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       # taz.de -- Polizei erschießt Geflüchteten: Aufklärung unerwünscht?
       
       > Der Iraker Hussam Fadl wurde vor drei Jahren von Polizisten vor einer
       > Flüchtlingsunterkunft erschossen. Die Ermittlungen verlaufen schleppend.
       
   IMG Bild: Ermittler bei der Arbeit kurz nach der Tat 2016 vor der Flüchtlingsunterkunft
       
       Berlin taz | „Die Akte schreit geradezu: Wir haben kein Interesse an einer
       Klage“, fasst der Anwalt Ulrich von Klinggräff den Verfahrensstand zu der
       [1][Erschießung von Hussam Fadl] zusammen. Er vertritt Zaman Gate, die
       Witwe des Irakers, der vor mehr als drei Jahren von Polizeibeamten vor
       einer Berliner Flüchtlingsunterkunft von hinten erschossen wurde. Die
       Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen im Mai 2017 unter dem Verweis auf
       Notwehr beziehungsweise Nothilfe zunächst eingestellt.
       
       Doch mit überraschender Deutlichkeit wies das Berliner Kammergericht die
       Staatsanwaltschaft nach einem Klageerzwingungsantrag des Anwalts im April
       2018 an, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Beschuldigte und Zeugen
       sollten erneut verhört, offene Fragen geklärt werden. Damals war das Anlass
       für Hoffnung; doch mittlerweile macht sich Ernüchterung breit: „Die
       Ermittlungen werden extrem verschleppt und nur zögerlich geführt,“
       bilanziert Ulrich von Klinggräff auf taz-Anfrage.
       
       Im Zentrum stehen die Ereignisse vom 27. September 2016 vor der
       Flüchtlingsunterkunft in der Moabiter Kruppstraße. Dort lebte Hussam Fadl
       mit seiner Frau und den drei Kindern. Die Polizei war am Abend erschienen,
       um einen anderen Mann festzunehmen. Dieser war beschuldigt worden, die
       sechsjährige Tochter von Hussam Fadl sexuell missbraucht zu haben.
       
       Als der Verdächtige bereits gefesselt im Polizeifahrzeug saß, lief der
       Familienvater Fadl aufgebracht auf den Wagen zu. Drei Polizisten feuerten
       insgesamt vier Schüsse auf den Iraker ab. Es gibt widersprüchliche
       Zeugenaussagen dazu, ob Hussam Fadl zu dem Zeitpunkt ein Messer in der Hand
       hielt. Er starb kurz darauf im Krankenhaus.
       
       Um den genauen Tatablauf zu rekonstruieren, [2][sollte die
       Staatsanwaltschaft weiter ermitteln]. Das habe sie nach einer Verzögerung
       von drei Monaten auch getan, aber insgesamt geschehe dies “nicht in der
       angemessenen Intensität und Gründlichkeit“, sagt der Anwalt der Witwe.
       
       Da ist zum Beispiel der Hauptzeuge, dessen angebliche Gefährdung im Auto
       der Grund für die Schüsse der Polizeibeamten war. Doch neun Monate nach
       seiner Festnahme wurde der inzwischen verurteilte Mann nach Pakistan
       abgeschoben, ohne zuvor befragt worden zu sein.
       
       Das Berliner Kammergericht ordnete in seinem Beschluss auch an, dessen
       Vernehmung nachzuholen. „Die Staatsanwaltschaft behauptet, sie wisse nicht,
       wo er sich jetzt aufhalte. Wenn hier ein Polizist erschossen worden wäre –
       man würde wirklich jeden Versuch unternehmen, dieser Person habhaft zu
       werden. Das hat man hier aber nicht getan“, beklagt von Klinggräff.
       
       Auch die weiterhin ausstehende zweite Befragung einer damals anwesenden
       Polizistin sieht der Anwalt kritisch. In ihrer ersten Vernehmung hatte die
       Beamtin berichtet, weder eine konkrete Gefährdungslage für die Person im
       Auto erkannt noch ein Messer an Hussam Fadl gesehen zu haben. Heute gilt
       sie als „nicht vernehmungsfähig“ beziehungsweise „arbeitsunfähig“.
       
       Dass Zeug*innen erst mit viel Verspätung oder gar nicht befragt werden,
       hält Biplab Basu von der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt
       (KOP) für eine „ziemlich üble Verschleppungstaktik, die System hat“. Jeder
       wisse doch, wie schnell der Mensch Details vergesse. „Entweder die haben
       ihr Handwerkszeug nicht gelernt, oder sie haben das absichtlich gemacht –
       dann vertuscht die Staatsanwaltschaft.“ Mit der KOP möchten die
       Aktivist*innen auf institutionellen Rassismus aufmerksam machen.
       
       Es steht zu befürchten, dass das Verfahren bald erneut eingestellt wird.
       Sollte dies der Fall sein, wird Anwalt Klinggräff mit seiner Kollegin
       Christina Clemm wie im Jahr 2017 vor das Kammergericht ziehen. Sie hoffen,
       dass es dann nicht nur zu einer Fortsetzung der Ermittlungen, sondern
       direkt zu einer Anklageerhebung gegen die beschuldigten Polizist*innen
       kommt. Das wäre aufgrund der institutionellen Nähe zwischen
       Staatsanwaltschaft und Polizei allerdings ziemlich außergewöhnlich.
       
       Die Staatsanwaltschaft Berlin beantwortete bis Redaktionsschluss keine
       Anfragen der taz zu dem Ermittlungsverfahren.
       
       13 Dec 2019
       
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