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       # taz.de -- Ernährung in den neuen 20ern: 20 Euro für die Bratwurst
       
       > Wie ernähren wir uns im Jahr 2028? Küchen braucht man nicht mehr und
       > Fleischfans proben den Aufstand. Zwei Berichte aus der Zukunft.
       
   IMG Bild: Gehört der eigenen Kochtopf in Zukunft der Vergangenheit an?
       
       Das Essen wächst draußen an der Wand 
       
       Im Jahr 2028 erscheint in der Architekturzeitschrift Bauwelt ein Artikel
       über die Planung für eine Gartenstadt am Rande von Leipzig. „Laubomat“
       nennt sich das Projekt in der Nähe von Großpösna. Sechsstöcker inmitten von
       viel Grün, sogar mit vertikalen Gärten, also bepflanzten Hauswänden, sind
       geplant und die Preise erschwinglich. Noch mehr Geld können die neuen
       Bewohner*innen sparen, wenn sie auf eine Küche verzichten. Und, so schreibt
       die Bauwelt, viele entscheiden sich dafür.
       
       Mit am Bau beteiligt ist Vorwerk, einst durch [1][die Küchenmaschine namens
       Thermomix] bekannt geworden. Die Firma aus Wuppertal ist Vorreiter des
       automatischen Kochens. In die Gebäude der Laubomat-Siedlung stellt sie
       zentral ihre Küchenroboter, die zu jeder Zeit für bis zu 640 Bewohner*innen
       individuell Gerichte zubereiten sollen. Bestellt wird per App aus einer
       Datenbank mit bis zu 5.000 Rezepten.
       
       Wer will, bekommt täglich nach den eigenen Vorlieben – Vorwerk nennt das
       die „Geschmacks-Timeline“ – eine Menüauswahl. Die Gerichte und Getränke
       kann man sich holen oder liefern lassen, es sind im Laubomat aber auch
       mehrere sogenannte Communityräume vorgesehen, um gemeinsam zu essen.
       
       Interessant ist das Preismodell. Am wenigsten zahlen künftige
       Bewohner*innen für die zentrale Verpflegung, wenn sie Gerichte aus dem
       bestellen, was in den Gärten und an den Wänden der Siedlung wächst. Das
       Projekt vereint damit neue gemeinschaftliche Wohnformen mit Prinzipien der
       [2][solidarischen Landwirtschaft] und den neuen Möglichkeiten der
       Digitalisierung.
       
       Wer sich noch eine eigene Küche leisten will, ist von dem Angebot nicht
       ausgeschlossen. Je nachdem, wie die Wohnungen am Ende konkret gestaltet
       sind, will Vorwerk solchen Bewohner*innen auch einen Zutatenservice
       anbieten – auf der Laubomat-Ernte basierend. Bisher seien aber unter 10
       Prozent der Wohnungen mit Küche bestellt, die meisten Käufer*innen wählen
       ein kleines Teeküchenmodul, zitiert Bauwelt Marita Ndiaye vom Planungsbüro
       „Digital Green Living“, das die Entstehung des Laubomat federführend
       begleitet.
       
       Ähnliche Projekte gibt es schon in den USA, mit dem Laubomat erreicht das
       Modell auch Deutschland und Europa. „Das war nur eine Frage der Zeit“, sagt
       die Soziologin und Ernährungswissenschaftlerin Herlinde Manninger. Denn
       trotz des immer weiter gestiegenen Interesses für alle Fragen der Ernährung
       rücke das Kochen selbst in den Hintergrund. „Es ist eine Alltagspraxis, die
       nur noch in bestimmten Kreisen und Schichten regelmäßig gepflegt wird.“
       
       Manninger verweist auf die gastronomische Landschaft, die in den
       vergangenen Jahren in den Städten entstanden ist. „Nachtmärkte wie in Paris
       oder Amsterdam wird es bald auch in Berlin und Hamburg geben“, sagt sie.
       Die Wissenschaftlerin erkennt darin eine weitere Asiatisierung der
       Esskultur, womit sie vor allem meint, dass im Wesentlichen außer Haus
       gegessen wird – und das zu jeder Zeit.
       
       ## Wohnen ohne Küche
       
       Die Strukturierung des Tages durch Frühstück, Mittag- und Abendessen
       verliere immer weiter an Wert. Das habe, sagt die Soziologin, auch mit den
       engeren Wohnverhältnissen und der seit Jahren angespannten Mietensituation
       zu tun. Ihrer Beobachtung zufolge werden Küchen schon seit Jahren immer
       kleiner oder verschwinden stillschweigend ganz aus den Wohnungen. „Wir
       leben zunehmend in einer Catering-Gesellschaft“, sagt Manninger.
       
       Mit dem Laubomat nimmt ein Projekt in der Peripherie die neuen
       Entwicklungen auf. „Wir wollen mit dem Projekt in den Bereich
       Micro-Catering vordringen“, sagt Daniel Mittelsten Scheid von der
       Vorwerk-Geschäftsführung. Nach der Fusion mit dem Großküchen-Ausstatter
       Rational ist Vorwerk zum Marktführer für Kantinenrobotik in Europa
       geworden.
       
       Eigens für den Laubomat sei eine KI entwickelt worden mit einer
       Schnittstelle zum gärtnerischen Bereich, so könne die Küche schon Tage im
       Voraus das Speisenangebot an die zu erwartende Ernte anpassen. Was nicht
       verwertet werde, wandere in den Bio-Meiler, der Humus produziert, sagt
       Daniel Mittelsten Scheid. Die bei der Kompostierung entstehende Wärme werde
       mit zur Heizung und Energiegewinnung für die Siedlung genutzt.
       
       Es sind vor allem viele Selbstständige mit ihren Familien aus Leipzig und
       Dresden, die sich für den Laubomat entscheiden, sagt Marita Ndiaye. Schon
       über 50 Prozent der Wohnungen seien verkauft. Kleine Ironie der Geschichte:
       Baubeginn südlich von Großpösna soll am 26. Juni 2029 sein, also genau fünf
       Jahre nach dem Tag, an dem der sächsische Verfassungsschutz an gleicher
       Stelle die Preppersiedlung Carthago gestürmt und aufgelöst hatte.
       
       ***
       
       Vegetarische Weißwurst auf der Wiesn 
       
       Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik ist es in Deutschland zu
       Wurst-Demonstrationen gekommen. Grund sind die seit Beginn des Jahres
       gestiegenen Schweinefleischpreise. Vor den Werkstoren von Tönnies in
       Rheda-Wiedenbrück bei Gütersloh versammelten sich nach Angaben der Polizei
       mehrere Hundert Menschen. Auf Bannern hatten die Demonstrant*innen
       geschrieben „Fleisch ist Menschenrecht“, „Wir wollen keine Bananenrepublik“
       und: „Jetzt geht es um die Wurst“.
       
       Die Zahl der Teilnehmenden blieb dennoch unter den Erwartungen der
       Organisatoren von Pevida (Patriotische Europäer gegen die Vegetarisierung
       des Abendlandes). Bei Kundgebungen an anderen Schlachthöfen und auch vor
       dem Bundeslandwirtschaftsministerium in Berlin wurden jeweils nur einige
       Dutzend Demonstrant*innen gezählt.
       
       Schon seit einigen Jahren wird Schweinefleisch teurer. Seit 2025 gibt es
       immer wieder Fälle der [3][Afrikanischen Schweinepest] (ASP) in Westeuropa
       – mit der Folge großer Bestandsschlachtungen. Die Nachfrage hat darüber
       aber nur für kurze Zeit abgenommen, der ASP-Virus ist für den Menschen
       ungefährlich. In den vergangenen zwei Jahren ging sogar die Exportquote
       zurück, weil die Schweinezüchter auf dem heimischen Markt mehr erlösen
       konnten als durch den Verkauf nach China.
       
       Auch die CO2-Steuer, die seit 2023 gilt, machen Experten nicht für die
       eklatanten Preissteigerungen der vergangenen Monate verantwortlich. Sie
       haben nach Angaben des Statistischen Bundesamts dazu geführt, dass der
       Fleischverbrauch nur noch bei 60 Kilogramm pro Kopf im Jahr liegt, Anfang
       des Jahrzehnts waren es noch über 85 Kilogramm.
       
       Aktuell legen die Landwirte die gestiegenen Futterkosten auf die
       Fleischpreise um. Nach inzwischen acht Hitzesommern weltweit sind Mais und
       Soja in den Silos knapp. Meret Anjou von der Linkspartei fordert trotzdem
       die Regierungskoalition auf, ein Moratorium für die Fleischsteuer zu
       verhängen und die CO2-Bepreisung mindestens für das kommende Jahr
       auszusetzen.
       
       Aber nicht einmal Dennis Ritter, der Präsident des Bauernverbands (Grüne),
       will ihr dabei folgen. „Die Bepreisung hat eine wichtige Lenkungswirkung
       für den weiteren Umbau hin zu einer biologischen Landwirtschaft“, sagte er.
       Fleisch mit Bio-Qualität sei deshalb durchschnittlich nur noch etwa 5
       Prozent teurer als Fleisch aus konventioneller Tierhaltung.
       
       Wie sich der Fleischkonsum verändert hat, zeigt sich auch auf dem
       anstehenden Oktoberfest. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz verkünden die
       Wiesnwirte, dass sie in diesem Jahr erstmals in allen Zelten vegetarische
       Weißwürste anbieten wollen. Nachdem vor zwei Jahren im Schottenhammel und
       im Löwenbräuzelt schon mehr Gäste danach fragten als nach dem Brathendl,
       hatte die Stadt erfolgreich Markenschutz für den „Münchner Zutzler“
       beantragt.
       
       Heribert Wimmer, Sprecher der Brauereien, sagt, natürlich bleibe die alte
       Bratwurst im Sortiment. In diesem Jahr wird sie aber erstmals 20 Euro
       kosten, genauso viel wie eine Maß Wiesnbier.
       
       Pevida kündigt unterdessen an, auch auf dem Oktoberfest für „gerechte
       Fleischpreise“ demonstrieren zu wollen. Darauf angesprochen sagt
       Wiesn-Sprecher Wimmer nur: „Ja mei, mancher Schreihals lernt’s halt nie.“
       Er gab zu verstehen, man werde gegebenenfalls schon ein Eckchen für die
       Protestler finden. In den Zelten aber, kündigt Wimmer kämpferisch an,
       „haben wir Hausrecht“.
       
       31 Dec 2019
       
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