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       # taz.de -- Film über Nationalsozialismus: Objekte des Mordens
       
       > Die Spuren sind überall: Der neue Dokumentarfilm „Nachlass – Passagen“
       > dokumentiert Hinterlassenschaften der NS-Zeit.
       
   IMG Bild: Ursula Wilms führt über das Gelände der Topographie des Terrors in Berlin
       
       Ein Klavier, hergestellt von der Berliner Firma Weidenslaufer, ein
       Familienerbstück. Nach Aussage der Mutter, der heutigen Besitzerin, haben
       die Eltern das Klavier „damals in Berlin von Leuten gekriegt, die
       weggezogen sind“. Für die heutige Besitzerin, die Psychoanalytikerin
       Marianne Bosshard, war nach dieser Aussage sicher, dass das Klavier aus dem
       Besitz geflüchteter oder ermordeter Juden stammt. Was tun mit dem Klavier?
       
       Als der Haushalt der Mutter aufgelöst wurde, wollten die Geschwister das
       Klavier nicht haben. Die Geschichte des Klaviers war ihnen nicht geheuer.
       Bosshard ließ das Klavier überholen, überlegte, das Instrument auf die eine
       oder andere Weise zurückzuerstatten. Der Plan geriet in Vergessenheit, das
       Klavier steht noch in der Wohnung. Seine Geschichte geriet über der Nutzung
       in der Familie aus dem Blick.
       
       Dieses Aus-den-Gedanken-Verlieren bildet eines von neun Kapiteln in dem
       Dokumentarfilm „Nachlass – Passagen“ von Christoph Hübner und Gabriele
       Voss. An konkreten Beispielen zeigt der Film verschiedene Ansätze, mit den
       Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus und der deutschen
       Vernichtungspolitik umzugehen.
       
       In der Berliner [1][Topographie des Terrors] loten die Filmemacher im
       Gespräch mit der Architektin des Gebäudes, Ursula Wilms, die Besonderheiten
       einer Ausstellung an einem Ort wie dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt
       aus. Nach einem Abbruchhandel und einem Verkehrsübungsplatz begann Mitte
       der 1980er Jahre auf dem Gelände die Suche nach einem angemessenen Umgang
       mit der Geschichte des Ortes.
       
       ## Aus der Strafverfolgung eines Auschwitz-Wachmanns
       
       Am Beispiel der neu gestalteten Dauerausstellung der [2][Gedenkstätte
       Buchenwald] in Weimar gibt der Film einen Einblick in die Überlegungen, wie
       Objekte des Mordens auszustellen sind. Das konkrete Beispiel ist ein
       mobiler Galgen, mit dem die SS in den umliegenden Dörfern öffentlich
       Häftlinge ermordete.
       
       In Gesprächen mit den beiden Staatsanwälten Kurt Schrimm und Andreas
       Brendel nähern sich die Filmemacher dem komplexen Thema der Strafverfolgung
       nationalsozialistischer Täter. Schrimm war bis 2015 Leiter der Zentralen
       Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer
       Verbrechen in Ludwigsburg, Brendel Staatsanwalt im Prozess gegen den
       Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning. Während Schrimm die Geschichte der
       Strafverfolgung von NS-Tätern nach 1945 umreißt, erläutert Brendel am
       konkreten Beispiel die Gegenwart des juristischen Umgangs mit den
       Verbrechen während des Nationalsozialismus.
       
       Vor zwei Jahren zeigten Hübner und Voss in „Nachlass“ den Umgang mit
       Familiengeschichte unter Nachfahren von Tätern und Opfern des
       Nationalsozialismus. In „Nachlass – Passagen“ ordnen sie die
       familiengeschichtlichen Ansätze in ein Panorama von Versuchen ein, sich zu
       diesem „Nachlass“ zu verhalten. Dabei ist ein spröder Film entstanden, der
       seine Kapitel nebeneinanderstellt, ohne sie beispielsweise durch einen
       Kommentar zu verbinden. Die Zusammenhänge des Gezeigten erschließen sich
       erst mit der Zeit.
       
       Der Film zeigt in allen Beispielen, wie gegenwärtig der Nationalsozialismus
       in seinen Hinterlassenschaften bis heute ist. Die Spuren sind überall zu
       finden, vom System der Vernichtung, dessen Stätten über die Landkarte
       verstreut liegen, die Stadtbilder, in deren Leerstellen sich verdrängte
       Tätergeschichte verbirgt, bis in das Familienerbe hinein, in dem ein
       scheinbar unschuldiges Klavier auf die Geschichte des Mordens und der
       Vertreibung verweist. „Nachlass – Passagen“ ist gerade in seiner
       unprätentiösen Form eine Einladung, sich der Allgegenwärtigkeit der
       Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus immer wieder aufs Neue zu
       stellen.
       
       23 Jan 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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