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       # taz.de -- Theater und Performance aus Russland: Der unbegreifliche Riese
       
       > Russische Gegenwartskunst scheint fern. Das Festival „Karussell“ aber
       > ermöglichte in Dresden, in bildreiche Performances einzutauchen.
       
   IMG Bild: Szene aus „Prosa“ von Vladimir Rannev, der mit Musik und Animationen erzählt
       
       Der Riese im Osten, vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zum heutigen
       Putinismus schillernd, bleibt auch nach eineinhalb Wochen
       „Karussell“-Festival im Festspielhaus Dresden-Hellerau geheimnisvoll.
       Intendantin Carena Schlewitt und Kurator Johannes Kirsten haben nicht nur
       die Metropolen, sondern auch Kasan oder Nowosibirsk bereist, um sich ein
       Bild vor allem der performativen zeitgenössischen Kunst Russlands zu
       machen. Was sie für die beiden Hellerauer Festspielwochen (noch bis 25.
       Januar) ausgewählt haben, lässt bei den zahlreichen Zuschauern in fast
       immer ausverkauften Sälen keineswegs ein homogenes Bild entstehen.
       
       Das gilt sowohl für die ästhetische Vielfalt als auch für die regional
       unterschiedlichsten Arbeitsbedingungen insbesondere der freien Theater. In
       Hellerau wagten einige etwas mehr, als sie zu Hause dürfen. Schimpfwörter
       etwa sind verboten, mit Anspielungen auf Homoerotik muss man sehr
       vorsichtig sein. Das Exempel, das unter dem Vorwurf der Veruntreuung von
       Staatsgeldern am [1][Theaterregisseur Kirill Serebrennikow] statuiert
       wurde, zeigt warnende Wirkung. Die Szene ist untereinander auch weniger
       vernetzt, als wir es kennen.
       
       Vordergründiges Oppositionstheater war also bei „Karussell“ nicht zu sehen.
       [2][Vladimir Rannev, Komponist und Regisseur] der Eröffnungsoper „Prosa“,
       nennt im persönlichen Gespräch das System Putin zwar „mafiös“. Seine Arbeit
       zeige „den Stand der Dinge“ in Russland. Nicht nur bei ihm kommt auf der
       Bühne subtile Kritik meist symbolisch versteckt herüber.
       
       ## Haustyrann adoptiert
       
       Sein Musiktheater verknüpft eine Erzählungen von Yuri Mamleew und
       Tschechow. In der mit einfallsreichen Comic-Animationen erzählten
       Geschichte, interagierend mit einem neunköpfigen Vocalensemble, sucht man
       versteckte Anspielungen auf gesellschaftliche Zustände. Es erscheint
       zunächst nur psychologisch interessant, dass ein Elternpaar, das eine
       Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren hat, dessen Verursacher als
       „Ersatz“ adoptiert. Der aber entwickelt sich zum Haustyrannen. Raffinierte
       Spiegel- und Videotechnik in Verbindung mit „echten“ Kulissen schaffen
       immerhin ein ganz neues ästhetisches Erlebnis.
       
       Mehrfach zeigte sich, wie an diesem Eröffnungsabend, dass wir Mühe haben,
       codierte Bühnensignale der russischen Gäste zu verstehen. Die Älteren
       kennen diese enigmatische Kommunikation zwischen Akteuren und Zuschauern
       noch aus der DDR-Zeit. Man weiß, was gemeint ist – oder man muss wegen der
       Unkenntnis konkreter russischer Verhältnisse darauf gestupst werden.
       
       Diese inhaltliche Zurückhaltung oder Verschlüsselung scheint durch großen
       Reichtum, durch große Freude am formalen Experiment kompensiert zu werden.
       Da war „Karussell“ kaum zu überbieten, überraschte auch hiesige
       Theatergänger. Kurator Kirsten warnt auch davor, die russische Szene nur
       nach westlichen kulturpolitischen Kriterien beurteilen zu wollen.
       
       ## „Russendisko“ geht immer
       
       Unter den Besuchern fanden sich bei Weitem nicht nur russischstämmige
       Aussiedler, sondern auch erstaunliche viele junge Leute, die offenbar auch
       wegen der mitternächtlichen „Russendisko“ zum jeweiligen Tagesausklang
       kamen. Ältere konnten Schulkenntnisse dieser wunderbar klangvollen Sprache
       auffrischen. Eine mitgenommene Erkenntnis bestand darin, dass die „ganz
       anderen Russen“ gar nicht so anders sind als wir und dass uns in der
       Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Segnungen und Auswüchsen, viel
       verbindet.
       
       Ein Beispiel dafür gab Gorkis „Kinder der Sonne“ des Nowosibirsker
       staatlichen Theaters „Rote Fackel“. Es brachte eine hochprofessionelle,
       empathische Inszenierung im seelenerforschenden Stanislawski-Stil. Der auch
       in Deutschland arbeitende [3][Regisseur Timofei Kuljabin] versetzt das
       Geschehen aber nach Kalifornien, wo der von seiner Tätigkeit besessene
       Protagonist Pawel Protassow nicht als Chemiker, sondern als IT-Spezialist
       arbeitet. Hintergrund ist auch nicht eine drohende Choleraepidemie oder das
       Massenelend, sondern der von apokalyptischen Ängsten begleitete
       Jahrtausendwechsel 1999/2000.
       
       Es menschelte eher, als dass rebelliert wurde. So beim Prolog der
       „Märchenfabrik Kwartira“ aus St. Petersburg. Ein Projekt mit Menschen mit
       Behinderungen, das an Wohnungsgespräche aus den 1920er Jahren anknüpft. Die
       Zuschauer durften an den erzählten und illustrierten Fantasiegeschichten
       selbst mitspinnen. Bei der interaktiven Performance „Co-Touch“ imaginiert
       man bei verbundenen Augen und Natur- und Alltagsgeräuschen per Kopfhörer
       eine Umgebung, durch die unsichtbare Helferinnen mit sanftesten Berührungen
       führen.
       
       ## Labyrinth der Mann-Frau-Beziehungen
       
       Zu Recht ausverkauft waren auch die Vorstellungen von „147“, eine gekonnte,
       videountermalte Performance aus Kasan. Ihr liegt das Buchprotokoll der
       tatarischen Journalistin und Autorin Radmila Khakova zugrunde, die mittels
       ihrer 147 Dates in ein teils amüsantes, teils tragisches Labyrinth der
       Mann-Frau-Beziehungen führt.
       
       Dmitry Volkostrelovs „Das Feld“ hingegen bemühte einen eher aufgesetzten
       Avantgardismus, wenn 45 Spielszenen von einem Algorithmus kombiniert
       werden. Die ziemlich banalen Szenen von Mähdrescherfahrern hätten auch im
       Kolchos spielen können, eine Art postsowjetische
       Arbeiter-und-Bauern-Postdramatik.
       
       Verblüffung hinterließ ein Streichquartett mit Kompositionen ganz junger
       Musiker, die an die Verfremdungs- und Geräuschtechniken der 1970er und 80er
       Jahre in Europa erinnerten. Schaben, Kratzen, Büroklammern auf den Saiten –
       aktuelle russische Kunst bietet eben alle Epochen und Stile zugleich.
       
       23 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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