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       # taz.de -- Münchner Technolabel „Ilian Tape“: „Wir müssen es fühlen können“
       
       > Dario und Marco Zenker betreiben das Label Ilian Tape. Es hat sich als
       > feste Größe der Technoszene etabliert, im Ausland mehr als hierzulande.
       
   IMG Bild: Münchner Multichecker: Dario und Mario Zenker sind Ilian Tape
       
       Ein Samstagabend in der Mainstreamhölle von München. Dieter Bohlen feiert
       in der ausverkauften Olympiahalle nach 16 Jahren Pause sein Comeback und
       Tausende treue Fans warten sehnsüchtig, dass er Modern-Talking-Hits wie
       „Cheri, Cheri Lady“ anstimmt. Am selben Abend in der gleichen Stadt landet
       man zwei Stunden später in einem [1][Rave-Paralleluniversum]. Es ist eine
       Party, bei der keine sozialen Medien mit Fanvideos und -fotos geflutet
       werden, aus dem einfachen Grund, weil am Eingang alle Handykameras
       abgeklebt werden. Auch singt niemand mit, stattdessen verlieren sich die
       Tanzenden in einem Soundmalstrom.
       
       Im Club „Blitz“ steigt dann der regelmäßige DJ-Abend des Münchner
       Technolabels Ilian Tape. Vor dem Deutschen Museum, in dem der Blitz Club
       untergebracht ist, bildet sich morgens um eins eine lange Schlange. Drinnen
       legen die beiden Labelbetreiber, die Zenker Brothers harten
       Breakbeattechno auf. Besucher*innen tanzen im Trockeneisnebel, die
       Tanzfläche ist proppenvoll. Viele Gäste drängen sich ums DJ-Pult,
       irgendwann sind die beiden DJs allseits umringt von Tänzer*innen. Hier
       trifft sich die Electroszene der Stadt und bewegt sich zu den
       elektronischen Emotionen der Musik.
       
       Die beiden DJs sind Dario, 35, und Marco, 31, Zenker. Seit 2007 betreiben
       sie das Label Ilian Tape, und seither ist ihre kleine Klitsche langsam,
       aber stetig gewachsen. Momentan veröffentlichen 20 Künstler auf Ilian Tape,
       und die beiden Gründer erledigen alles in Eigenarbeit. Zwölf Jahre beim
       schnelllebigen Dancefloor sind eine halbe Ewigkeit. Inzwischen werden
       Ilian-Tape-Platten gehypt. Das britische Magazin The Wire wählte eine
       davon, die neue Maxi des Produzenten Skee Mask unter die Top drei 2019.
       
       ## Ohne falsche Bescheidenheit
       
       „Als Label relevant zu bleiben, ist mit ständigem Input verbunden“, erklärt
       Dario. Er zeigt keine falsche Bescheidenheit, was Ilian Tape angeht. Denn
       er ist überzeugt von dem, was er mit seinem Bruder auf die Beine gestellt
       hat, und wundert sich, warum besonders deutsche Medien so gut wie nie
       anklopfen.
       
       Dario ist der extrovertiertere der beiden, gleichzeitig forsch und direkt,
       im nächsten Moment auch fröhlich. Marco ist zurückhaltender, seine Augen
       fangen an zu funkeln, wenn er vom Label und der Zusammenarbeit mit den
       Künstlern spricht. Eines haben sie gemeinsam: Sie brennen für ihre Musik.
       Zum Treffen im [2][Glockenbachviertel], in dem sie aufgewachsen sind und
       immer noch wohnen, erscheinen die Brüder deckungsgleich dunkel gekleidet.
       Beide tragen blaue Mützen, die mit dem Namen ihres Labels gebrandet sind,
       Dario dazu noch einen Pulli, auf dem in fetten weißen Lettern ‚Ilian Tape‘
       prangt. Neben der Labelarbeit bauen sie gerade ihr kleines Studio aus. Oft
       legen sie an den Wochenenden irgendwo in der Welt auf, diesmal ist es
       freitags in Berlin und samstags in Funchal auf der portugiesischen Insel
       Madeira.
       
       Bis 2015, als sie ihr erstes eigenes Album rausgebracht haben, machten sie
       noch Nebenjobs. Seither konzentrierten sich die Zenkers voll auf ihre Musik
       und Ilian Tape. „Unter der Woche arbeiten wir fürs Label, am Wochenende
       legen wir auf“, erzählt Marco. Sein älterer Bruder Dario ergänzt: „DJing,
       Produzieren eigener Musik und die Arbeit am Label ist mehr als ein
       Vollzeitjob.“ Der Ilian-Tape-Sound experimentiert oft mit pumpenden,
       straighten Techno und komplexen Breakbeat-Rhythmen. Ein zappeliger
       ADHS-Sound, der nie zur Ruhe kommt, und trotzdem klingt er spielerisch und
       nie stumpf.
       
       ## Rauben Zeit, kosten Kraft
       
       Man stellt sich das so romantisch vor: Aber die Kommunikation mit ihren
       Künstlern, administrative Aufgaben und das Abarbeiten von Bestellungen über
       ihren Onlineshop rauben Zeit und kosten Kraft: Zwar haben die Brüder schon
       darüber nachgedacht, Mitarbeiter*innen einzustellen, doch Aufgaben
       wollen sie – noch – nicht abgeben, sie machen es gern selbst, wie sie
       sagen.
       
       Dabei wäre es ein Leichtes, kommerziell erfolgreiche Künstler*innen unter
       Vertrag zu nehmen und mehr Platten zu verkaufen. Sie bekommen so viele
       Angebote, dass sie auf ihrer Website geschrieben haben: „We are currently
       not looking for demos!“, um Anfragen abzuwimmeln. „Wir wollen überschaubar
       bleiben. Weil Musik sonst keinen Raum zum Atmen hat, sich nicht
       weiterentwickeln kann. Lieber halten wir uns zurück“, erklärt Marco Zenker.
       
       Wenn, dann wollen sie zusammen mit ihren Künstler*innen wachsen. Denn mit
       ihnen sind sie befreundet; Dario beschreibt es als familiäres Verhältnis.
       „Das war nie eine strikte Künstler-Label-Arbeitsbeziehung“, sagt er.
       Stattdessen wollen sie sich gegenseitig inspirieren und gemeinsam
       weiterentwickeln, führt Marco aus.
       
       Auf einen Trademark-Sound ihres Labels legen sich die Zenkers nur ungern
       fest. Darin sehen sie auch keine Notwendigkeit, denn Genregrenzen würden
       immer durchlässiger, alles würde sich immer mehr miteinander vermischen,
       sagen sie. Tatsächlich bedienen sich die Künstler des Labels aus ganz
       unterschiedlichen Einflüssen, die sie in ihren Songs verflechten:
       Breakbeat, Techno, Drum’n’Bass und Ambient.
       
       ## Bruch mit der Tradition
       
       Damit setzen sich die Zenkers bewusst von einer Münchner Traditionslinie
       ab, die ihren Anfang beim popaffinen Munich Disco-Sound der Siebziger hat.
       Als Giorgio Moroder in den Musicland-Studios Songs und Alben von Donna
       Summer und anderen Stars produzierte, die weltweit gespielt wurden. Seither
       fühlen sich zahlreiche DJs und Produzenten in der Stadt automatischen dem
       Crowdpleaser-Ansatz von Moroder verpflichtet.
       
       Für die Zenkers hat die ruppige Klangsignatur von Ilian Tape aber
       mindestens genauso viel Soul. „Wir müssen den Sound fühlen können, das ist
       entscheidend“, sagt Marco. Dieses Gefühl verbinde die Künstler auf ihrem
       Label. Dabei bewegt sich die Musik zwischen zwei Polen. Am einen Ende
       stehen harte, oft vom Breakbeat beeinflusste Tracks, die düster, fast
       bedrohlich wirken. Dem entgegengesetzt ist ein sehr melancholischer Sound.
       Mit Tracks, die von Synthieflächen getragen werden, dabei sehr sphärisch
       sind und in Richtung Ambient gehen.
       
       „Wir wollen etwas Zeitloses machen und laufen keinen Trends nach“, so
       beschreibt Dario den Vibe des Labels. Mittlerweile bekommt Ilian Tape für
       seine kompromisslose Haltung auch im In- und Ausland Anerkennung. Die
       Berliner Plattenladen-Institution [3][Hard Wax] verkauft alle Exemplare
       regelmäßig aus. Zuletzt sorgte das Album „Compro“ des Münchner Produzenten
       Skee Mask für Aufsehen, das die Hörer*innen in einen einstündigen
       Ambientstrudel zieht. Es wurde vom Musikmagazin Pitchfork als eines der 200
       wichtigsten Alben der 10er Jahre gefeiert.
       
       Solche Erfolge strahlen zurück auf das Label. Ilian Tape sticht aus der
       Masse der gesichtslosen Dancefloorlabels heraus. Die minimalistische
       Aufmachung der schwarzen Cover, Aufkleber (die die Mutter der beiden malt),
       die tagartigen Künstlernamen und kopfstarken Beats sorgen für
       Wiedererkennungswert. Der Künstlerstamm von Ilian Tape ist sehr
       international: Die neueste Veröffentlichung kommt vom italienischen DJ
       Stenny, der auf seinem Debüt „Upsurge“ mit breakigen Rhythmen und
       experimentellem Electro eine Blaupause für den Ilian-Tape-Sound liefert.
       Weitere Künstler stammen aus den USA, aus Argentinien und Serbien.
       
       ## Lernen von den Alten
       
       Dabei ist den Zenkers ein enger Bezug zur lokalen Künstler*innenszene
       wichtig. Im Austausch mit anderen Münchener Künstler*innen wie Richard
       Bartz und Jichael Mackson hätten sie sehr viel gelernt. „Insiderwissen muss
       man teilen und weitergeben“, sagt Marco. Die beiden Zenkers sind Münchner
       durch und durch. Hier haben sie ihr sozialen Kontakte, hier fühlen sie sich
       zu Hause. So etwas in einer anderen Stadt neu aufzubauen, können sie sich
       nicht vorstellen.
       
       „Als wir angefangen haben, ernsthaft an dem Projekt zu arbeiten, sind
       gefühlt alle nach Berlin gegangen“, sagt Marco. Weggehen schien ihnen zu
       einfach. Auch wenn sie die Probleme in [4][München] sehen: Die hohen
       Lebenshaltungskosten und der fehlende Platz für Subkultur. „Es gibt
       eigentlich keine richtigen Studios für Produzenten. Die Stadt tut einfach
       gar nichts, um zu helfen“, sagt Dario.
       
       In München wird darüber diskutiert, Subkulturen mehr Räume und finanzielle
       Unterstützung zu gewähren, um die Abwanderung von Kreativen einzudämmen.
       „Wenn alle Fähigen ab einem bestimmten Punkt die Stadt verlassen, ändert
       sich nie etwas“, sagt Marco. Deshalb haben Dario und Marco Zenker es selbst
       in die Hand genommen, sind geblieben und haben mit Ilian Tape nachhaltige
       Strukturen geschaffen. München kann sich glücklich schätzen.
       
       9 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Niklas Münch
       
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