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       # taz.de -- Menschen mit Behinderung im Nahverkehr: Barrierefrei mit Barrieren
       
       > Trotz Umbauten sind viele Bushaltestellen in Göttingen nicht
       > behindertengerecht: Die Stadt setzt immer noch auf ausklappbare Rampen.
       
   IMG Bild: Geht selten selbstständig: Einstieg eines Rollstuhlfahrers in den Bus
       
       Göttingen taz | Die Göttinger Stadtverwaltung war mächtig stolz auf ihre
       [1][Behindertenfreundlichkeit]. Man komme mit dem behindertengerechten
       Umbau der kommunalen Bushaltestellen gut voran, ließ sich die Stadt in der
       örtlichen Presse vernehmen. Von insgesamt 478 Haltestellen seien bereits
       326 barrierefrei.
       
       Das Ziel: Am Ende der Baumaßnahmen sollen sämtliche Haltestellen mit einem
       Blindenleitsystem ausgestattet sein. Rollstuhlfahrer sollen mit Hilfe einer
       vom Busfahrer auszuklappenden Rampe in die Busse hineinfahren können –
       alles ganz barrierefrei. Doch jenseits der Göttinger Stadtmauern sehen
       barrierefreie Bushaltestellen ganz anders aus.
       
       Zum Beispiel in Offenbach, einer Stadt vergleichbarer Größe. Während
       Rollifahrer in Göttingen die Busfahrer um das Ausklappen der Rampe bitten
       müssen, benötigen sie in Offenbach keine Hilfe. „Wir definieren
       Barrierefreiheit so, dass Rollstuhlfahrer ohne Stufen selbstständig in den
       Bus fahren können“, sagt Jörg Muthorst, Leiter der
       Unternehmenskommunikation der Stadtwerke Offenbach. Dabei betont er das
       Wort „selbstständig“. „Rampen sollen bei uns, wenn überhaupt, nur im
       Ausnahmefall zum Einsatz kommen,“ so Muthorst.
       
       Die Rechtslage ist eindeutig: Paragraf 4 des
       [2][Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG)] legt fest, dass „bauliche und
       sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände“ nur dann
       barrierefrei sind, wenn sie „ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und
       nutzbar sind“. Und das Personenbeförderungsgesetz verlangt, dass die
       Verkehrsbetriebe ihren Kunden bis zum Jahr 2022 die „vollständige
       Barrierefreiheit“ bieten. Nur aus technischen Gründen und im Einzelfall ist
       erlaubt, dass Rollifahrer beim Einstieg um Hilfe bitten müssen.
       
       ## Barrierefreiheit ist normiert
       
       Wie barrierefreie Bushaltestellen konkret auszusehen haben, bestimmt
       [3][die DIN-Norm 18040-3]. Danach darf der Höhenunterschied zwischen dem
       Bordstein an der Haltestelle, dem „Busbord“, und dem Buseinstieg maximal
       fünf Zentimeter betragen. Und auch der Spalt zwischen Bordsteinkante und
       Bus darf nicht breiter als fünf Zentimeter sein.
       
       Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kommen Rollstuhlfahrer selbstständig
       in den Bus. Dafür müssten die Bordsteinkanten mindestens 22 Zentimeter hoch
       sein. Göttingens Haltestellen bekommen jedoch nur 16 Zentimeter hohe
       Busborde.
       
       In Göttingen sei es aus technischen Gründen nicht möglich, höhere Busborde
       einzubauen, erklärte Jens Großkopf, Referent für [4][Kritik, Beschwerden
       und Anregungen] beim Oberbürgermeister. „Vor einigen Jahren wurden
       Bussonderborde mit 18 Zentimeter Höhe verbaut.“ Dabei sei es jedoch zu
       Schäden an den Bussen gekommen, weshalb seit mehreren Jahren nur noch 16
       Zentimeter hohe Borde verwendet würden.
       
       „Das sollte eigentlich überhaupt kein Problem sein“, sagt hingegen Carsten
       Hasch, Geschäftsführer der Profilbeton GmbH aus dem hessischen Borken.
       Seine Firma stelle etwa Sonderborde her, die grundsätzlich nur 16
       Zentimeter Höhe haben, im mittleren Einstiegsbereich aber 22 und mehr
       Zentimeter hoch sind. Da werde kein Bus beschädigt. Und jeder Rollifahrer
       komme stufenlos hinein, so Hasch.
       
       Die Stadt Göttingen beruft sich auf den Bundesbehindertenbeauftragten. Der
       habe [5][auf seiner Webseite darüber informiert], dass das
       Behindertengleichstellungsgesetz keine völlig barrierefreien
       Bushaltestellen verlange, erklärte Großkopf. „Nach den Erläuterungen des
       Bundesbeauftragten erfüllen die umgebauten Haltestellen in Göttingen den
       Anspruch an die Barrierefreiheit nach §4 BGG.“
       
       ## Behinderte müssen ohne fremde Hilfe auskommen können
       
       Der Behindertenbeauftragte weist diese Interpretation allerdings zurück:
       „Auf unserer Webseite wird sehr deutlich, dass Hilfen wie eine Rampe am Bus
       nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen sollten“, erklärt Sprecherin
       Regine Laroche. Und sie stellt klar, dass Behinderte „grundsätzlich ohne
       fremde Hilfe“ auskommen können müssen.
       
       Auch die [6][niedersächsische Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG)], die
       den Haltestellenumbau zu drei Vierteln bezahlt, verlangt, dass die Busse
       ohne fremde Hilfe zugänglich oder nutzbar sind. Wie sie das erreiche,
       bleibe der Stadt Göttingen freigestellt. Statt barrierefreier Busborde
       könnten etwa auch Busse mit automatischen Rampen angeschafft werden – das
       tut die Stadt allerdings ebenfalls nicht.
       
       Insgesamt rund 5,7 Millionen Euro seien bis heute in den Umbau investiert
       worden, teilt die städtische Pressestelle mit. Davon seien geschätzte 3,5
       Millionen Euro staatliche Zuschüsse von der LNVG, Finanzhilfen des Bundes
       und andere Hilfen. Sollte Göttingen gegen die Förderbedingungen seiner
       Geldgeber verstoßen, könnten Rückzahlungsforderungen drohen. Und wer gegen
       das Behindertengleichstellungsgesetz verstößt, kann zudem verklagt werden.
       
       25 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Barrierefreis-Bahnreisen/!5650947
   DIR [2] https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/BGG.pdf
   DIR [3] https://nullbarriere.de/din18040-3.htm
   DIR [4] https://www.goettingen.de/rathaus/service/dienstleistungen/beschwerdemanagement-und-maengelmelder.html
   DIR [5] https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/Themen/Barrierefreiheit/WasistBarrierefreiheit/WasistBarrierefreiheit_node.html
   DIR [6] https://www.lnvg.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Matysiak
       
       ## TAGS
       
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