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       # taz.de -- Brexit-Pop: Du bist nicht Lionel Messi
       
       > Der Freak-Folk-Musiker Richard Dawson rechnet mit dem Prä-Brexit-England
       > ab. Auf dem Album „2020“ blickt er humorvoll auf ein verändertes Land.
       
   IMG Bild: Hat eine Outsider-Karriere hingelegt: Richard Dawson
       
       Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit diesem „Middle England“. Das
       merkt auch Richard Dawson, als er in gelbem Hoodie und mit grauer
       Schlabbertrainingshose durch Newcastle joggt. Bei einer kurdischen Familie
       in der Nachbarschaft wurden die Fensterscheiben eingeschmissen („The police
       know who did this / Still they do nothing“), und die Leute laufen nur noch
       grummelig durch die Gegend („People don’t smile anymore“). Er selbst, der
       Erzähler, hatte gerade erst mit Angstzuständen zu kämpfen, traute sich
       nicht vor die Tür. Die Betablocker, die der Arzt ihm verschrieb, wollen da
       auch nicht so richtig helfen.
       
       Der britische Musiker Richard Dawson erzählt im Song „Jogging“ davon, wie
       er (beziehungsweise sein Alter Ego) zu seiner eigenen Überraschung mit dem
       Laufen anfängt, um sich aus einer Lebenskrise zu befreien. Das Stück ist
       die erste Singleauskopplung aus seinem neuen Album „2020“, es verhandelt
       Inhalte, die typisch für Dawson sind: Er greift oft Alltagssituationen auf
       – kaputte, verrückte, schöne – und bastelt miniaturartige Songs aus ihnen.
       
       Dawson debütierte 2007, er war lange als klassischer Singer-Songwriter
       unterwegs, nun aber ist sein Sound zwischen Freak-Folk und (Prog-)Rock
       anzusiedeln. Bereits mit seinem Album „Peasant“ (2017) hat der Brite
       überzeugen können. Es landete seinerzeit zu Recht auf etlichen
       Jahresbestenlisten; der Indiefolk-Hit „Ogre“ mit seinen eingängigen Chören
       dürfte bei Fans noch irgendwo in den Ecken der Gehörgänge kleben. Mit
       „2020“ ist der Multiinstrumentalist aus Newcastle nun zum renommierten
       Label Domino gewechselt und sollte endlich breitere Hörerschichten
       erreichen.
       
       Auf dem Album erweist sich der 38-Jährige zunächst als gewiefter
       Storyteller: Dawson erzählt eine anrührende Vater-Sohn-Fußballgeschichte,
       die auch von Projektionen der Eltern auf ihre Kinder handelt („You’re not
       Lionel Messi / Just pass the bloody ball!“), er erzählt, wie man von einer
       Affäre der Partnerin via Herzchen-Emoticon auf deren Smartphone erfährt
       („Heart Emoji“), oder aber, wie ein frisch Verlassener sich mit dem Schauen
       des „Match of the Day“ abzulenken versucht, was nicht so wirklich gelingt
       („Tears begin to fall on the outskirts of Leeds / I am missing her
       already“).
       
       ## Die Liebe zum Randständigen
       
       Für Musikfans, die das Randständige schätzen, dürfte Dawson ein Glücksfall
       sein. Als Jugendlicher sei er Metal-Fan gewesen und habe Iron Maiden
       verehrt, erzählte er kürzlich dem Guardian, später sei er dem Sun Ra
       Arkestra verfallen gewesen. Als er im Teenageralter die Musik für sich
       entdeckt hatte, stürzte er in der Schule ab, in der Adoleszenz jobbte er in
       Plattenläden und wollte dann selbst Musiker werden. Eine klassische
       Outsiderkarriere.
       
       „2020“ ist nun – wie der Titel es vermuten lässt – auch ein politisches,
       zeitdiagnostisches Album über das gegenwärtige Großbritannien geworden. Die
       grassierende Xenophobie schnappt Dawson beiläufig beim Fleischer auf, der
       für das Versagen der Kommunalpolitik die Einwanderer verantwortlich macht:
       „There’s a crowd gathered round the fat-headed butcher (…) bemoaning the
       lack of adequate flood defences / somehow putting it down to ‚an insurge
       of benefit scrounging immigrants‘ “.
       
       Dawson skizziert eine einzig auf Optimierung getrimmte Gesellschaft
       („increase productivity!“), er ätzt im Auftaktsong gegen die
       Arbeitsbedingungen im Neoliberalismus. Sein Album spielt inmitten eines
       gereizten, entnervten, runtergekommenen Landes, in dem jeder irgendwie für
       sich weiterwurschtelt ohne Ziel, ohne Sinn. Das von ihm zitierte „Middle
       England“ – dieser Terminus wird in der Regel für die konservative (untere)
       Mittelklasse verwendet – hat derweil nichts Besseres zu tun, als nach unten
       zu treten.
       
       Von alldem singt Dawson mal mit seiner ultrahohen Falsettstimme, mal ein
       paar Tonlagen tiefer. Musikalisch ist „2020“ dabei sein bei weitem
       ambitioniertestes Album. Denn in den zehn Songs löst er sich weiter vom
       Singer-Songwriter-Klischee und tobt sich in unterschiedlichen Stilen von
       Progrock über Folk bis Punk aus. Er greift gleich mehrere britische
       Poptraditionen auf: Manchmal fühlt man sich an Robert Wyatt von Soft
       Machine erinnert, dann kommen einem Belle and Sebastian in den Sinn.
       
       Jedenfalls gelingt es Dawson ähnlich wie der Band aus dem gar nicht so
       fernen Glasgow traurige Songstorys in ein fast schon hoffnungsfrohes
       musikalisches Gewand zu kleiden. Die reiche Instrumentierung verleiht
       seinem Sound Wucht: Da rockt eine fast nach billigem Heavy Metal klingende
       Gitarre los, da drehen die Synthesizer wie eine Spieluhr ihre Kreise, da
       erklingt eine vocoderverzerrte Stimme.
       
       „How little we are, clung to the river’s edge / Come hell or high water,
       how little we are“, singt Richard Dawson im Refrain des Songs „The Queen’s
       Head“. Das ist ganz sicher etwas, das Großbritannien von diesem Nerd mit
       Bart und den großen traurigen Augen lernen könnte: das große Ganze sehen,
       mal wieder auf den Teppich kommen. Dawson ist eine uneitle, humanistische
       Stimme, die für progressiv gesinnte Briten aktuell eine Wohltat sein
       dürfte.
       
       30 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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