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       # taz.de -- Ermittlungen bei Missbrauchsdarstellung: Millionen Datensätze
       
       > Polizeibeamte, die bei Kindesmissbrauch und dessen Abbildung in Fotos und
       > Filmen ermitteln, stehen vor großen emotionalen Herausforderungen.
       
   IMG Bild: Der Tatort in Lügde
       
       Zahl der sichergestellten Dateien: 43.000. Das war das Ergebnis der
       Durchsuchung bei nur einem Täter [1][im „Fall Lügde“]. „Die alle zeitnah zu
       sichten, ist kaum zu bewältigen“, sagt Kriminalrat Sven Schneider. Mit den
       Dateien vom Campingplatz in der Nähe von Detmold beschäftigen sich seit gut
       einem Jahr zahlreiche Polizeibeamte. Manche sitzen den ganzen Tag vor dem
       Rechner, andere stundenweise. Wiederum andere steigen für eine Zeitlang
       aus, weil das Gesehene sie zu stark mitnimmt.
       
       „Die meisten entwickeln im Laufe der Zeit eine Art Resilienz, sie lassen
       bestimmte Dinge nicht so dicht an sich heran. Das müssen sie tun, sonst
       könnten sie die Arbeit nicht machen“, sagt der Polizeiseelsorger Dietrich
       Bredt-Dehnen. Der Pfarrer begleitet die Polizist*innen während und nach der
       Zeit, in der sie das Lügde-Material sichten, wenn nötig sogar ihre
       Familien.
       
       Zahl der sichergestellten Dateien: etwa 3,3 Millionen Bilder und rund
       86.300 Videos mit kinderpornografischem Material. Gefunden Anfang 2019 bei
       Andreas V., dem inzwischen verurteilten Haupttäter im sogenannten
       Lügde-Prozess. Das Bundeskriminalamt definiert „Kinderporno“ als
       „fotorealistische Darstellung des sexuellen Missbrauchs einer Person unter
       14 Jahren“. Der Unabhängige Beauftragte des Bundes für Fragen des sexuellen
       Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, empfiehlt für derartiges
       Material die Verwendung des Begriffes „Missbrauchsabbildung“.
       
       Zahl der sichergestellten Dateien: rund 113.000 Nachrichten aus 469 Chats
       mit bis zu 1.800 Teilnehmern allein auf einem Handy. Im Herbst 2019 hob die
       nordrhein-westfälische Polizei in Bergisch Gladbach einen großangelegten
       Missbrauchsring aus. In Sachsen-Anhalt flog im Sommer ein Mann mit jeder
       Menge Missbrauchsabbildungen auf seinem Privatrechner auf. In Thüringen
       wurde im November ein Polizeibeamter erwischt, der Hunderte Dateien
       besessen hat. Auch in Paderborn wird derzeit gegen einen Mitarbeiter der
       Polizei ermittelt, der solche Dateien besitzen soll.
       
       Die Liste ließe sich fortsetzen. An immer mehr Orten, bei immer mehr
       Personen finden Ermittler*innen immer größere Datenmengen mit einschlägigem
       Material. Für die ist das eine „Mammutaufgabe“. So jedenfalls formuliert es
       ein Kölner Beamter, der bei den Lügde-Ermittlungen beteiligt war. Das
       Internet und die digitalen Speicher- und Verbreitungsmöglichkeiten werden
       zu einem der größten Feinde der Polizei beim Kampf gegen sexuelle Gewalt an
       Kindern. Die Fülle an Bildern, Filmen, Tonaufnahmen ist zeitnah kaum
       auszuwerten. Ein Vorteil für Täter, für die Opfer ein Verhängnis.
       
       ## Unzählige Duplikate
       
       „Noch vor fünfzehn bis zwanzig Jahren mussten Täter auf der Suche nach
       Bildern oder Videos mit Menschen in Kontakt kommen. Heute klicken sie sich
       durchs Netz und werden fündig“, fasst Sven Schneider das Problem zusammen.
       Schneider, 45, leitet das Dezernat Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle
       Kinderpornografie beim Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen. Seit 1992
       ist er bei der Polizei, er hat schon vieles gesehen und erlebt. Aber die
       Möglichkeiten, die das Netz heute bietet, stellen ihn und seine
       Kolleg*innen vor eine völlig neue Herausforderung: Die Zahl der Dateien mit
       illegalem Inhalt steigt täglich, sie werden dupliziert und
       weiterverbreitet. Das passiert in der Regel in geschlossenen Chats oder
       unter Verwendung besonders geschützter Netzverbindungen.
       
       „Welche Smartphone-App wurde zum WM-Sommermärchen 2006 am häufigsten
       genutzt?“, fragt Schneider. Und gibt rasch selbst die Antwort: „Nicht eine.
       Damals gab es noch keine Apps.“ Das erste iPhone und mit ihm die Apps kam
       erst ein Jahr später auf den Markt. Das beschreibt in etwa das Tempo, in
       dem der technische Fortschritt den Handel mit Missbrauchsabbildungen
       beschleunigt und vereinfacht. Wie groß die Menge auf dem Markt mittlerweile
       ist, ist schwer zu sagen. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen spricht von
       insgesamt 2,6 Petabyte gespeicherter Dateien, die sie bei Tatverdächtigen
       allein im vergangenen Jahr sichergestellt hat. Fotos, Videos, Chatverläufe,
       E-Mails. Auf Rechnern, DVDs, Smartphones, USB-Sticks.
       
       „2,6 Petabyte klingt viel“, sagt Schneider: „Liefert aber trotzdem keine
       realistische Zahl über das Datenvolumen der inkriminierten Dateien, das auf
       Rechnern gespeichert und im Umlauf ist.“ Schneider schätzt die Zahl
       illegaler Daten, die auf Servern und privaten Speichermedien liegen, um ein
       Vielfaches höher. Das Justizministerium spricht bei sexuellem Missbrauch
       von Kindern von einer etwa achtmal so hohen Dunkelziffer.
       
       Anders als beim Lügde-Fall, bei dem zwei Männer etwa 40 Mädchen und Jungen
       zum Teil über mehrere Jahre hinweg sexuell missbraucht, die Taten gefilmt,
       fotografiert, live im Internet übertragen, die Missbrauchsabbildungen also
       selber hergestellt haben, sind viele Dateien, die Behörden bei anderen
       Tatverdächtigen finden, Kopien bereits im Umlauf befindlichen Materials. Es
       handelt sich dabei um ein weltweites Phänomen.
       
       In den USA gilt für die etwa 700 Provider, die dort gelistet sind, eine
       Meldepflicht, wenn sie auf Kinderpornos stoßen. So muss beispielsweise
       Facebook jeden Verdacht auf entsprechende Inhalte an das National Center
       for Missing & Exploited Children (NCMEC) melden. Diese
       Nichtregierungsorganisation überprüft den Inhalt der Dateien und stößt
       dabei nicht selten auf IP-Adressen aus Deutschland. Die NGO meldet die
       Daten beim Bundeskriminalamt in Deutschland, das leitet Ermittlungen ein.
       2018 haben die amerikanischen Behörden rund 70.000 Hinweise nach
       Deutschland geschickt. Die Prognose für 2019 lautete: mehr als 100.000
       Meldungen.
       
       Was die Ermittler*innen auf den Speichermedien von Verdächtigen dann
       finden, sei wie die „Büchse der Pandora“, erklärt Kriminalrat Schneider:
       „Niemand weiß, was einen erwartet, wenn man eine Datei anklickt.“ Es hat
       schon alles gegeben: private Urlaubsfotos, Tierpornos, Enthauptungen,
       Missbrauch von Babys. „Hinter jeder Datei steckt eine Überraschung“, sagt
       Schneider. Manche der Abbildungen kennen die Ermittler*innen bereits, aus
       den einschlägigen Tauschringen im Netz.
       
       ## Jedes Element prüfen
       
       Um zu unterscheiden, was neu und was alt ist, muss jedes gespeicherte
       Element einzeln geprüft werden. Jedes Bild, jedes Video, bekommt einen
       Hash-Wert, eine Art digitalen Fingerabdruck. Der wird in einer zentralen
       Datenbank gespeichert. Mittlerweile sind dort mehr als eine Millionen Daten
       hinterlegt. Jeder einzelne Datensatz dort ist für Ermittler*innen jederzeit
       abrufbar. „So wird sichergestellt, dass bereits bekanntes Material nicht
       noch einmal angeschaut und gezählt werden muss“, sagt Schneider.
       
       Zum Glück, denn die Zahl der jeweils sichergestellten Dateien spricht
       schließlich für sich. Was aber stellt ein Mensch mit Zehntausenden oder gar
       Millionen Bildern und Filmen an? Kriminalrat Schneider hat eine Ahnung,
       warum jemand so viele Dateien hortet. Er sagt: „Viele der Täter sind Jäger
       und Sammler. Sie haben in der Regel extrem viele inkriminierte Dateien. Wir
       finden selten nur zehn Bilder bei einem Verdächtigen, sondern meistens
       10.000 oder sogar mehr.“
       
       ## Streit um Vorratsdaten
       
       Die Ermittler*innen beklagen, dass ihnen viele Täter durch die Lappen
       gingen. Sven Schneider erklärt: „Aufgrund der fehlenden
       Vorratsdatenspeicherung ist es nicht einfach, an die Personen hinter den
       IP-Adressen heranzukommen.“ Die Regelungen für die Speicherung ist in
       Deutschland bis zu einer endgültigen Klärung vor dem Europäischen
       Gerichtshof ausgesetzt. Üblicherweise werden derzeit die Verbindungsdaten
       deshalb sieben Tage lang gespeichert. „In dieser Kürze der Zeit ist es oft
       nicht möglich, Fälle aufzudecken“, sagt Schneider. Bis die USA Daten nach
       Deutschland gemeldet haben, sei die Frist oft längst verstrichen. So hätten
       allein 2017 8.500 Fälle deshalb nicht bearbeitet werden können.
       
       Die [2][Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung], getragen unter anderem
       von der FDP, von Politiker*innen von Grünen und Linkspartei und einem
       Bündnis aus Bürgerrechtler*innen und Prominenten argumentieren auf der
       Grundlage früherer Urteile von EuGH und Bundesverfassungsgericht, dass eine
       längerfristige Speicherung der Daten ein unzulässiger „Eingriff in die
       informationelle Selbstbestimmung“ der Bürger*innen sei. Der
       Missbrauchsbeauftragte Rörig hält dagegen, dass Datenschutz nicht vor
       Kinderschutz gehen dürfe.
       
       12 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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