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       # taz.de -- Neue Hegel-Biografie im Jubiläumsjahr: Vulkan der Vernunft
       
       > Hegel war kein reaktionärer Denker, sondern ein universalistischer
       > Liberaler. Das belegt Klaus Vieweg in seiner neuen Hegel-Biografie.
       
   IMG Bild: Hegel mit Berliner Studenten
       
       In diesem Jahr ist der 250. Geburtstag eines der wirkmächtigsten Denker der
       Welt, Georg Wilhelm Friedrich Hegels, zu begehen. Zu diesem Anlass ist nun
       endlich eine seit Langem fehlende, umfassende Biografie in deutscher
       Sprache erschienen – die letzte wurde von Hegels Schüler Karl Rosenkranz
       publiziert: im Jahr 1844, als [1][Karl Marx die sogenannten Pariser
       Manuskripte] schrieb.
       
       Bei der nun erschienenen Biografie geht es dem in Jena wirkenden Professor
       für Philosophie, Klaus Vieweg, nicht zuletzt um eine Richtigstellung, mehr
       noch: um eine Ehrenrettung. Gilt doch Hegel – bei aller Anerkennung seiner
       grundlagentheoretischen Verdienste – vielen als ein nach wie vor am Ende
       geradezu reaktionärer Denker, der, zumal mit seiner „Rechtsphilosophie“ und
       ihrem Vorwort, das angeblich darauf zielte, freiheitlich denkende Kollegen
       zu denunzieren, die Restauration propagierte.
       
       So waren es nicht zuletzt Liberale, die Hegel nach dem Scheitern der
       Revolution von 1848 als preußischen Staatsdenker denunzierten; eine
       Sichtweise, die ihren Höhepunkt in Karl Poppers – 1944 im neuseeländischen
       Exil geschriebenen – Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“
       erreichte. Popper zieh Hegel nicht nur einer schwülstigen und
       mystifizierenden Sprache, sondern ging auch so weit, Hegel als Vordenker
       des modernen Totalitarismus zu bezeichnen.
       
       Genau diese Sichtweise zu korrigieren ist die erklärte Absicht dieser
       großen Lebenserzählung, der es um nicht weniger geht, als Hegel mit seinem
       ganzen Werk als den Philosophen moderner Freiheit zu erweisen: von seiner
       Jugend bis ins Alter, von seinen abstraktesten Philosophemen bis zu
       konkretesten politischen Aussagen.
       
       Dieser Denkweg hinterließ auch im Menschen Hegel seine Spuren, denn: „Auf
       Hegels Lebensbild“, so Vieweg, „kann nicht die bleichgesichtige
       Denkerstirn, sondern muss der lebenslustige, humorvolle, oft von inneren
       und äußeren Kämpfen zerrissene Mensch, der Zeitgenosse einer von
       turbulenten Umbrüchen geprägten Epoche zu sehen sein.“
       
       Dabei übersieht Vieweg nicht, dass Hegel ein im besten Sinne bürgerliches
       Leben führte – ein bürgerliches Leben, dem es freilich nie um etwas anderes
       ging als um Freiheit, ein Motiv, dem nur unter äußersten Anstrengungen
       nachzugehen war, denn „nach außen haben wir es wohl mit einem vorsichtig
       agierenden, gemächlich und gründlich prüfenden, ruhigen Verstandesmenschen
       (Hölderlin) zu tun, in dessen Innerem aber eine nur mühsam gebändigte
       vulkanische Lava brodelte“.
       
       ## Prüfender, ruhiger Verstandesmensch
       
       In Gang gesetzt wurde dies Brodeln im Tübinger Stift, in dem Hegel
       gemeinsam mit seinen Kameraden Hölderlin und Schelling begeistert die
       Ereignisse der Französischen Revolution beging, indem sie etwa um einen
       Freiheitsbaum tanzten. Mehr noch: von Hegel wird erzählt, dass er ein Leben
       lang – als bürgerlicher, verheirateter Professor – an jedem 14. Juli ein
       Glas Wein auf die Französische Revolution und ihre Parolen „Freiheit,
       Gleichheit, Brüderlichkeit“ getrunken haben soll.
       
       Vieweg entfaltet diese Lebensgeschichte auf mehr als sechshundert Seiten in
       sechs großen Kapiteln, die von „Die liebe Vaterstadt – Kindheit und Jugend
       in Stuttgart“ bis zum neunten Kapitel „Berlin – Der große Mittelpunkt“
       sowie Hegels „Aufstieg zur Weltgeltung“ reicht.
       
       In geschickter und anschaulicher Weise verbindet Vieweg Biografisches und
       Anekdotisches – Hegel, ein charmanter Freund schöner Frauen – mit
       systematischen Überlegungen, die aber stets dem lebensgeschichtlichen
       Denkweg folgen: vom angehenden Akademiker über die Position als liberaler
       politischer Journalist in Bamberg zum Gymnasialdirektor in München bis zum
       Professor in Heidelberg und schließlich in Berlin.
       
       Bei alldem gelingt es dem Biografen stets, Hegel als Kind seiner Zeit, als
       Kunstliebhaber und Opernbesucher, als hochgeschätzten Freund Goethes, Jean
       Pauls und E. T. A. Hoffmanns sowie als vorsichtigen Unterstützer vom
       Obrigkeitsstaat verfolgter Demokraten darzustellen. Sosehr diese Abschnitte
       im besten Sinne unterhalten, so sehr ist das lesende Publikum aber auch
       gefordert, die jeweiligen philosophischen Darstellungen des sich
       entwickelnden Hegel’schen Denkens geduldig und aufmerksam zu studieren.
       Tatsächlich ist es Vieweg gelungen, Hegels Philosophie sehr klar und
       anschaulich zu erläutern. Auf genau diesem Wege gelingt es ihm, die
       Denunziationen Hegels als Reaktionär Punkt für Punkt zu widerlegen.
       
       Als Hauptvorwurf wird noch immer die im Jahre 1821 publizierte Vorlesung
       „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ mitsamt ihrer „Vorrede“ ins Feld
       geführt. Habe doch Hegel hier nicht nur einen Kollegen – den
       kantianisierenden Philosophen Fries – denunziatorisch der „Seichtigkeit“
       geziehen, sondern auch die berühmt-berüchtigten Sätze „Was vernünftig ist,
       das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ geäußert.
       
       Bei alldem ist wenig bekannt, dass der so gescholtene Jakob Friedrich Fries
       zwar ein sich demokratisch gebender, gleichwohl aber volkstümelnder und
       antisemitischer Demagoge war, der deshalb 1819 in Jena zwangsemeritiert
       wurde.
       
       Was aber Hegels berüchtigte Formulierung von der „Vernunft der
       Wirklichkeit“ betrifft, so kann Vieweg überzeugend nachweisen, dass diese
       Formel von Hegel geäußert wurde, um dem reaktionären Verfolgungsdruck, der
       auf ihm als einem Demokraten lastete, zu entgehen; anders als in der
       Druckfassung heißt es nämlich in einer Vorlesungsnachschrift: „Was wirklich
       ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert.“ So
       musste auch der Schüler und Hörer von Hegel – kein Geringerer als Heinrich
       Heine – einräumen, zunächst gedacht zu haben, dass Hegel servil gewesen
       sei, indes habe sich – so Heine – Hegel nach der Äußerung des Satzes
       „Alles, was vernünftig ist, muss sein“ hastig umgesehen, fürchtete er doch
       die Spitzel der preußischen Geheimpolizei.
       
       ## Kein Eurozentriker
       
       Vieweg kann so bündig nachweisen, dass Hegel nicht nur ein schwärmerischer
       Freiheitsliebhaber, sondern ein in jeder Hinsicht universalistischer
       Liberaler war, ein Denker der modernen Freiheit, der grundsätzlich gegen
       jede Form der Sklaverei, ja gegen den Begriff des Sklaven selbst war,
       widerspreche doch dieser Begriff dem Begriff des Menschen – eines jeden
       Menschen als eines Freien. Aus dieser Erkenntnis resultierte für Hegel
       nicht weniger als ein politisches Widerstandsrecht.
       
       Als dem Philosophen der Freiheit kann Hegel – diesen Nachweis versucht
       Vieweg – auch nicht der Vorwurf des Eurozentrismus gemacht werden: fallen
       doch seiner Überzeugung nach Kulturrelativisten „in den Terrorismus der
       Besonderheit“. Wie wenig Hegel ein Eurozentriker war, zeigt sich auch an
       seinen Anstrengungen, nachzuweisen, wie viel die hellenische Kultur
       orientalischen Denkweisen und Kulturen verdankt.
       
       Vor allem aber war Hegel ein aufmerksamer Beobachter der politischen
       Entwicklungen seiner Epoche: seine letzte Publikation, ein politischer
       Essay, galt einem „europäischen“ Thema: „Über die englische Reformbill“.
       Darin ging es Hegel um das Prinzip des Bürgers als des politischen
       Souveräns, dessen Rechte eben nicht durch „schmutzigen Geldvorteil“ oder
       „Privatinteressen“ beeinträchtigt werden dürften. Als Hegels letzte Worte
       aus dem Jahre 1831 – er wurde 61 Jahre alt – notierte sein Schüler David
       Friedrich Strauß: „Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, daß der
       ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt.“
       
       Gewiss: Viewegs Biografie ersetzt – mit Muße und Aufmerksamkeit gelesen –
       zwar nicht die Lektüre der Originaltexte, führt aber doch so nahe an sie
       heran, dass deren Lektüre nicht nur leichter fällt, sondern sie auch in
       ihrer historischen und epochalen Bedeutsamkeit durchsichtig macht.
       
       Demgegenüber mag zu vernachlässigen sein, dass der Biograf aktuelle,
       heftig, bis zum Überdruss diskutierte Themen dieser Philosophie, nämlich
       die Probleme der „Anerkennung“, nicht besonders intensiv erörtert.
       
       Was dem Rezensenten aber tatsächlich zu fehlen scheint, ist eine intensive
       Auseinandersetzung mit des Freiheitsdenkers Hegel Kritik der Französischen
       Revolution, wie er sie 1806 in der „Phänomenologie des Geistes“ im Kapitel
       „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ unternommen hat – eine Kritik,
       die ihn schließlich zum Befürworter Napoleons werden ließ. Hegel gedachte
       der Revolution in Ehrfurcht und Freude – ein politischer Revolutionär war
       er, obgleich ein revolutionärer Denker, eben doch nicht.
       
       24 Jan 2020
       
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