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       # taz.de -- Jüdisches Leben in Berlin: Rückkehr auf den Balkon
       
       > 1939 geflüchtet, 2019 nach Berlin zurückgekehrt: Tom Tugend berichtet aus
       > seinem Leben und aus dem seines Vaters Gustav Tugendreich.
       
   IMG Bild: Tom Tugend 2019 bei seinem Besuch in Berlin
       
       Man sieht ihm sein Alter nicht an. Wenn Tom Tugend mit federndem Schritt
       vom Aufzug durch die Hotellobby läuft, wenn er, dann doch leicht zögerlich,
       den Berliner Gendarmenmarkt betritt, wenn seine Augen unter der Brille
       blitzen und die feste Stimme zu hören ist, die zwischen Englisch und
       Deutsch wechselt – der Mann ginge glatt als 70-Jähriger durch. Tom Tugend,
       der in einem früheren Leben Thomas Tugendreich hieß, zählt 94 Jahre. Er ist
       aus Los Angeles nach Berlin gekommen, weil in diesen Tagen
       [1][Stolpersteine vor seinem Elternhaus] in der Reichsstraße 104 verlegt
       werden – in Erinnerung an seine jüdische Familie, die 1939 vor den Nazis
       flüchten musste.
       
       „Wir zählten wohl zur oberen Mittelklasse. Mein Vater war ein bekannter
       Arzt. Man fühlte sich hundertprozentig deutsch im besten Sinnes des Wortes.
       Man kannte die Texte von Goethe und Schiller auswendig, ging zu Konzerten.
       Wir besaßen auch schon ein Radiogerät. So wie die meisten dieser Menschen
       wurden wir von Kindermädchen und einer Amme großgezogen.“
       
       Der Vater Gustav Tugendreich, 1876 in Berlin geboren, engagierte sich sein
       Leben lang für den Kleinkinderschutz, damals, als der Kindstod noch zu den
       alltäglichen Fällen in der rasch wachsenden Industriestadt mit seinem Heer
       an schlecht bezahlten Fabrikarbeiterinnen zählte, die in Hinterhäusern ohne
       eigene Toilette hausen mussten, bar hygienischer Mindeststandards.
       
       ## Ein engagierter Kinderarzt
       
       Benjamin Kuntz, ein Mitarbeiter des Robert-Koch-Institus, hat das Leben
       Gustav Tugendreichs erforscht und ein Büchlein über ihn veröffentlicht. Da
       lesen wir, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschen Reich rund ein
       Fünftel aller Neugeborenen bereits im ersten Lebensjahr verstarb und in den
       Großstädten mitunter nur jedes zweite Baby das erste Jahr schaffte.
       
       Der Kinderarzt Gustav Tugendreich zählte zu den wenigen, die nicht dazu
       bereit waren, diesen Zustand als gottgegeben hinzunehmen. 1906 trat er eine
       Stelle in der Weddinger Säuglingsfürsorgestelle an, die Müttern ein
       niedrigschwelliges Angebot zur Babypflege machte. Besonders ging es darum,
       die Mütter wieder zum Stillen zu bringen, denn damals war es üblich, Babys
       mit minderwertiger Ersatznahrung zu füttern – Magen-Darm-Krankheiten mit
       oft tödlichem Ausgang waren die Folge.
       
       Dr. Gustav Tugendreich hielt Vorträge dazu: „Vor allem aber kommt das Kind
       gesund und kräftig zur Welt. Was sind die wahren Ursachen der großen
       Säuglingssterblichkeit? Falsche Ernährung und schlechte Pflege – nichts
       anders!“, schrieb er.
       
       1910 veröffentlichte Gustav Tugendreich das Handbuch „Die Mutter- und
       Säuglingsfürsorge“. Darin heißt es: „Säuglingsfürsorge ohne Mutterfürsorge
       ist Stückwerk. Denn das Wohl der Mutter bildet größtenteils die Grundlage
       und Bedingung für das Wohl des Säuglings.“ Er schrieb das zu einer Zeit,
       als uneheliche Kinder von ihren Müttern räumlich getrennt wurden, um diese
       zu sittlichen Belehrungsveranstaltungen zu zwingen, und Rassehygieniker
       die Auffassung vertraten, die hohe Säuglingssterblichkeit fördere die
       „Rassequalität“.
       
       ## Ein assimiliertes Elternhaus
       
       Der junge Thomas wuchs in einem assimilierten Elternhaus auf: „Beim Essen
       bin ich ein richtiger Deutscher geblieben. Ich mochte und mag bis heute
       Bratwurst. Aber Essen war mir damals nicht so wichtig. Ich vermute, dass
       unsere Familie typisch deutsches Essen einnahm, zubereitet von unserem
       eigenen Koch. Was religiöse Gebräuche betrifft, so erinnere ich mich nur,
       dass meine Eltern und ich unter dem Weihnachtsbaum standen und ‚Stille
       Nacht, heilige Nacht‘ sangen. Wir waren eine richtig assimilierte deutsche
       Familie. Wir besuchten niemals eine Synagoge.“
       
       Gustav Tugendreich war kein gläubiger Jude. Doch auch wenn er kaum mehr
       Verbindungen zur Religion besaß, zum Christentum zu konvertieren, das ging
       ihm zu weit. Als ihm die Leitung des Kaiserin-Auguste-Victoria-Hauses,
       einer „Anstalt zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen
       Reich“, zugetragen wurde, lehnte er den Posten ab, weil dies mit der
       Bedingung verknüpft war, dem jüdischen Glauben abzuschwören.
       
       Tugendreich war schon 45 Jahre alt, als er 1922 die Kindergärtnerin Irene
       Friederike Fontheim heiratete. Die Tochter Brigitte kam 1923 zur Welt, der
       Sohn Thomas am 30. Juni 1925.
       
       Tom Tugend erinnert sich: „Ich ging zur Montessori-Schule, niemals in eine
       öffentliche Schule. So wurde ich etwa nie als ein ‚Judenjunge‘ beschimpft.
       Meine Welt drehte sich um Fußball. Meine Mannschaft war Schalke 04 und als
       Fan machte ich mir ein Buch mit den Autogrammkarten aller prominenten
       Fußballspieler. Und natürlich spielte ich – am Avustor gab es einen
       Sportplatz. Jedes Familienmitglied besaß ein eigenes Zimmer, auch meine
       Schwester und die Haushälterin. Erst als Hitler erklärte, dass deutsche
       Frauen unter 45 Jahren nicht in einem jüdischen Heim leben dürften, musste
       sie uns verlassen. Das war eine große Tragödie, denn zu ihr hatte ich wohl
       einen engeren Kontakt als zu meinen eigenen Eltern.“
       
       ## In die Not getrieben
       
       Am 30. September 1933 verlor der Vater nach mehr als 25 Jahren seine
       Stellung als Leiter der städtischen Säuglings- und Kleinkinderfürsorge,
       weil er Jude war. Die Einnahmen in der Privatpraxis gingen deutlich zurück.
       Im folgenden Jahr kündigte Gustav Tugendreich seine Mitgliedschaft in der
       Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, weil „durch die Neu-Ordnung des
       Staates mein Einkommen so stark verringert wurde, dass es mir leider nicht
       mehr möglich ist, den Beitrag zu bezahlen“. Um Geld zu sparen, musste die
       Familie in die Greifswalder Straße im Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer
       Berg umziehen.
       
       Tom Tugend berichtet: „Als Kind habe ich damals gar nicht mitbekommen,
       durch welch schwere Zeiten mein Vater damals ging. Bestimmt haben meine
       Eltern damals über eine Auswanderung diskutiert, aber nicht, wenn ich dabei
       war. Meine Mutter hatte damit begonnen, sich sehr für den Zionismus zu
       interessieren. Mein Vater und ein Kollege besuchten 1935 zur Probe
       Palästina. Aber das ging nicht gut. Es schien, als gebe es keinen Grund zur
       Eile. Ich besuchte dann eine jüdische Schule, die Theodor-Herzl-Schule am
       Kaiserdamm.“
       
       1937 reichten Gustav Tugendreichs Einnahmen nicht mehr aus, um die Familie
       zu ernähren. Seine bürgerliche Existenz war vernichtet. Mit einem
       einjährigen Stipendium ausgestattet ging er nach London. Die Mitnahme von
       Frau und Kindern wurde ihm nicht gestattet. Er bemühte er sich um eine
       Einreise in die USA.
       
       ## Reichskristallnacht
       
       Tom Tugend: „Zur Zeit der Reichskristallnacht war mein Vater schon in
       England – zum Glück, sonst hätten sie ihn verhaftet. Ich erinnere mich,
       dass es da ein kleines Schreibwarengeschäft gab. Die Inhaber waren Juden.
       Es klingelte an der Haustür. Unsere Wohnungsbesitzerin war Deutsche, ihr
       jüdischer Mann war ins Konzentrationslager eingeliefert worden. Der
       Eigentümer des Schreibwarengeschäfts kam herein und bat sie darum, ihn zu
       verstecken.
       
       Sie sagte, das könne sie nicht machen, ‚aber ich lassen Sie durch die
       Wohnung durch den Hinterausgang raus‘. Daran kann ich mich erinnern, an die
       Panik. Meine Mutter machte das Licht aus und wir legten uns ins Bett. Sie
       legte die Arme um meine Schwester und mich. Ich glaube, ich war nicht
       einmal ängstlich, weil doch meine Mutter mit mir war. Bald darauf schrieb
       mein Vater, wir könnten Deutschland verlassen, denn wir bekämen Visa für
       Amerika. Er schrieb, wir sollten die Möbel, unser Geld und alles andere
       vergessen, nur rasch abhauen.“
       
       Am 20. April 1939 verließ Thomas Tugendreich zusammen mit der Schwester und
       Mutter Berlin. „Für mich war die Auswanderung eine Art Abenteuer. Wir
       flogen von Tempelhof nach London. Das war sehr aufregend. Wir konnten doch
       noch einiges mitnehmen. Die Bankguthaben waren geschlossen, aber wir fuhren
       mit den Möbeln und allem. Den größten Teil der Bibliothek meines Vaters
       mussten wir zurücklassen. Wir reisten weiter mit einem Schiff, der
       deutschen,SS Hansa', zwar nicht in der 1., aber doch in der 2. Klasse nach
       Amerika. Ich besitze noch die Passagierliste. Wir wurden wie alle anderen
       Passagiere behandelt. Ich hatte mein Autografenbuch über Schalke 04
       mitgenommen. Das war mir sehr wichtig. Da gab es Autogrammkarten von
       Spielern von Schalke, von Aston Villa, von Hertha BSC.“
       
       Aus dem deutschen Juden Thomas Tugendreich wurde der Amerikaner Tom Tugend.
       Er kam zur Armee, nahm am Krieg in Europa teil: „Die größte Fremdheit
       empfand ich, als ich 1945 mit den US-Truppen nach Deutschland
       einmarschierte. Als ich gegangen war, galt ich dort als Judenjunge, und
       jetzt kam ich als ein Soldat zurück.“
       
       Sein Vater verlor in den Vereinigten Staaten den beruflichen Anschluss,
       hinzu kam eine Krankheit. Am 21. Januar 1948 starb Gustav Tugendreich in
       Los Angeles.
       
       Tom Tugend, der 1948 auf jüdischer Seite im israelischen
       Unabhängigkeitskrieg kämpfte, danach als Soldat zur U. S. Army
       zurückkehrte, seine Frau fand und schließlich als Journalist in Los Angeles
       Karriere machte, ist mit seiner Tochter Alina für wenige Tage nach Berlin
       zurückgekehrt. Sein Fußball-Autografenbuch hat er dabei. Er sagt: „Als ich
       jetzt in die alte Wohnung in der Reichsstraße zurückkam, bin ich auf den
       Balkon gegangen. Natürlich sieht es in der Wohnung jetzt ganz anders aus.
       1934 oder 1935 habe ich von diesem Balkon aus Adolf Hitler in einem Auto
       gesehen. Ich konnte mich nicht mehr richtig erinnern. Der Besuch jetzt war
       sehr seltsam.“
       
       26 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Stolpersteinverlegung-in-Chemnitz/!5532450&s=Stolperstein/
       
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