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       # taz.de -- Gesamtdarstellung zum Zweiten Weltkrieg: Wie Hitler den Krieg verlor
       
       > Andrew Roberts’ Studie zum Zweiten Weltkrieg gleicht einer
       > populärwissenschaftlichen TV-Dokumentation. Mit seriöser Forschung hat
       > das wenig zu tun.
       
   IMG Bild: Überlebende Soldaten einer geschlagenen Wehrmachtseinheit an der Ostfront 1944
       
       „Der wahre Grund dafür, warum Hitler den Zweiten Weltkrieg verlor, war
       genau derjenige, der ihn diesen Krieg überhaupt entfesseln ließ: Er war ein
       Nazi.“ Dies ist die überspannende Argumentationslinie in Andrew Roberts’
       Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs. In drei chronologisch
       gegliederten Großkapiteln fokussiert sich der britische Militärhistoriker
       weitgehend auf die strategischen (Fehl-)Entscheidungen des deutschen
       Diktators und denkt über mögliche Alternativen nach.
       
       Insgesamt entwirft Roberts dabei ein reichlich schiefes Bild des Krieges:
       Hitler verlor den Krieg, die Nazis – aber auch die Alliierten und Japaner –
       begingen furchtbare Kriegsverbrechen, die Deutschen hingegen waren „die
       besten Kämpfer des Zweiten Weltkriegs“.
       
       Die deutsche Übersetzung der ursprünglich 2009 veröffentlichten Monografie
       kam dieses Jahr auf den Markt und erhält seither viel Aufmerksamkeit. Mal
       wohlwollend interessiert, mal kritisch stürzen sich die Feuilletons der
       großen deutschen Zeitungen vor allem auf das Nachdenken über verpasste
       Möglichkeiten des Deutschen Reichs, den Krieg zu gewinnen. An den
       fundamentalen Kritikpunkten, die an diesem Buch zu äußern sind, gehen die
       bisherigen Kommentare allesamt vorbei.
       
       ## Hitler, immer wieder Hitler
       
       Eine Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs zu schreiben, ist eine
       schwierige Aufgabe. Dafür sorgen nicht nur das gewaltige Ausmaß des
       Konflikts, sondern auch die vielfältigen Debatten in der
       Forschungsliteratur. Bedingt durch die übergreifende Argumentation des
       Autors dreht sich Roberts’ Buch jedoch nicht hauptsächlich um den Krieg
       oder die Kriegsverbrechen, sondern um den deutschen Diktator: Hitlers
       detailversessenes Interesse für Flugzeuge und Kriegsschiffe, Hitlers
       Judenhass und immer wieder Hitlers ideologisch verblendete
       Fehlentscheidungen.
       
       Die Darstellung ähnelt damit stellenweise einer dieser populären
       TV-Dokumentationen, in denen sogar der Schäferhund des Diktators wichtiger
       erscheint als das Sterben von 2,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen
       in deutschem Gewahrsam. Niemand will bestreiten, dass Hitler für den
       Kriegsverlauf, für die deutschen Verbrechen und den NS-Staat eine zentrale
       Figur war.
       
       Um aber das eigentlich Selbstverständliche festzuhalten: Nicht Hitler oder
       die Nazis überfielen Polen, Frankreich und die Sowjetunion und ermordeten
       dort zahllose Zivilisten, sondern zumeist deutsche Soldaten, Polizisten und
       ihre Kollaborateure – [1][ganz normale Männer,] seltener Frauen.
       
       Große Teile seiner Argumentation, insbesondere die Kritik an Hitlers
       militärischen Fehlleistungen, stützt Roberts überwiegend auf
       Nachkriegsaussagen der deutschen Generäle. In ihren Memoiren und anderen
       Veröffentlichungen wälzten die ehemaligen deutschen Befehlshaber die
       Verantwortung für Niederlagen und Kriegsverbrechen auf Hitler und eine enge
       Clique von Nazis um ihn ab. Vornehmlich für ihre Misserfolge im Krieg gegen
       die Rote Armee beriefen sich die Generäle auf drei Alibis: Hitlers
       Fehlentscheidungen, das Wetter sowie die erdrückende Masse der
       Rotarmist*innen.
       
       ## Handlungsspielräume der Täter*innen vor Ort
       
       Die Forschung zu den NS-Gewaltverbrechen arbeitete in den letzten
       Jahrzehnten empirisch gesichert die Handlungsspielräume und Verantwortung
       der Täter*innen vor Ort heraus und nahm dabei auch die
       Wehrmachtsbefehlshaber und -soldaten in den Blick. Kenner*innen des Krieges
       an der Ostfront, etwa der Militärhistoriker David M. Glantz, korrigierten
       minutiös die drei Alibis. Die Quintessenz: Für Hitlers militärische
       Entscheidungen sprachen oft durchaus gewichtige Gründe.
       
       Zudem wurden sie von bedeutenden Teilen der deutschen Generalität
       mitgetragen. Die extremen Wetterbedingungen in der Sowjetunion behinderten
       beide Seiten und waren den deutschen Befehlshabern vor dem Feldzug bekannt.
       Die personelle Überlegenheit der Roten Armee war bei Weitem nicht so
       gravierend, wie von den deutschen Generälen wahrgenommen.
       
       Vielmehr zeigte Glantz die im Kriegsverlauf zunehmend verbesserte
       Operationsführung der Roten Armee, die beispielsweise durch geschickte
       Täuschung zur Fehlwahrnehmung der sowjetischen personellen und materiellen
       Stärke deutscherseits führte.
       
       Obgleich Roberts den apologetischen Charakter der Generalsmemoiren benennt,
       folgt er ihrer Argumentation an den entscheidenden Stellen. „Für die
       deutschen Streitkräfte – die besten in Europa – war die Rote Armee, die zu
       den schlechtesten des Kontinents zählte, keine Bedrohung“, behauptet
       Roberts zur Situation im Sommer 1941 und erklärt die folgenden
       Wehrmachtsniederlagen mit den drei Alibis: Nicht nur sind Hitlers
       Fehlentscheidungen bei ihm zentral.
       
       Für das Scheitern des deutschen Angriffs auf Moskau beispielsweise räumt
       Roberts dem Wetter eine weitaus größere Rolle ein als der sowjetischen
       Gegenwehr. Die Rotarmist*innen erscheinen bei ihm – ganz im Stil der
       Generalsmemoiren und Landserhefte – als zwar tapfere, aber schlecht
       ausgebildete und dilettantisch geführte riesige Masse, die lediglich die
       fanatische Verteidigung oder den stupiden Frontalangriff beherrscht.
       
       Glantz’ Erkenntnisse zur Ostfront sind keine Ausnahme. Zahlreiche
       Ergebnisse und Debatten der neueren Forschung blendet Roberts schlicht aus.
       Inwiefern veranlassten wirtschaftliche Faktoren das Deutsche Reich zu einem
       frühen Kriegsbeginn? Besaß die Wehrmacht vor dem Angriff auf Frankreich
       überhaupt eine Art „Blitzkriegsdoktrin“? Wie weit ging die Beteiligung der
       deutschen Armee an NS-Gewaltverbrechen?
       
       Diese Debatten sind älter als die Erstausgabe des Buches. Roberts führt sie
       dennoch unzureichend oder gar nicht. Zwar nennt Roberts wiederholt einzelne
       Argumente aus Forschungsdebatten – sogar solche, die seinem Fokus auf
       Hitler entgegenstehen. Diese wiegt der Autor jedoch nicht gegeneinander ab,
       um dann begründet Stellung zu beziehen. Sie stehen lose im Raum.
       
       Mehrmals wird von Roberts konzediert, dass die Ostfront der entscheidende
       Schauplatz des Zweiten Weltkrieges war. In scharfem Kontrast zu diesem
       breit anerkannten Fakt steht die mangelnde Qualität und Quantität der
       Darstellung des deutsch-sowjetischen Krieges. Ein plakatives Beispiel
       dieser Missverhältnisse liefert Roberts’ Behandlung des Unternehmens
       Bagration.
       
       ## Die größte Niederlage der deutschen Militärgeschichte
       
       Diese sowjetische Operation bewirkte im Sommer 1944 die Zerschlagung der
       deutschen Heeresgruppe Mitte und damit die größte Niederlage der deutschen
       Militärgeschichte. Erstaunlicherweise widmet Roberts diesem Geschehen
       lediglich vier, teils fehlerhafte Seiten. Fast das Zehnfache an Raum
       gesteht er der alliierten Eroberung der Normandie zu.
       
       Das dritte Großkapitel, das sich hauptsächlich um die Zeit zwischen Sommer
       1943 und Kriegsende dreht, nennt Roberts „Vergeltung“. Schon der Titel
       insinuiert fälschlicherweise, es habe in dieser Zeit hauptsächlich Opfer
       aufseiten der Deutschen und ihrer Verbündeten gegeben. Ausführlich widmet
       sich der Autor hier beispielsweise der Bombardierung deutscher Städte oder
       den Verbrechen alliierter Soldaten.
       
       Demgegenüber kommen bedeutende Verbrechenskomplexe wie die deutsche
       Hungerpolitik in den besetzten Ostgebieten, die Gräuel des
       Partisanenkampfes oder die Zerstörungs- und Vernichtungspolitik der
       Wehrmacht bei Rückzügen deutlich zu kurz. Vergleichsweise gut gelungen ist
       hingegen das Kapitel zum Holocaust, obwohl es kaum in das Kriegsgeschehen
       eingeordnet wird.
       
       Der [2][Forschungsstand zum Zweiten Weltkrieg ist nicht ohne Defizite].
       Gerade die zweite Kriegshälfte ist noch unzureichend erforscht und
       historisiert. Roberts’ Darstellung jedoch fällt noch hinter diesen Standard
       zurück und wärmt teils apologetische Thesen der Nachkriegszeit wieder auf.
       
       Den Kernaufgaben einer Synthese, einen Gegenstand auf Basis der aktuellen
       Forschung verständlich darzustellen, historisch einzuordnen und neue
       übergreifende Deutungen zu entwickeln, wird dieses Buch nicht gerecht. Es
       wirft ein schlechtes Licht auf die deutsche Feuilletonlandschaft, dass sie
       sich an Roberts’ strategischen Sandkastenspielen abarbeitete, anstatt die
       offensichtlichen wissenschaftlichen Schwächen des Werkes zu kritisieren.
       
       17 Dec 2019
       
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