URI: 
       # taz.de -- Frauen in der Politik: Spinnen nicht, die Finnen
       
       > In dem nordischen Land wird die Politik vor allem von Frauen bestimmt.
       > Das ist dem jahrzehntealten Anspruch auf Gleichstellung zu verdanken.
       
   IMG Bild: Premierministerin Sanna Marin mit den Ministerinnen für Bildung, Finanzen und Inneres
       
       Berlin taz | Von 18 Minister*innen sind 11 weiblich. Und die fünf Parteien,
       die das Land regieren, werden von Frauen geführt. Vier von ihnen sind nicht
       einmal 35 Jahre alt. Klingt wie eine unglaubliche Nachricht, ist in
       Finnland aber Realität.
       
       Das Land hat mit [1][Sanna Marin nicht nur eine neue Regierungschefin], sie
       ist mit ihren 34 Jahren zudem die jüngste Premierministerin der Welt.
       Überhaupt liegen die Finnen mit einem Frauenanteil von 61 Prozent in
       politischen Spitzenpositionen und 47 Prozent Parlamentarierinnen weltweit
       vorn. Nur in Spanien gibt es noch mehr Ministerinnen, nämlich rund 65
       Prozent.
       
       Im Norden Europas ist der hohe Frauenanteil in der Politik sowie in
       Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und anderen Bereichen keine
       Besonderheit. Auch in Island, Norwegen und Dänemark regieren Frauen das
       Land. Im schwedischen Parlament, das zwar von einem Mann angeführt wird,
       ist seit Jahren nahezu die Hälfte der Abgeordneten weiblich.
       
       Was machen die Nordländer anders als Deutschland mit einem Frauenanteil im
       Bundestag von gerade mal 31 Prozent?
       
       ## 42 Väter in Elternzeit
       
       Ganz einfach: Der Gleichstellungsanspruch steht in Nordeuropa nicht erst
       seit ein paar Jahren verstärkt auf der politischen Agenda, sondern seit
       Jahrzehnten. In Schweden bespielsweise gibt es seit 1974 Elternzeit und
       Elterngeld. Bevor diese familienpolitischen Leistungen eingeführt wurden,
       wurde darüber in Schweden heftig debattiert. Am Ende mit dem Ergebnis, dass
       Väter öfter bei ihren Kindern und Frauen häufiger im Job zu finden waren.
       Heute nehmen 42 Prozent der schwedischen Väter Elternzeit.
       
       Das ist weltweit außergewöhnlich und brachte vor allem jungen Schweden die
       Zuschreibung „Latte-Papas“ ein. Denn ein Bild wundert zumindest auf den
       Straßen in schwedischen Großstädten niemanden mehr: Mehrere Männer, die
       einen Kinderwagen schieben, ein Bistroansteuern und dort einen Caffè Latte
       bestellen.
       
       Im Deutschland hingegen ist vielfach das – entgegengesetzte – Bild der
       „Macchiato-Mütter“ verbreitet: (Vor allem akademische) Frauen, die wegen
       der Kinder länger aus dem (gut bezahlten) Job aussteigen. Das ändert sich
       jetzt allmählich, hat aber tief ökonomische und patriarchal verankerte
       Ursachen. Die 1970er Jahre galten in Westdeutschland als das „Golden Age of
       Marriage and Family“, das Goldenen Zeitalter der Ehe und Familie: Der Mann
       holte das Geld ran, die Frau schmiss den Haushalt und versorgte die Kinder.
       Erst 1977 wurde das Gesetz abgeschafft, mit dem der Mann seiner Frau
       verbieten konnte, arbeiten zu gehen.
       
       Auch Island kann als Vorbild gelten: 1980 machte das kleine Land, das schon
       seit Jahren im internationalen Genderranking weit vorn rangiert, mit Vigís
       Finnbogadóttir als erstes Land der Welt eine Frau zur Präsidentin. Ein
       Erfolg, der auch dem Frauenstreik ein paar Jahre zuvor zu verdanken ist. Am
       24. Oktober 1975 legten Frauen mit einem fundamentalen Streik für gleiche
       Rechte das gesamte Land lahm. Finnbogadóttir sagte 1980 als neue
       Landeschefin zwar noch Sätze wie: „Nein, das kann ich nicht.“ Seitdem aber
       setzen sich die Frauen immer mehr durch. 2009 wählte das Land mit Jóhanna
       Sigurdóttir sogar eine offen lesbische Frau zur Regierungschefin. Und seit
       fast zwei Jahren gibt es ein Gesetz, das Frauen und Männern in Firmen mit
       mehr als 25 Mitarbeitenden gleichen Lohn für gleiche Arbeit garantiert. Der
       „Equal Pay Act“ ist weltweit ein Novum.
       
       ## Trotzdem keine Gender-Paradiese
       
       Dänemark gilt ebenfalls als Vorzeigestaat in Sachen Bildung und Norwegen
       als „Quoten-Land“. In Dänemark sorgt das hohe Ausbildungsniveau dafür, dass
       die Däninnen leicht einen Einstieg ins Berufsleben finden und das Land
       dadurch beim [2][europäischen Gleichstellungsindex] stets weit vorn landet.
       Norwegen beschloss 2003 als erstes Land der Welt, dass 40 Prozent in den
       Verwaltungsräten der börsennotierten Unternehmen mit Frauen besetzt sein
       müssen. Eine zuvor vereinbarte freiwillige Verpflichtung der Firmen zog
       nicht. Heute beträgt der Frauenanteil an Führungspositionen in Norwegen dem
       [3][Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung zufolge 41 Prozent].
       
       Das alles klingt super. Und das ist es auch. Gleichstellungs- und
       Gender-Paradiese sind die nordischen Länder trotzdem (noch) nicht. So gibt
       es – trotz des Equal-Pay-Gesetzes – in Island nach wie vor Lohnunterschiede
       zwischen Frauen und Männern. Ebenso in Norwegen und Schweden, wo
       öffentliche Steuererklärungen automatisch für gerechtere Bezahlungen sorgen
       sollen. Zudem wirken in Schweden und Norwegen beim Schachern um Posten noch
       immer Old-Boys-Netzwerke. Auch Sexismus und Partnerschaftsgewalt gehören in
       all diesen Ländern zum Alltag.
       
       Und dann ist da noch die Frage nach dem Alter. Es klingt schon gut, wenn
       die neue finnische Regierungschefin Sanna Marin Sätze sagt wie: „Ich habe
       nie an mein Alter oder mein Geschlecht gedacht, sondern an die Gründe, die
       mich in die Politik gebracht haben.“ Kann man das glauben? Hm. Vermutlich
       verbergen sich hinter dieser Aussage eher die – berechtigte – Sehnsucht und
       Forderung, weder aufs Geschlecht noch aufs Alter reduziert werden zu
       wollen. Doch am Ende sind es genau diese Aspekte, die für die Schlagzeilen
       in den vergangenen Tagen sorgten. Denn wo sonst auf der Welt bestimmen
       junge Frauen derart das politische Tagesgeschehen wie jetzt in Finnland?
       
       Eine echte Gleichstellung indes ist – in Nordeuropa und anderswo – erst
       dann erreicht, wenn weder Geschlecht noch Alter noch Herkunft noch sexuelle
       Identität noch noch noch eine Rolle spielen.
       
       11 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neue-Ministerpraesidentin-in-Finnland/!5645073
   DIR [2] https://ec.europa.eu/germany/news/20191015-gleichstellung_de
   DIR [3] https://www.springerprofessional.de/compliance/corporate-social-responsibility/frauenquote--und-sie-hilft-doch/17183428
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
       ## TAGS
       
   DIR Gender
   DIR Finnland
   DIR Regierung
   DIR Elternzeit
   DIR Gleichstellung
   DIR Equal Pay
   DIR Finnland
   DIR Finnland
   DIR Menschenrechte
   DIR Gender
   DIR Frauen
   DIR Reiseland Finnland
   DIR „Islamischer Staat“ (IS)
   DIR Finnland
   DIR Gender Pay Gap
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Partyvideo von Sanna Marin: Freiheit von Angst
       
       Finnlands Regierungschefin, die wild tanzt? Die Empörung über Sanna Marin
       ist scheinheilig. Auch die FreundInnen der Doppelmoral sollten ihr danken.
       
   DIR „Nordische Widerstandsbewegung“: Finnland verbietet Neonazi-Gruppe
       
       Die Organisation war die aktivste des Landes und für viele rassistische
       Gewalttaten verantwortlich. Das Verbot trifft aber nur die finnische
       Sektion.
       
   DIR Urteil 12 Jahre nach Amoklauf an Schule: Finnland hat zu wenig getan
       
       Der Staat habe damals genügend Hinweise auf die Tat gehabt, urteilt der
       Menschenrechtsgerichtshof. Finnland habe seine Schutzpflicht verletzt.
       
   DIR Frauenquoten helfen allen: Emotionalität ist gefragt
       
       Frauen werden gern Soft Skills nachgesagt. Warum sind sie in den Chefetagen
       trotzdem nicht gewollt?
       
   DIR Buch über Frauen in der Minderheit: Alleine zwischen Männern
       
       Die ersten Frauen im Deutschen Bundestag hatten es nicht gerade leicht.
       Aber mit ihnen zog glücklicherweise auch der Alltag in die Politik ein.
       
   DIR Schwermut im finnischen Winter: Wenn es fast nur dunkel ist
       
       Turku liegt im Südwesten Finnlands. Mit bunten Farben und viel Kunstlicht
       versucht die Stadt die miese Stimmung zu vertreiben.
       
   DIR Rückkehr von IS-Frauen aus Finnland: Politik auf Instagram
       
       Wie umgehen mit Frauen und Kindern, die beim IS in Syrien gelebt haben? Die
       neue finnische Regierung sucht ausgerechnet auf Instagram nach Antworten.
       
   DIR Neue Ministerpräsidentin in Finnland: Sanna Marin wird Jüngste im Amt
       
       Nach dem Rücktritt von Antti Rinne wird die 34-jährige Sozialdemokratin
       neue Regierungschefin. Damit ist sie die derzeit jüngste in Europa.
       
   DIR Lohntransparenz und Gender Pay Gap: Fragen kostet nichts? Doch!
       
       Seit über einem Jahr darf jede und jeder erfahren, was die Kolleg*innen
       verdienen. Frauen und der Lohngerechtigkeit bringt das jedoch nichts.
       
   DIR Kommentar „Gleichstellungskanzlerin“: Merkel allein ist kein Feminismus
       
       Wir sollten nicht glauben, dass eine Frau an der Spitze auch gerechte
       Teilhabe weiter unten sichere. Aber wir können anderes von Merkel lernen.