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       # taz.de -- Zwei Bücher über Liberalismus: Im Kreuzfeuer
       
       > Mit der Deregulierung der Märkte ist der Liberalismus zur Malaise
       > geworden. Ein Versuch, ihn wieder auf neue Füße zu stellen.
       
   IMG Bild: Mauerbau in Texas Dezember 2019
       
       Wochenlang wurde ausgiebig und durchaus kontrovers über den Fall der
       Berliner Mauer vor 30 Jahren debattiert, über den Zusammenbruch der DDR und
       der Sowjetunion, über das vermeintliche Ende des Zeitalters der
       Ideologien im Sieg eines angeblich alternativlosen, postideologischen
       [1][Liberalismus], der Demokratie und Kapitalismus zum weltweiten
       Durchbruch verholfen hatte, – und wie es am Ende nun doch irgendwie anders
       gekommen zu sein scheint.
       
       Denn während von den großen Ideologien des 19. Jahrhunderts vor allem der
       Nationalismus im Westen unerwartete Renaissancen feiern, scheint der
       Liberalismus sich vielerorts im Rückzugsgefecht zu befinden, zumindest aber
       von allen Seiten wieder unter Beschuss zu stehen.
       
       Von links gescholten als neoliberale Technokraten eines postdemokratischen
       Kapitalismus, von rechts geschmäht als progressive Kosmopoliten einer
       traditions- und volksvergessenen Multikulturalisierung, sind die
       sogenannten liberalen Eliten zuletzt zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik
       geraten.
       
       ## Ehrenrettung des Liberalismus
       
       Angesichts dieser Frontstellungen scheint es eine verdienstvolle Aufgabe,
       eine Ehrenrettung des Liberalismus zu unternehmen. Ebendies tut der
       [2][Politologe Jan-Werner Müller] mit seinem Buch „Furcht und Freiheit“, in
       dem er einen „anderen Liberalismus“ zu entwerfen verspricht.
       
       Müller hebelt die aktuellen Frontlinien zunächst schon dadurch aus, dass er
       die zuletzt in nahezu jedem Meinungsartikel zum Thema verlässlich
       repetierte Erzählung vom „Triumph des Liberalismus“ in Francis Fukuyamas
       „Das Ende der Geschichte“, dessen Prophezeiung sich dann aber doch als
       großer Irrtum erwiesen habe, kritisch hinterfragt.
       
       Denn dieser Liberalismus, der sich nach dem Ende der Sowjetunion weltweit
       durchgesetzt habe, sei damals keineswegs so siegessicher gewesen, wie heute
       allenthalben behauptet wird. Er hatte seine Stärke vielmehr vor allem aus
       dem Kampf, der Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus, gewonnen, mit dem
       Sieg war auch die Siegesgewissheit geschwunden und einer tiefen
       Verunsicherung gewichen.
       
       ## Liberalismus der Furcht
       
       Auf eben diese Verunsicherung reagierte der „Liberalismus der Furcht“, den
       die US-amerikanische Politologin Judith N. Shklar 1989 entwarf und an den
       Müller nun anschließt, um die heutige liberale Malaise zu kurieren. Shklars
       Reaktion auf die liberale Verunsicherung war zugleich eine späte – wenn
       auch kurz vor dem Ende des Ostblocks nicht unzeitige – Antwort auf die
       Schrecken des 20. Jahrhunderts und bestand in einer radikalen Reduktion des
       Anspruchs an den Liberalismus.
       
       Der Liberalismus der Furcht solle keineswegs mehr der ganzen Menschheit
       andauernden Fortschritt garantieren – wie dies etwa der
       „Selbstvervollkommnungsliberalismus“ der Aufklärung versprach –,
       sondern sich allein auf die Vermeidung von Grausamkeit beschränken.
       
       Shklar, die als Kind vor Stalinisten und Nazis geflohen war, sah die
       Hauptquelle für menschliche Grausamkeit in totalitären Staatsapparaten. So
       lag es nicht ganz fern, dass man sich nach dem Ende des Kalten Kriegs auf
       einen solchen antitotalitären Liberalismus der Furcht berief, um sogenannte
       humanistische Interventionen zu legitimieren – und dadurch wieder eine
       gewisse liberale (auch moralische) Selbstsicherheit zu gewinnen.
       
       ## Krieg gegen den Terror
       
       Diese Haltung fand ihren Höhepunkt im „Krieg gegen den Terror“ nach 9/11.
       Dieser inzwischen eher „neokonservativ“ zu nennende Liberalismus schien von
       der widersprüchlichen Annahme auszugehen, dass proaktive staatliche
       Außenpolitik in Form von Militärinterventionen immer die gewünschten
       Effekte erziele (was sie faktisch natürlich nicht tat), während man
       innenpolitischen Eingriffen, etwa in Form von aktiver Sozialpolitik,
       durchaus skeptisch gegenüberstand.
       
       Müller macht dagegen klar, dass Shklars Liberalismus der Furcht als ein
       „Liberalismus von unten“ (so eine Formulierung Axel Honneths) immer von den
       Schwachen, den Opfern und Unterdrückten aus gedacht ist.
       
       Es gehe in erster Linie darum, den „permanenten Minderheiten“ eine Stimme
       zu geben – und zwar nicht nur gegenüber einem totalitären Staat, sondern
       auch gegenüber einem fundamentalistischen Markt –, aber nicht um sie
       paternalistisch in ihrem Opferstatus zu bestätigen, sondern um sie mithilfe
       garantierter Freiheitsrechte aus diesem Status zu entlassen.
       
       ## Positiv für Minderheitenschutz
       
       Es ist eine schöne Pointe, dass ein solcher „negativer“ Liberalismus (in
       diesem Fall der Abwesenheit von Furcht und Grausamkeit) hier einmal positiv
       in Richtung Minderheitenschutz gewendet wird. Üblicherweise begegnet einem
       heute der negative Liberalismus einer Freiheit von übermäßiger staatlicher
       Einmischung eher zur Legitimation einer individualistischen
       Konkurrenzgesellschaft.
       
       So kann man sich aber in Müllers oft scheinbar sprunghaft und assoziativ
       entwickeltem Gang durch die Geschichte der Liberalismen auch leicht einmal
       verlieren. Zwar wird am Ende schon klar, dass Müller für eine Verknüpfung
       von Shklars empathischem Liberalismus der Furcht mit einem
       konstitutionalistischen Liberalismus der Rechte plädiert, auch wenn Shklar
       beide explizit von einander schied.
       
       Auch leuchtet es ein, dass er die Sicherung dieser Rechte nicht wieder
       einem entpolitisierten, paternalistischen Staat überlassen möchte – wie
       Shklar es zunächst tat –, sondern einem irgendwie gearteten demokratischen
       Prozess freier Bürger. Aber wie genau dieser diffizile Prozess zwischen
       Staat, Markt und Politik angesichts seiner von Müller im Einzelnen oft
       treffend diagnostizierten Krise wirksam zu erneuern wäre, darüber erfahren
       wir am Ende leider zu wenig.
       
       ## Politische Kultur des Liberalismus
       
       Auch wenn Müller mehrfach davor warnt, die aktuellen politischen Konflikte
       allein zu „kulturalisieren“ – denn das ist die Falle, die Populisten uns
       stellen –, wirkt es letztlich doch so, als könnte auch Müller selbst nicht
       mit viel mehr als dem Appell an eine immerhin politische Kultur des
       Liberalismus aufwarten.
       
       Dagegen ist es ausgerechnet einer der „Kulturalisierer“, der
       Kultursoziologe [3][Andreas Reckwitz], der hier womöglich zumindest mit
       einer politischen Ökonomie eines ‚anderen Liberalismus‘ aushelfen kann. In
       dem Essayband „Das Ende der Illusionen“ hat er gerade einige Aspekte seines
       Opus magnum „Die Gesellschaft der Singularitäten“ weiter ausgeführt,
       darunter auch das Konzept eines neuen Liberalismus.
       
       Reckwitz geht davon aus, dass die vergangenen Jahrzehnte von einem
       übermäßig deregulierenden „apertistischen“ (also „öffnenden“) Liberalismus
       geprägt waren – das, was man vielleicht eine unheilige Allianz aus
       Neoliberalismus und Libertarismus nennen müsste, die die angebliche
       Freiheit des Markts zu einer Art „privaten Regierung“ hat werden lassen,
       deren mit Furcht disziplinierende Wirkung auf den Bürger-Konsumenten auch
       Müller konstatiert. Es ist nun freilich nicht fernliegend, hier ein neues
       „regulatives Paradigma“ einzufordern.
       
       ## Ökonomischen Liberalismus wieder einbetten
       
       Dass Reckwitz aber dezidiert von „regulativem Liberalismus“ spricht (und
       nicht etwa von Sozialismus oder Sozialdemokratie), bietet ebenso wie
       Müllers Beitrag einen willkommenen Vorschlag, dem plumpen Entweder-oder
       zwischen Liberalismus und Antiliberalismus zu entgehen. Es gehe vielmehr
       darum, die progressiven Errungenschaften einer liberalen, pluralistischen
       Gesellschaft zu bewahren, dabei aber den ökonomischen Liberalismus wieder
       „einzubetten“, wie Reckwitz es mit einem Begriff des Ökonomen Karl Polanyi
       beschreibt.
       
       Es könnte sich einem nun die Formulierung aufdrängen, dass Reckwitz hier
       Müllers (politkulturellem) „Liberalismus von unten“ gewissermaßen einen
       (soziokulturell-ökonomischen) ‚Liberalismus von oben‘ gegenüberstellt, die
       zusammengenommen eine notwendige Ergänzung bilden können. Was allerdings
       auch Reckwitz in seinem kurzen Essay nicht ausführlich behandelt, ist die
       „demokratische Praxis“, in der die beiden neuen Liberalismen sich womöglich
       gut in der Mitte begegnen könnten.
       
       Er verweist hier lediglich auf die dem Liberalismus gegenüberstehende
       Tradition des Republikanismus, der den Menschen nicht in erster Linie als
       Privatperson, sondern als politischen Bürger versteht, und skizziert einen
       möglichen „‚historischen Kompromiss‘“ zwischen apertistischem und
       regulativem Liberalismus.
       
       ## Fridays for Future und République en Marche
       
       Erstaunlicherweise fällt ihm aber als weiteres Beispiel zur politischen
       Mobilisierungskraft neben der Fridays-for-Future-Bewegung nur Emmanuel
       Macrons République en Marche ein, deren beider Basis allerdings auf die
       kosmopolitische „neue Mittelklasse“ beschränkt gewesen sei.
       
       Hätte er hier stattdessen die Gelbwestenbewegung genannt, wäre damit schon
       mal ein potenzieller Kompromisspartner aus „alter Mittelklasse“ und
       prekärer Klasse gefunden. Vielleicht nimmt sich ja einer der Herren Müller
       und Reckwitz demnächst auch mal der politischen oder Sozialtheorie eines
       solchen demokratischen Kompromisses an?
       
       21 Jan 2020
       
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