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       # taz.de -- Das Erbe von Fernando Falcão: Geomusikalischer Wahnsinn
       
       > Brasiliens Reichtum liegt auch in der Musik. Das zeigt die
       > Wiederentdeckung des musikalischen Abenteurers Fernando Falcão.
       
   IMG Bild: Fernando Falcão, hier mit Gong-Eigenkreationen, bespielte seine Skulpturen
       
       Fernando Falcão ist eine Gemeinde im Bundesstaat Maranhão im Nordosten
       Brasiliens. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen gibt es in
       Brasilien wenige Orte, an denen es sich schlechter leben lässt. Die
       Einwohner Fernando Falcãos heißen Fernandenses.
       
       Fernando Falcão war auch ein Musiker, Komponist und Dichter aus dem
       Bundesstaat Paraíba im Nordosten Brasiliens. Auf dem Index schreiender
       Ungerechtigkeiten im Musikbiz rangiert er weit oben. Zwischen Fernando
       Falcãos Geburtsort und Fernando Falcão mit seinen Fernandenses liegen knapp
       1.400 Kilometer. Beide eint neben dem Namen die Tatsache, zu den
       Vergessenen zu gehören.
       
       Letzteres galt zumindest, bis der Produzent und DJ Augusto Olivani, auch
       bekannt unter dem Pseudonym Trepanado, es sich zur Aufgabe machte, den 2002
       verstorbenen Musiker und Komponisten aus der unverdienten Versenkung
       hervorzuholen. Zwei unerhört eigen- und großartige Alben hat Falcão zu
       Lebzeiten veröffentlicht: „Memória das Águas“ (1981) und „Barracas
       Barrocas“ (1987). Lange im toten Winkel vernachlässigter Meisterwerke
       verschwunden, sind sie vor einiger Zeit auf Olivanis jungem Label Selva
       Discos digital und auf Vinyl wiederveröffentlicht worden.
       
       „Memória das Águas“ entstand 1979 im Pariser Exil, wo Falcão zwischen 1969
       und 1984 lebte. Als junger Mann hatte sich der 1945 geborene Künstler
       politisiert und 1968 in São Paulo der studentischen Protestbewegung gegen
       die Militärdiktatur angeschlossen. Nachdem er eine Bombe in einer
       regimetreuen Privatschule platziert hatte, riet ihm sein Bruder,
       einigermaßen zügig das Land zu verlassen.
       
       In Frankreich dann schloss sich Falcão, der zu dieser Zeit als
       Perkussionist, Schauspieler und Bildhauer arbeitete, Jérôme Savarys freier
       Theatergruppe „Le Grand Magic Circus“ an. Über Jérôme Savary titelte Der
       Spiegel 1978, er verübe „Massaker an abendländischen Leitmotiven“. Beim
       Hören von Falcãos Alben stellt man sich vor, dass dieser sich mit ähnlichen
       Gedanken trug, um den Weg zu öffnen für die Überwindung eines kulturellen
       Überlegenheitsdenkens.
       
       ## Klingende Skulpturen
       
       Im Umfeld der freien Pariser Theater- und Künstlerszene traf Falcão seine
       erste Frau, die Schauspielerin Valérie Kling. Deren Vater wiederum war der
       für seine Tierskulpturen bekannte Künstler François-Xavier Lalanne.
       Letzterer sollte großen Einfluss auf Falcãos Entwicklung nehmen, denn unter
       seiner Anleitung erlernte der brasilianische Künstler den Bau diverser
       obskurer Soundskulpturen.
       
       Unter anderem entstand das sogenannte Balauê, stilprägendes Instrument
       sowohl auf dem Album „Memória das Águas“ als auch auf „Barracas Barrocas“.
       Das Balauê ist eine Art waagerecht aufgebautes Berimbau, Streich- und
       Perkussionsinstrument in einem, über das Falcão zusätzlich Wasser laufen
       ließ, um dem nassen Metall noch seltsamere Klänge zu entlocken.
       
       Falcãos erstes, vornehmlich instrumentales Album wurde in Paris unter
       Beteiligung französischer und brasilianischer Musiker aufgenommen, aber
       erst zwei Jahre später in Brasilien veröffentlicht. Bei „Memória das Águas“
       handelt es sich, kurz gesagt, um geomusikalischen Wahnsinn. Das Label
       benutzt den schönen Begriff „genre-hopping“. Der ist zwar durchaus
       angebracht, aber was hier passiert, geht weit über die Verwendung oder gar
       das elaborierte Anzitieren verschiedener musikalischer Genres hinaus.
       
       Eher scheint in Teilen [1][Jon Hassells Konzept (oder Utopie)] der „Vierten
       Welt“ vorweggenommen, diese „Feier der Differenz“, in der kulturelle
       Unterschiede überwunden sind, ohne wegdiskutiert zu werden, sondern
       gleichberechtigt neben- und miteinander existieren.
       
       ## Weltumspannender Klangteppich
       
       Das äußert sich auf „Memória das Águas“ eben nicht nur in der besagten
       generischen Vielfalt (unter anderem Jazz, Samba und Baião, griechische
       Volksmusik, musique concrète, Afrobeats, Neue Klassik, viel Ambient,
       Avantgarde, Pop, Progrock, Psychedelic). Vielmehr bekommt das Album durch
       verschiedene Techniken wie field recordings oder das Imitieren von
       Tierlauten durch klassische Instrumente eine geomusikalische Qualität, die
       geprägt ist von einer seltsamen Gleichzeitigkeit der Orte und Kulturen: ein
       Markt in Tanger, ein staubiges Stück Land im Nordosten Brasiliens oder auch
       Guineas (oder war es Osttimor?) – all das verschmilzt zum weltumspannenden
       Klangteppich, ohne dass dieser seine spezifische Brasilidade verliert.
       
       Gerade noch wähnt man sich am Filmset zu Kubricks „2001“, dann befindet man
       sich mit Ornette Coleman am Amazonas, bis hinter der nächsten Ecke ein Chor
       von afrikanischen Landarbeiterinnen hervorspringt und wie wahnsinnig Cuica
       zu spielen beginnt, während im Hintergrund Moustaki eine phönizische Weise
       singt, ein Deklamator Reden schwingt und Stockhausen einen Koloratursopran
       elektronisch verfremdet.
       
       Es gab 1981 inmitten der revolutionären Vielfalt brasilianischer Musik
       nichts, was annähernd so gewesen wäre. Das Album wurde kein Hit. Ebenso
       wenig sein Nachfolger, der 1987, als Fernando Falcão bereits drei Jahre aus
       dem Exil zurück war, auf Egberto Gismontis Label Carmo erschien. Auch auf
       „Barracas Barrocas“ sind das Balauê und andere Soundskulpturen präsent.
       Vielleicht ist das Album etwas weniger radikal, etwas poppiger, etwas
       orchestraler, aber letztlich setzt die Musik das Unprätentiös-Experimentale
       des Vorgängerwerks fort. Wie gut, dass diese ungewöhnliche Musik jetzt
       wieder zu hören ist.
       
       3 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Konzertempfehlung-Elektro-Jazz-aus-Norwegen/!5387455&s=Jon+Hassell/
       
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