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       # taz.de -- 2019 – Jahr der Proteste: Sie wollen ein anderes System
       
       > Weltweit haben sich Menschen gegen korrupte und unfähige Regierungen
       > erhoben. Mit Symbolpolitik lassen sie sich nicht mehr abspeisen.
       
   IMG Bild: Demo-Szene in Algier, April 2019
       
       Berlin taz | Es begann an einem Dezembertag. [1][In Atbara,
       Verkehrsknotenpunkt im Sudan und historische Gewerkschaftshochburg, gingen
       Hunderte von Menschen] gegen eine Verdreifachung der Brotpreise auf die
       Straße. Die Demonstration am 19. Dezember 2018 eskalierte, die Polizei
       schoss scharf, der Protest griff auf die Hauptstadt Khartum über, und es
       entwickelte sich ein landesweiter Aufstand gegen die Militärdiktatur des
       Landes.
       
       Zwei Monate später waren die Sudanesen nicht mehr allein. In Algerien
       gingen wenige Tage, nachdem der schwerkranke Präsident Abdelaziz Bouteflika
       am 10. Februar 2019 seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit hatte
       verkünden lassen, empörte Menschen auf die Straße und verlangten ein Ende
       des Regimes. Am 22. Februar waren es in der Hauptstadt Algier
       Hunderttausende – zum ersten, aber nicht zum letzten Mal.
       
       Wieder zwei Monate später errangen die Protestierenden ihre ersten Erfolge.
       [2][Am 2. April trat in Algerien Präsident Bouteflika zurück], nach zwanzig
       Jahren im Amt. Am 11. April setzte Sudans Militär Diktator Omar Hassan
       al-Bashir ab, nach dreißig Jahren an der Macht. In beiden afrikanischen
       Ländern schwoll die Protestbewegung danach erst recht an: Das ganze System
       sollte weg, nicht nur seine höchsten Vertreter. Khartum wurde Schauplatz
       von Massen-Happenings. In Algier wurde jeder Freitag zum Festtag einer
       selbstbewussten Bürgerbewegung.
       
       Hongkong ist nicht mehr zur Ruhe gekommen 
       
       Nochmal zwei Monate später, und auch am anderen Ende der Welt
       demonstrierten Millionen. Der 9. Juni sah gigantische Aufmärsche in
       Hongkong nach mehreren Monaten Protest gegen ein Gesetzesvorhaben über
       Auslieferungen an die Volksrepublik China. Es war kurz nach dem 30.
       Jahrestag des Tiananmen-Massakers in Peking und wenige Tage nach einem
       Massaker an Demonstranten im Sudan. Hongkong sollte nicht mehr zur Ruhe
       kommen.
       
       Im August setzte sich Sudans Revolution durch. Eine Übergangsregierung
       unter ziviler Führung nahm die Amtsgeschäfte auf und machte sich an die
       Überwindung der Gewaltherrschaft. Die Welt sah: Protest funktioniert.
       Regimewechsel ist möglich.
       
       Im Oktober sprang der Funke quer über den Globus über. [3][Der 1. Oktober
       sah den Beginn landesweiter Proteste im Irak gegen Korruption, staatliche
       Unfähigkeit und den Einfluss Irans] – eine Woche nachdem eine Demonstration
       arbeitsloser Akademiker vor dem Amtssitz des Premierministers blutig
       niedergeschlagen worden war. Es entwickelten sich Aufstände, mit der
       Besetzung zentraler Plätze durch wütende Jugendliche und Massakern durch
       irantreue Milizen. Am 17. Oktober brachte im Libanon die Einführung einer
       Steuer auf Whats-App-Nachrichten zunächst nur wenige Menschen auf die
       Straße, aber als sie Gewalt erlitten, ergriffen Massendemonstrationen in
       Windeseile das ganze Land – ein Volksaufstand gegen ein verknöchertes und
       unfähiges System.
       
       [4][Am 14. Oktober hatte die Erhöhung der Fahrpreise in Chiles Hauptstadt
       Schüler zur Besetzung von U-Bahn-Stationen veranlasst], woraufhin
       Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei zur Verhängung
       des Ausnahmezustands eskalierten und eine monatelange Gewaltkonfrontation
       begann.
       
       Viele Länder Südamerikas haben inzwischen Unruhen und Massenproteste
       erlebt; ein halber Kontinent scheint in Aufruhr. In zahlreichen Ländern
       Osteuropas haben Proteste gegen Rechtsbruch an der Staatsspitze die
       Hauptstädte erschüttert. Russen demonstrierten für faire Wahlen, Ägypter
       für ein Ende von Korruption, Haitianer gegen Misswirtschaft, Guineer für
       die Einhaltung ihrer Verfassung. Katalanen sind im Aufruhr gegen Spaniens
       Zentralregierung, Frankreich wird im Windschatten der Gelbwesten-Revolte
       von Sozialprotesten erschüttert. In Iran schlug das Regime landesweite
       Proteste blutig nieder, Indien wird seit Mitte Dezember von Unruhen gegen
       ein diskriminierendes Nationalitätengesetz ergriffen – in diesen beiden
       Ländern ist noch offen, wie es weitergeht.
       
       ## Unberechenbare Proteste
       
       Die Protestbewegungen, die den Globus erschüttern, sind ebenso vielfältig
       wie unberechenbar. Sie entzünden sich oft an scheinbar nichtigen Anlässen
       und sind zuweilen dort am hartnäckigsten, wo man es am wenigsten erwartet.
       Aber es gibt einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten.
       
       Erstens: Es wird die Systemfrage gestellt – in einer Form, die die
       Herrschenden nicht beantworten können. Sofern die Proteste eine
       Eigendynamik entwickeln, geht es um mehr als den unmittelbaren Anlass –
       eine skandalöse Korruptionsaffäre, eine empörende Regierungsentscheidung.
       Die Menschen lassen sich nicht mit der Rücknahme dieser Entscheidung oder
       der Aufklärung dieser Affäre abspeisen. Sie sind auch nicht mit der
       Auswechslung der Verantwortlichen oder gar der Regierung zufrieden. Sie
       wollen ein anderes System. In Hongkong wird die Peking-Herrschaft an sich
       abgelehnt, nicht nur in einzelnen Aspekten. In arabischen Ländern wollen
       die Menschen die korrupte, mit Gewalt durchgesetzte Klüngelwirtschaft
       abschütteln. In vielen lateinamerikanischen Ländern ertragen sie die
       strukturelle Ungleichheit nicht mehr.
       
       Zweitens: Die Protestbewegungen des Jahres 2019 kommen ohne Führungsfiguren
       oder feste Organisationsstrukturen aus, und das ist das Geheimnis ihres
       Erfolges. Es gibt natürlich Verbände und Aktivisten, die Proteste im
       Einzelnen vorantreiben. Aber es gibt keine Führer und Repräsentanten, die
       insgesamt als solche auftreten und am Ende vom Staat entweder korrumpiert
       oder eliminiert werden könnten. Dadurch entziehen sich die Protestierenden
       der Käuflichkeit ebenso wie der Zerschlagung. Nur so können sie überhaupt
       etwas bewirken.
       
       Drittens, und eigentlich die Grundlage für alles andere: Die Menschen, die
       da auf die Straße gehen, beweisen immensen Mut. Die Liste der Brennpunkte
       des globalen Protests 2019 liest sich wie eine Liste der Länder, die in
       früheren Jahrzehnten am meisten für staatliche Gewalt gegen das Volk
       berüchtigt gewesen sind: Sudan und Algerien mit ihren unzähligen
       Todesopfern brutaler Militärdiktaturen; Hongkong im Schatten von Tiananmen
       und Xinjiang; Chile mit Augusto Pinochet und Haiti mit den beiden Duvaliers
       („Papa Doc“ und „Baby Doc“); Irak und Libanon mit blutigen Kriegen – und
       andernorts sieht es nicht besser aus: in Iran, Guinea, Simbabwe, Kolumbien,
       Venezuela und Russland.
       
       Man könnte meinen, dass verbreitete, oft traumatische Gewalterinnerung die
       Menschen ängstlich und vorsichtig macht. Aber die Kinder einer vergangenen
       Ära der Gewalt erweisen sich jetzt als besonders unerschrocken. Oftmals ist
       ihr Protest ein bewusster Bruch mit der eigenen Familie, mit den schlechten
       Erfahrungen ihrer Eltern, die sie nicht selbst wiederholen und erleben
       wollen.
       
       Soziale Netzwerke mobilisieren 
       
       Sie wollen etwas verändern, und als erste Generation können sie sich über
       soziale Netzwerke ständig und direkt gegenseitig mobilisieren und Mut
       zusprechen. Im Zeitalter der globalen Kommunikation verbreitet es sich
       weltweit in Echtzeit, wenn in Hongkong wehrlose junge Menschen den
       staatlichen Schlägern trotzen oder wenn in Sudan wortgewaltige
       Demonstrantinnen durch ihre Ausdauer ein Terrorregime in die Knie zwingen.
       
       Die aufrechten jungen Frauen von Khartum und Beirut, die entschlossenen
       jungen Männer von Bagdad und Algier, die empörten Studierenden von Hongkong
       und Santiago de Chile – sie alle wissen, dass sie nicht allein sind, und
       sie sehen, dass man es schaffen kann. Sie haben stellvertretend für eine
       ganze globale Generation die Furcht überwunden. Das ist das bleibende, das
       mitreißende Erbe dieses Protestjahres 2019.
       
       30 Dec 2019
       
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