrittenen Rebellen halten nur an
       der Westfront ihres Gebietes stand; im Südosten sind in den vergangenen
       Wochen mehrere hundert Quadratkilometer verloren gegangen.
       
       „Ma’arrat An Nu’man und Umgebung sind jetzt fast menschenleer, was
       Zivilisten angeht“, heißt es im jüngsten Ocha-Lagebericht vom 26. Dezember.
       Der drei Tage zuvor erschienene Bericht führte aus: „Viele der vertriebenen
       Familien sind mehrere Tage lang aus der Luft angegriffen worden und gingen
       das Risiko ein, eine Straße zu benutzen, die regelmäßig bombardiert und
       beschossen wird.“
       
       Am 23. Dezember bestätigten die UN-Helfer noch 130.000 Fliehende, drei Tage
       später bereits 235.000. Tausende weitere Familien würden die Flucht nicht
       wagen – aus Angst, dass es kein Benzin mehr geben könnte oder weil sie
       nicht mehr können.
       
       „Der andauernde Beschuss und die Luftangriffe im Süden Idlibs, vor allem
       auf zivil besiedelte Gebiete, bedrohen das Leben von Frauen, Männern,
       Mädchen und Jungs, haben zu einer erheblichen Zahl von Toten und Verletzten
       geführt, einschließlich Kindern, und die psychosoziale Gesundheit von
       Kindern und ihren Fürsorgern erheblich beeinträchtigt“, so das unterkühlte
       Fazit des UN-Berichts. Die meisten Helfer – lokale Partner der in der
       Türkei ansässigen UN-Hilfswerke – sind selbst auf der Flucht.
       
       ## Ohne Zelt bei Dauerregen
       
       „Wie in der Steinzeit“ seien die Bedingungen, fasst das Hilfswerk Refugees
       International die Lage vor Ort zusammen: „Die Menschen rennen um ihr Leben
       und finden sich im kalten Winter unter freiem Himmel wieder.“
       
       Stadtbewohner suchen Zuflucht in anderen Städten und lassen sich nieder, wo
       sie können: in Moscheen, Schulen, Festhallen, Garagen, oder einfach auf der
       Straße. Andere begeben sich an die Ränder existierender Flüchtlingslager
       und hoffen, dass sie irgendwann ein Zelt und etwas zu essen bekommen –
       mitten im Winter.
       
       „Das Wetter und der Dauerregen gehören zu den größten Herausforderungen“,
       so Ocha. Manche Flüchtlingslager würden halb unter Wasser stehen,
       andernorts würden die Menschen im Schlamm und im Regen kampieren. Viele
       Familien brechen immer wieder neu auf, ohne zu wissen, wo sie bleiben
       können – samt Babys, Kleinkindern, Alten und Kranken.
       
       Selten geworden sind sauberes Wasser und medizinische Versorgung. In
       bewährter Manier bombardieren die syrischen und russischen Luftwaffen
       gezielt Krankenhäuser und Gesundheitszentren, obwohl – oder gerade weil –
       ihnen deren Koordinaten von der UNO übermittelt worden sind.
       
       ## 140.000 Kinder unter den Flüchtenden
       
       Das syrische Ärztenetzwerk SAMS zählt seit Ende April 72 Luftangriffe auf
       51 Gesundheitseinrichtungen. Mehrere große Krankenhäuser mussten den
       Betrieb komplett einstellen. Mobile Kliniken arbeiten unter unzumutbaren
       Bedingungen, eine verlässliche Medikamentenversorgung gibt es nicht.
       
       Die meisten Flüchtlinge haben keine Möglichkeit, Essen zuzubereiten, und
       müssen mit Fertigmahlzeiten statt Lebensmittelvorräten versorgt werden.
       Aber nur ein Drittel der neuen Vertriebenen wird laut Ocha derzeit
       versorgt. Unter den Fliehenden sind den Berichten zufolge 140.000 Kinder,
       die Hälfte davon unter fünf Jahre alt, und mehrere tausend Schwangere.
       
       69 schwerst unterernährte Kinder und 276 akut unterernährte Mütter wurden
       bislang identifiziert, Zehntausende von Frauen und Kindern müssen mit
       lebensrettender Nahrung, wie sie ansonsten in schweren Hungersnöten zum
       Einsatz kommt, am Leben gehalten werden. All das wird zumeist eher
       improvisiert. „Arbeit zum Aufbau lebensrettender Nahrungsvorräte wird
       mindestens zwei Wochen dauern“, vermeldet Ocha. „Es könnte zu Ausfällen
       kommen, wenn Waren nicht innerhalb der nächsten Woche eintreffen.“
       
       Nicht nur aus diesem Grund ist die Massenflucht in Idlib ein Wettlauf gegen
       die Zeit. Humanitäre Hilfe innerhalb des UN-Systems ist in Ermangelung
       einer Erlaubnis der syrischen Regierung – die keine unabhängigen
       Hilfsaktivitäten in ihrem Land zulässt – nur dank einer jährlich erneuerten
       UN-Resolution von 2014 möglich. Sie legt fest, über welche syrischen
       Grenzübergänge Hilfsgüter geliefert werden dürfen, und fordert Berichte
       darüber an. [2][Am 19. Dezember scheiterte die Routineerneuerung am Veto
       Russlands und Chinas.]
       
       Die geltende Autorisierung der Hilfe endet am 10. Januar 2020. Sollte bis
       dahin keine Lösung gefunden worden sein, dürfen die Menschen in Idlib
       streng genommen danach nicht mehr von außen versorgt werden. Von allen
       humanitären Katastrophen, die Syriens Bevölkerung in den vergangenen Jahren
       erleiden musste, wäre das die größte.
       
       29 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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