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       # taz.de -- Reportage aus Iran: Der General und das Volk
       
       > Die Staatstrauer um einen getöteten General schien Iran zu einen. Doch
       > dann wurde ein Flugzeug abgeschossen. Eindrücke aus einem brodelnden
       > Land.
       
   IMG Bild: Vor der Amir-Kabir-Universität in Teheran gedenken Hunderten den Absturzopfern, 11. Januar
       
       Teheran/Marivan taz | Er prangt von Häuserwänden in Teheran, blickt von
       Autobahnbrücken und Hochhäusern herunter, sogar im Dunkeln, als
       Lichtprojektion. Er blinzelt einem väterlich aus den Fenstern der
       Schuhgeschäfte und von Bildschirmen der Geldautomaten entgegen und sogar in
       den Bergstraßen des Elbrus-Gebirges grüßt Qasim Soleimanis überlebensgroßes
       Profil die Lkw-Fahrer.
       
       Der iranische Staat hat nach der Tötung General Soleimanis durch das
       US-Militär am 3. Januar Staatstrauer angeordnet, deshalb der Personenkult.
       Quasi über Nacht wurde das Konterfei des Chefs der Quds-Einheit zum
       [1][vermeintlichen Heilsbringer der Machthaber]. Mit allen Mitteln
       versuchen sie, die Proteste, die sich im November an den steigenden
       Benzinpreisen entzündet hatten, in weite Ferne rücken zu lassen.
       
       Seit der Grünen Revolution 2009 gingen in Iran nicht mehr so viele Menschen
       zum Protestieren auf die Straße wie im vergangenen November. Tagelang
       sperrte der Nationale Sicherheitsrat den Zugang zum Internet, um zu
       vermeiden, dass sich Informationen, Bilder und Videos der Menschenmassen
       verbreiten. Hunderte Menschen verschwanden. Die Menschenrechtsorganisation
       Amnesty International berichtet von mindestens 306 Toten. Tausende Menschen
       seien festgenommen worden. Bis heute lassen sich die genauen Zahlen nicht
       eruieren.
       
       Der Tod Soleimanis lässt das Staatsfernsehen wieder andere Bilder in die
       Welt senden: „Tod den Amerikanern!“, skandieren in den Tagen der
       Staatstrauer Tausende auf den Straßen Irans. Schluchzend laufen Frauen bei
       Soleimanis Trauerzug in Richtung der Kameras. Der Schattenkrieg mit den USA
       rückt die Novemberproteste für kurze Zeit in den Hintergrund. Und er führt
       [2][zu einer tiefen Spaltung im Land]: zwischen jenen, die in ihren
       Instagram-Storys „R. I. P. General“ schreiben, und jenen, die „More of
       those killings!“ fordern.
       
       ## Provinz der Aufstände
       
       Während in Teheran in den Tagen der Staatstrauer die Läden geschlossen
       bleiben, herrscht in den Straßen von Marivan, zehn Autostunden westlich der
       Hauptstadt, geschäftiges Treiben. „Hier wird nicht getrauert“, sagt ein
       Orangenverkäufer. Mit seinen etwas über 100.000 EinwohnerInnen ist Marivan
       die größte und wichtigste Stadt der westiranischen Provinz Kurdistan, wo es
       in der Vergangenheit immer wieder zu Aufständen kam. Es ist die Provinz,
       die am stärksten vom Abbau staatlicher Subventionen in der
       Gesundheitsversorgung, der Bildung und der Privatwirtschaft betroffen ist.
       
       Neben dem Basar gehen PassantInnen in bunten Röcken und breiten Hosen zügig
       an einem Bankgebäude vorbei. „Nutzen Sie die nächste Filiale, diese ist
       vorübergehend geschlossen“, steht auf einem Banner neben der verkohlten Tür
       – ein Mahnmal der Proteste vom November, die hier in den Köpfen noch lange
       keinen Abschluss gefunden haben. Erst gut zwei Wochen zuvor, Mitte
       Dezember, wurde der 25-jährige Aktivist Erschad Rahmanian in einem
       vereisten Stausee gefunden. Er war einer von Dutzenden, die während der
       Proteste verschwunden waren. „Noch bevor du deine Arme mit einem Banner in
       die Luft strecken kannst“, sagt ein Lehrer, „hast du eine Faust im
       Gesicht.“ Trotzdem ging er im November auf die Straße. Zweimal wurde er
       verhaftet, von seinem Job ist er suspendiert. „Zu verlieren habe ich nichts
       mehr“, sagt er.
       
       Hinter dampfenden roten Rüben und Bohnen sitzt eine Studentin im
       Schnellrestaurant neben der großen Moschee. Für junge Menschen gibt es in
       der Stadt kaum Treffpunkte, keine Bars oder Cafés. Einen Job finden die
       wenigsten. „Alles ist hier politisch“, sagt sie, „selbst das Leben meiner
       Katze.“ Viele Gesundheitsdienstleistungen gebe es nur in der Hauptstadt.
       Und ihre Schwester könne sich die lange geplante Weisheitszahn-OP nicht
       mehr leisten. Die wirtschaftliche Misere betrifft das ganze Land: Das
       Durchschnittseinkommen liegt bei 2 Millionen Toman im Monat, knapp 170
       Euro. Sich einen Zahn ziehen zu lassen, kostet etwa 500.000 Toman.
       
       Der Pass hinauf zum Kuh-e-Tacht-Gebirge, ein paar Kilometer von Marivan
       entfernt, ist an diesem Morgen geöffnet. Hunderte Autos und Transporter
       stehen hintereinandergereiht. Neben einem Lastwagen wischt sich der
       32-jährige Kenan Amir den Schweiß vom Nacken. Seit drei Uhr morgens ist er
       unterwegs, elf Stunden hat er gebraucht, um zu Fuß einen Samsung-Fernseher
       aus dem Irak über die verschneite Berggrenze zu schleppen. Er ist einer von
       Hunderten „Kolbars“, die seit Jahren begehrte Konsumprodukte ins Land
       bringen: Fernseher, Sexspielzeug, Waschmaschinen, Computer, Zigaretten,
       Satellitenschüsseln, Alkohol. Hinter Amir mühen sich Männer mit mannsgroßen
       Paketen auf dem Rücken über den Felsvorsprung zu den parkenden Autos.
       
       ## Protest gegen die Lügner
       
       Was er von der Ermordung Soleimanis hält? Amir lacht. „Wir haben hier
       andere Tote als Generäle.“ Vor drei Wochen starben zwei minderjährige
       Brüder in einem Schneesturm beim Versuch, sich vor den Revolutionsgarden zu
       verstecken. Immer wieder mal schießen Polizisten auf die Schmuggler. Diese
       aber sehen keine Alternative für ein Auskommen. „Sanktionen, Korruption und
       Misswirtschaft“, sagt Amir, „zwingen uns zum Schmuggel.“ Er hat sich als
       Lehrer, als Apotheker und in einer Rohölfabrik beworben – wo er genommen
       worden wäre, hätte er ohne Bezahlung anfangen. Keine Option für ihn: Seine
       ganze Familie ist von seinem Einkommen abhängig. „Der Krieg hat für uns
       schon vor Jahren angefangen. Dafür brauchen wir keine Bomben aus dem
       Himmel. Wir spüren ihn jeden Tag auf unserem Rücken“, sagt er.
       
       Nachdem am Morgen des 8. Januar eine Boeing mit 176 Menschen an Bord bei
       Teheran abgestürzt ist, sitzt Amir in einem abgeschiedenen Bergdorf bei
       einem Freund vor dem Fernseher und schüttelt den Kopf. „Wahrscheinlich hat
       unsere eigene Regierung die Menschen abgeschossen“, sagt er. Drei Tage
       später wird seine Vorahnung bestätigt. Nach tagelangen
       Vertuschungsversuchen räumen die Revolutionsgarden am Samstag ein, das
       Passagierflugzeug aus Versehen zum Absturz gebracht zu haben.
       
       Am Samstagabend liefern sich in einem Frauenabteil der U-Bahn in Teheran
       zwei Frauen einen lauten Streit. „Ach, sei doch still. Wie kannst du diese
       Lügner noch verteidigen?“, sagt eine und schreit dann in den Waggon:
       „Glaubt ihr immer noch, was sie uns ins Ohr flüstern? Vier Tage haben sie
       nichts gesagt! Vier Tage!“ Vor der Universität flackert das Licht vieler
       Kerzen. Hunderte Menschen haben sich versammelt, um der Opfer des
       Flugzeugabschusses zu gedenken. Davon unbeeindruckt schleift ein Junge
       einen Plastiksack über die überfüllte Straßenkreuzung. „Die Staatsaufseher
       weisen mich zurecht, wenn mein Kopftuch nicht richtig sitzt“, sagt eine
       31-jährige Doktorandin zur Freundin neben ihr. „Aber an einem Neunjährigen,
       der nicht zur Schule geht, weil er seine Familie mit Plastiksammeln
       durchbringen muss, gehen sie vorbei.“
       
       Die Menschen wissen genau, was sie riskieren. Dennoch ragen aus dem Meer
       aus Kerzen immer mehr Fäuste in die Luft. „Nieder mit der Islamischen
       Republik!“, rufen immer mehr. Die Doktorandin zurrt ihren Rucksack fester
       auf den Rücken, ihre Freundin schiebt sich ihren Schal vor den Mund. Später
       bestätigt die iranische Nachrichtenagentur Irna Meldungen aus dem Ausland,
       nach denen sich an diesem Samstag in Teheran 3.000 Menschen versammelt und
       gegen das Regime protestiert haben.
       
       Plötzlich knallt es. Kerzen rollen über den Boden. Innerhalb von Sekunden
       brechen die Versammelten in alle Richtungen aus. Die zwei Freundinnen
       nehmen sich an der Hand, reißen sich gegenseitig die Straße hinauf. „Ihr
       ruft nach Vergeltung und tötet eure eigenen Kinder!“, schreit ein Mann.
       Kommen die Schüsse von oben? Oder von rechts? Ist es Tränengas? Oder
       scharfe Munition? In der Ungewissheit verliert sich die Masse in
       Nebenstraßen, Cafés, Hauseingängen.
       
       Später ist in der Stadt zu sehen, wie sich immer mehr Sicherheitskräfte mit
       Motorrädern auf den Kreuzungen sammeln. Und in den Einkaufstraßen gehen die
       PassantInnen über kleine Fetzen abgerissener Soleimani-Plakate.
       
       Die Autorin ist freie Journalistin und hat bereits mehrfach für die taz
       berichtet. Aus Sicherheitsgründen erscheint dieser Text unter Pseudonym.
       Aus demselben Grund wurden sämtliche zitierten Personen unkenntlich
       gemacht.
       
       17 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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