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       # taz.de -- Besinnliche Rückblicke an Weihnachten: Verdrehte Augen
       
       > Mit Besinnung und Vorsätzen verbringen wir die Feiertage. Möglichst ohne
       > Konfrontation irgendwie durchkommen. Und dann: ein neues Jahr.
       
   IMG Bild: Hinter jedem Fenster wird sich besonnen, dass es nur so eine Art hat
       
       Berlin taz | Über die Weihnachtsfeiertage denken wir an das, was wirklich
       wichtig ist. In Deutschland nennen wir das Besinnlichkeit. Endlich
       Besinnung, im Gegensatz zum Rest des Jahres, wenn alle schubsen, schreien,
       in Hamsterrädern rennen und komplett von Sinnen sind. Besinnlich,
       besinnlicher, am besinnlichsten.
       
       Heißt langsamer werden, runterkommen, vielleicht sogar erst denken und dann
       handeln. Vielleicht sogar erst denken und dann sprechen. Aber wer denkt,
       dass er ja wohl noch das N-Wort sagen dürfen wird, dem hilft auch ein
       Feiertagstempolimit nicht. Wir wollen über die Feiertage nicht streiten,
       also seufzen wir rassistischen Ausfällen beim Familientreffen hinterher.
       Seufzen und schweigen. Wie geht’s eigentlich Monika?
       
       Über die Weihnachtsfeiertage blicken wir auf das vergehende Jahr zurück und
       suchen nach Vorsätzen für das beginnende. Weniger rauchen, mehr Sport,
       Digital Detox. Markus überlegt beim Joggen, wie viele Kalorien er schon
       verbrannt hat. Ich überlege kurz das Gleiche und füge hinzu, dass es nicht
       schadet, wenn ich schneller rennen kann als Männer oder Nazis oder
       Männernazis. Ich stelle fest, dass ich 2020 nicht nur schneller wegrennen
       können will, sondern auch länger dableiben. Nicht aushalten, aber
       konfrontieren.
       
       Ich hasse Konfrontation, vgl. Hierse 2019a: Ich gehe in eine Flugzeugküche
       und suche Wasser. Ein Flugbegleiter schaut mich an und fragt: “Are you a
       mix?“ Ich sage, dass ich nur Wasser will. Er wiederholt “No, I mean, are
       YOU a MIX“. Ich sage, dass meine Mutter aus China ist. Er nickt zufrieden
       und gießt mir Wasser ein, ich gehe zurück zu Platz 33C, ich wollte
       eigentlich nur Wasser, aber man kriegt ja nichts geschenkt und jetzt bin
       ich ein Mix.
       
       ## Jetzt bin ich weiß oder Wasweißichschon
       
       Ich hasse Konfrontation, vgl. Hierse 2019b: Ich bin Teil eines
       Partygesprächskreises, in dem Leute erzählen, was sie so beruflich machen.
       Ich sage, dass es da einen Podcast von People of Color gibt. Eine Freundin
       fragt, was People of Color sind, ich fühle mich schuldig, weil ich eine
       Sprache benutze, die nicht alle verstehen. Ich sage, dass People of Color
       nicht weiß sind. Sie fragt, ob ich nicht weiß bin. Ich sage: “Je nachdem
       wer das entscheidet.“ Ein Teil des Partygesprächskreises verdreht die
       Augen, ich wollte eigentlich nur vom Podcast erzählen und jetzt bin ich
       weiß oder auch nicht, wasweißichschon.
       
       Über die Weihnachtsfeiertage laufen Jahresrückblicke im Fernsehen.
       Kuratierte Retrospektiven erinnern an das, was neulich noch neu war und
       jetzt ein bisschen egal ist – Besinnung. Wisst ihr noch, als Horst Seehofer
       sich freute, weil an seinem 69. Geburtstag 69 Geflüchtete abgeschoben
       wurden? Ach so, das war 2018. Ist Seehofer eigentlich noch im Amt? Wisst
       ihr noch, die Proteste in Hongkong? Die wurden ja leider gewalttätig
       irgendwann.
       
       Protestieren die eigentlich noch? Wisst ihr noch, Halle? Klar, die
       Anschläge haben ja uns allen gegolten. War der Attentäter nicht auch Gamer?
       Wisst ihr noch, die SPD? Wisst ihr noch, Handke? Wisst ihr noch, weiß ich
       doch. Besinnlich, besinnlicher, am besinnlichsten.
       
       25 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lin Hierse
       
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